Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 11

3. Zwischen den Paradigmen: Epikurs Dilemma als Test

Оглавление

Eine so merkwürdige Übereinstimmung verweist eindeutig auf die Situation des tiefen kulturellen Wandels, den der Eintritt der Moderne verursacht hat und der ganz offen in dem Prozess hervortritt, den ein Großteil der heutigen Kultur, vor allem seit der Aufklärung, gegen den Gottesglauben führt. Bei Licht besehen, folgt die Verwirrung lediglich den typischen Verwerfungen, die ein Paradigmenwechsel stets auslöst, wo es nämlich leichter fällt, die Mängel des Alten zu entdecken – daher die Übereinstimmung in der Abwertung – als das wahre Aussehen des Neuen aufzufinden – daher die starken Abweichungen in der Lösung. Bei dem Ausmaß des Wandels darf man nicht an einfache oder lineare Erklärungen denken, weil die bestimmenden Faktoren in dieser Bewegung, die wir von Hegel bis heute als „Dialektik der Aufklärung“33 kennen, so vielfältig sind.

Es wäre gewiss unangebracht, wollten wir versuchen, alle hier möglichen Faktoren zu bedenken. Für unser Problem wird es viel wirksamer und erhellender, wenn wir uns auf die Grunddynamik konzentrieren. In dem Sinne scheint es heute unzweifelhaft, dass diese – zumindest entscheidend – in der Entdeckung der Autonomie der empirischen Abläufe der Welt liegt; einschließlich, versteht sich, und vor allem der menschlichen Welt.

Wenn die Welt bis dahin ganz allgemein und spontan als etwas galt, das in seinem Funktionieren und in seinen Gesetzen ständig von außerweltlichen Einflüssen durchwirkt und überlagert wurde, seien diese nun göttlich, um zu helfen oder zu strafen, bzw. dämonisch, um Versuchung zu üben oder Schaden zu verursachen, so stellte sich die Wirklichkeit nunmehr als von eigenen und immanenten Gesetzen gelenkt dar. Die Gestirne bewegten sich nicht mehr nach den Entelechien oder der Intelligenz himmlischer Wesen, wie Aristoteles und Thomas von Aquin noch annahmen, sondern nach den strengen Gesetzen der allgemeinen Schwerkraft; und die Pestausbrüche galten nicht mehr als Teufelswerk oder auch göttliche Strafe, sondern von Viren oder Bakterien verursacht. Die Schwarze Pest erfüllte das Europa des 14. Jahrhunderts mit Prozessionen, wogegen die Aids-Seuche die Geographie des 20. Jahrhunderts mit Laboratorien übersät hat; und die Finsternis eines Gestirns ist kein übernatürliches Zeichen mehr, das womöglich Unglück verkündet34, um stattdessen eine Konjunktion von Sternumläufen zu werden, die auf eine tausendstel Sekunde genau berechenbar wäre.

Innerhalb des älteren, von dem Glauben an ein beständiges göttliches Eingreifen geprägten Kontextes musste das Problem des Übels ganz von selbst schon und vollkommen logisch auf den Bereich des Nicht-Weltlichen bzw. des Sakralen verweisen; sowie im Monotheismus auf Gott als den, der letztlich entweder alles Übel ausdrücklich sandte oder es zuließ, da er es nicht verhindern wollte. Das Erstaunliche – und für unser Problem mit rational fatalen Folgen Behaftete – bestand darin, dass, während die kulturelle Betrachtung unumkehrbar zum neuen Paradigma überging, die Auseinandersetzung mit allem Übel beim alten Ansatz verharrte35.

Das großenteils immer noch gültige Ergebnis besteht nun darin, dass man einerseits in der Gewissheit lebt, nach der die Übel der Welt durch weltliche Ursachen hervorgerufen werden, seien diese nun physischer Natur, wie Pest oder Erdbeben, oder rein menschlich bedingt, wie Verbrechen, Krieg oder Ausbeutung der Schwachen. Andererseits jedoch hält man, wie an etwas Offenkundigem und von (fast) allen spontan Geteiltem, an der Voraussetzung fest, dass Gott durch unmittelbare Veranlassung bzw. implizite Erlaubnis deren Ursache sei: Deswegen versuchen die einen, ihn zu „verteidigen“, indem sie die gerechten Beweggründe angeben wollen, aus denen er das Übel verursacht oder zulässt, während andere sich daran machen, ihn als Schuldigen „anzugreifen“ oder gar für nicht existent zu erklären. Alle stimmen sie jedoch darin überein, dass sie als Voraussetzung annehmen, Gott könnte das Übel vermeiden, wenn er nur wollte, und dass er demgemäß für sein Tun oder Lassen verantwortlich ist bzw. es wäre, wenn er denn existierte („Gottes Entschuldigung ist, dass er nicht existiert“, sagte Stendhal einmal in einer berühmten Boutade).

Es war also kein Zufall, wenn an jenem kulturellen Kreuzweg das Wort „Theodizee“ auftauchte; denn obgleich das Problem schon immer bestand, verschärfte doch der Konfliktstoff der Situation dessen Umrisse bis zum äußersten, verhinderte eine Überdeckung des Widerspruchs und zwang dazu, eine schlüssige Antwort zu suchen. Ebendies aber erklärt das Paradoxe und Ungereimte in jeglicher Argumentation, die ohne den Wandel zu beachten auch weiterhin die alte Antwort (zur Verteidigung) wiederholt bzw. (zum Angriff) voraussetzt, obgleich die Frage grundlegend neu gestellt ist. Denn die Einwände gehen von neuen Voraussetzungen aus, da sie innerhalb der säkularen Kultur entstehen, die spontan mit autonomen Gesetzen im Weltgeschehen rechnet sowie mit kritischer Autonomie im Bereich des Denkens. Hingegen bleibt die Grundannahme alt; denn diese Art der Argumentation hat nur Sinn, wenn sie von der überkommenen Vorstellung eines eingreifenden Gottes ausgeht, die aber mit jener Autonomie unvereinbar ist.

Unter den Bedingungen haben die Einwände alle Aussicht, die Auseinandersetzung zu gewinnen, da es nicht mehr möglich ist, den offenkundigen Widerspruch in der Vorstellung von einem „Gott“ weiter zu übersehen, der dem Bekenntnis nach zwar gut und allmächtig ist, aber nicht in der Welt eingreifen will oder kann, um das Schlechte auszuschalten. Jedoch beruht – zumindest auf dieser Ebene – der Sieg selbst auf einer schweren Inkonsequenz; denn einerseits besteht seine Grundlage in der eifersüchtigen Verteidigung der weltlichen Autonomie, andererseits aber verlangt er, dass Gott, damit er anerkannt wird, diese Autonomie ständig verletzen soll, um die unzähligen Übel zu vermeiden, welche die Welt heimsuchen. Außerdem birgt diese Sichtweise, wenn sie ihre Energie für den Angriff auf die Religion verschwendet, die Gefahr, das von der neuen Säkularkultur gestellte Problem zu verfehlen. Auf der unmittelbaren Ebene besteht dieses Problem in der Suche nach den Ursachen des Übels innerhalb des autonomen Funktionierens der weltlichen Wirklichkeit und, auf der Ebene der letztlichen Gründe, in der Schaffung einer Gesamtsicht, die es ermöglicht, in einer so grausam von Leiden, Verbrechen oder Sinnlosigkeit gezeichneten Welt sinnvoll zu leben.

Ein Buch wie das von John L. Mackie, der darin nicht ohne eine gewisse Arroganz verkündet, in der neuen Situation sei es ein wahres „Wunder“36, immer noch an Gott zu glauben, bildet ein gutes Beispiel dafür. Um ein anderes Beispiel zu geben, so gilt das Gleiche mit nicht weniger Nachdruck für den seltsam aggressiven Ton in Gerhard Stremingers Werk37, der dort fast die gesamte Energie seines Diskurses auf eine Polemik gegen die religiöse Sicht verwendet, die im Übrigen zutiefst anachronistisch und allgemein ganz verzerrt wirkt, ohne dass er sich darum bemüht, seinerseits eine alternative Antwort zu finden. Ich will damit nicht sagen, unter diesen Bedingungen und bei diesen Ansätzen fehle ihnen jede Berechtigung. Doch beschränkt sich ihr Beitrag praktisch auf die Argumentation dagegen, die allein angesichts einer überholten – vormodernen – Idee von Gott gültig ist und demzufolge nichts wirklich Bedeutsames und Produktives für das Problem an sich erbringt. Friedrich Nietzsche hatte es schon richtig gesagt: „Die Zerstörung einer Illusion liefert noch keinerlei Wahrheit, sondern erbringt nur ein Stück Ignoranz mehr, eine Erweiterung unseres ‚Freiraumes‘, eine Zunahme unserer ‚Wüste‘“38.

Das aber darf sich aufseiten der Gläubigen natürlich nicht zu bloßem Wegschauen vor der Herausforderung entwickeln. Denn ganz gewiss bedeuten derartige Argumentationen eine ernsthafte und eindringliche Warnung vor jeglicher einfach apologetischen Theodizee, mit der ein Wandel schließlich nicht ernst genommen wird, der sowohl von der modernen Bibelkritik wie von der neuen kulturellen Sichtweise her dazu zwingt, die Art der Auffassung von der Idee Gottes in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit der Welt und zum Übel darin grundlegend zu revidieren.

In diesem Buch geht es nun um den Nachweis, dass das religiöse Bewusstsein zwar auch weiterhin gute Gründe hat, um auf die Wahrheit seiner Erfahrung zu vertrauen, doch dass es sich allzu oft nur täuscht, wenn es, statt sich geistig zu erneuern und die Geltung der Einwände anzuerkennen, dazu neigt, sich auf rhetorische Mittel zu verlassen oder mit dem Wort „Geheimnis“ zu verhüllen, was eigentlich nur Ergebnis widersprüchlicher Aussagen bzw. Fortdauer einer kulturell überwundenen Gottesidee ist, die ebenso überholt sein dürfte wie diejenige, mit deren Hilfe wiederum andere diese angreifen wollen. Letztlich und entgegen dem sehr viel einsichtigeren anfänglichen Aufruf des frühen Christentums, welcher dazu anhielt, „über die Erwartung Rechenschaft zu geben“ (lógon didónai!, vgl. 2.Petr 3,15), bildet die so allgemein gewordene Neigung, Notwendigkeit und Geltung der Theodizee zu leugnen, nur einen Beleg für diese Inkonsequenz.

Wie man sieht, stellt die neue Situation eine Herausforderung für alle dar: Was auch immer die Einstellung des Einzelnen sein mag, Verteidigung oder Ablehnung, unumgänglich ist es, die herkömmlichen Denkweisen aufzugeben und die Reflexion so anzusetzen, dass sie mit der neuen kulturellen Lage vereinbar wird.

Die Absicht dieses Buches besteht gerade darin, dass es zu zeigen versucht, wie es heute denkbar wird, Möglichkeit, Berechtigung und Notwendigkeit einer Theodizee kritisch zu begründen. Wenn es dies auch bei einer unumgänglichen Bedingung tun will: und zwar, dass die Problematik unter wirklich aktuellen Voraussetzungen angegangen wird. Das bedeutet jedoch keineswegs, den Ernst der Herausforderung und das Gewicht der Einwände zu übersehen.

Um die Dringlichkeit der Aufgabe einsehbarer zu machen, lohnt es sich, auf Epikurs Dilemma zurückzukommen. Wenn man es nämlich in einer Logik ernst nimmt, die auch nur im Mindestmaß ehrlich sein möchte, so erweist sich, dass es notwendig wird, zwei Punkte anzuerkennen, die dessen Herausforderung heute unumgänglich macht. Erstens: Wenn man zugleich behauptet, (a) Gott ist Liebe, sowie (b), dass er, obwohl er es kann, die ganze Schrecklichkeit des Übels in der Welt nicht beseitigen will, dann ist (c) diese Aussage kein „Geheimnis“, sondern ein Widerspruch. Und zweitens: In der Weise wandelt sich alles Übel mit vollem Recht zum „Fels des Atheismus“, zumal unter diesen Bedingungen die Idee Gottes – zumindest die des guten und allmächtigen Gottes, die einzig kohärente – unhaltbar wird.

Es genügt nur daran zu denken, dass wir alle jemanden für ein Ungeheuer halten würden, der, obgleich dazu fähig, nicht alles Leiden in den Kliniken beheben, den Hunger von Millionen Kindern in der Welt nicht beseitigen oder den ständigen Schrecken von Kriegen und Genoziden nicht beenden möchte. Und um ihn zu entschuldigen, würde es nichts nützen, auf verborgene Gründe zu verweisen, mögen diese noch so ernsthaft, erhaben oder geheimnisvoll sein; denn, wie Jean Nabert mit Recht betonen konnte39, an sich und zumindest in seinen extremen Formen ist alles Schlechte nicht zu rechtfertigen. Und dies findet täglich in der elementarsten Erfahrung der Menschheit seine Bestätigung, welche ja nie eine Vorfrage benötigt, um den absoluten Vorrang des Kampfes dagegen zu begreifen.

Das Neubedenken allen Übels

Подняться наверх