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2. Bayles Gedanken über das Phänomen des Übels. 2.1 Kritik der Tradition und neuer Entwurf

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Pierre Bayle (1647–1706) ist eine typische Gestalt des Übergangs und darum keineswegs leicht zu deuten9. Seine Lebenszeit reicht nur knapp ins 18. Jahrhundert hinein, und dennoch nannte Voltaire ihn „unseren gemeinsamen Vater“10; er galt vielen als Förderer des Atheismus, doch – nach Überwindung der positivistischen Vereinfachungen des 19. Jahrhunderts – konnte Elisabeth Labrousse nachweisen, dass sein Werk sich nicht ohne religiöses Streben und religiösen Hintergrund verstehen lässt11.

Dies aber ist ein Punkt, welcher für unser Problem entscheidend wird. Denn für ihn als – zum Katholizismus konvertierten und zum Protestantismus rekonvertierten – Hugenotten in einem mehrheitlich katholischen Land konnte die Religion keine Routine sein, sondern nur eine persönliche Wahl und ein ganz bewusstes Anliegen:

„… seine geschichtliche Stellung, die erhaltene Bildung, die gesellschaftliche Laufbahn, die persönlichen Dramen, die er durchleben musste, all das zwang ihn wirklich dazu, die christlichen Dogmen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu rücken – anders gesagt, sie weniger als Lösungen denn als Probleme zu begreifen und dadurch eine grausame Lebenserfahrung auf die Ebene der Spekulation zu heben.“12

Genau dies erklärt in erster Linie seine Entwicklung: Seine anfängliche Einstellung war noch optimistisch, der Tradition verhaftet und an Malebranche ausgerichtet. Doch die Widerrufung des Edikts von Nantes 1685 brachte ihm den Verlust der Familie sowie vor allem den Tod seines Bruders Jacques. Bayle musste den Schock der religiösen Intoleranz und des menschlichen Elends schmerzhaft erfahren. Seitdem wurde das Problem des Schlechten und Bösen für ihn zu einer wahrhaft dramatischen Besessenheit13.

Bei dessen Bewältigung kommen daher die bestimmenden Faktoren seines ereignisreichen Lebenslaufes zur Geltung. Als Protestant und mehr noch als verfolgter Protestant kann er das Erbe der Reformation gründlich ausleben, mit ihrer Relativierung der Lehrsätze und der Betonung der religiösen Erfahrung. Für ihn als Menschen zwischen Renaissance und Aufklärung – und viel mehr in dieser als in jener zu Hause – rückt die Bedeutung der historischen und kritischen Vernunft in den Vordergrund14.

Es mochte nicht leicht fallen, zwei so gegensätzliche Tendenzen zu vereinbaren: Dass Bayle sie in seiner Person und seinem Werk zusammenführt, bezeichnet sein einzigartiges und unwiederholbares Schicksal. Dazu trug wohl auch die calvinistische Tradition seines Protestantismus entscheidend bei. Andererseits bedingt dies, dass sein Entwurf nicht zur Synthese führt, sondern eine stark polarisierte Ausrichtung zwischen den Extremen des Glaubens und der Vernunft, zwischen menschlicher Freiheit und göttlicher Vorbestimmung erhält. Daher der merkwürdige Dualismus, der so viele Kritiker verwirrt hat: einerseits aufrichtige Annahme der offenbarten Wahrheiten und andererseits unerbittliche Bekämpfung von deren theologischen Erklärungen. Fügen wir noch hinzu, dass ihm sein Glaube vor allem nach dem Gott des Alten Testaments vermittelt wurde, mit Betonung der göttlichen Allmacht und der Unterordnung des Menschen, sowie nur geringem Raum für die Liebe in der persönlichen Frömmigkeit15, und wir erhalten damit den maßgeblichen Rahmen, in den sich seine Auffassung vom Übel einfügt16.

Der Skandal des Übels scheint ihm auf der Ebene der Vernunft absolut unverträglich. Mit aller Schärfe nimmt Bayle darum die beiden Extreme im Widerstreit wahr: einerseits Allmacht und (wenn auch weniger) Güte Gottes17; andererseits das menschliche Elend: „Der Mensch ist schlecht und unglücklich“; „überall Gefängnisse und Krankenhäuser, überall Galgen und Bettler“; „die Geschichte ist eigentlich gesagt nur ein Kompendium der Verbrechen und Unglücke des Menschengeschlechts“18. Auf dieser Grundlage wird die Argumentation unermüdlich, wenn sie alle Mittel ihrer enormen polemischen Fähigkeit einsetzen kann: theologische und philosophische Räsonnements, Argumente ad hominem, historische Beispiele, Erzählungen, Anekdoten und Gleichnisse… Insgesamt eine eindrucksvolle Streitmacht, die sich oftmals überaus wirksam in den Anmerkungen zu den Artikeln des Dictionnaire versteckt. Manchmal wirkt alles übertrieben und ständig wiederholt, und zwar so sehr, dass selbst Leibniz, der sonst immer geduldig und besonnen ist, schließlich mitten in einer Antwort ausruft: „C’est toujours la même chanson“ („Immer dasselbe Lied“)19.

Doch die Auswirkungen sind verheerend: Alle traditionellen Argumente, von den theologischen, die bis zur Erbsünde gehen (auf die er schließlich „Epikurs Dilemma“ scharfsinnig anwendet)20, bis zu den philosophischen, welche das Übel auf reine Entbehrung einschränken, sie alle fallen unter der Wucht seiner Kritik zusammen. In der Tat steckt darin das Bedeutsamste seines Beitrags; denn, wie Ernst Cassirer zutreffend bemerkte, lag seine echte Begabung nicht so sehr in der Entdeckung des Wahren wie in der Demaskierung des Falschen21.

Die Stärke seiner Argumentation gegen die traditionellen Ansichten ist so groß, dass viele meinen – und hier handelt es sich gewiss um einen überzogenen Topos –, er vertrete einen Dualismus mit manichäischer Ausrichtung. Es stimmt zwar, dass die Lehre des Manichäismus auf Bayle eine gewisse Faszination ausüben konnte und dass er sogar der Vorstellung von einem „schlechten Gott“ (un Dieu méchant) gefährlich nahe kommen mochte22, weil diese ihm bestimmte Dinge besser zu erklären schien. Doch kann ihm der Dualismus weder theologisch noch philosophisch richtig annehmbar werden23. Seine Lösung ergibt sich vielmehr aus einem radikalen Fideismus: Die Vernunft ist nicht dazu befähigt, die von dem Problem des Übels geschaffenen Schwierigkeiten zu lösen; aber über ihr steht der Glaube, und der sagt uns, dass, wenn es eine göttliche Zulassung des Schlechten gibt, „es dann auch nötig ist, dass sich eine solche Zulassung mit Gottes Güte vertragen kann“24.

Das Neubedenken allen Übels

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