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1. Von der begrifflichen Auseinandersetzung zur „Sache selbst“

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Klarheit zu erzielen, mehr als nur philosophische Höflichkeit, ist daher schlicht ein elementares Erfordernis. Erreichbar ist sie aber nicht ohne drastische Einschnitte, die eine Konzentration auf das Grundlegende gestatten, zumindest bei denjenigen Grundlagen, die man erörtern möchte. Ich weiß wohl, dass unser Zeitalter, von rationalen Bestrebungen und großen Erzählungen gewitzigt, eher zum fragmentarischen Diskurs neigt, mit einem vernünftigen Maß an Irrationalem im Philosophischen und an Fundamentalem im Theologischen. Dennoch glaube ich auch, dass verantwortungsvoller Umgang mit dem Thema und offener Dialog nicht gleich unmöglich sind und stets noch eine kritische Bemühung der Vernunft erfordern.

Zwar bin ich nicht sicher, doch zuversichtlich, dass die Art des Diskurses, die ich versuchen will, keiner Mode, sondern einem Bedürfnis unserer Zeit entspricht. Ein solcher Versuch hat seinen Preis. Deshalb möchte ich zunächst um Verzeihung für den unabwendbar formalen und komplexen Charakter bitten, den unser Diskurs an manchen Stellen über das gewünschte Maß hinaus annehmen sollte. Ebenso für den ein wenig eigenartigen Ansatz, der von den sonst befolgten Normen bei der Behandlung dieses Problems abweicht, wo eigentlich gut eingeführte „akademische“ Vorlagen und Muster üblich sind. Genau davor nämlich möchte, mit Recht, José Gómez Caffarena warnen:

„Über nur wenige Themen mag es eine so reichhaltige Literatur geben, die alle verschiedenen Aspekte so erschöpfend behandelt. Doch auch darum besteht dort eine gefährliche Wiederkehr von Topoi und festen Behandlungsmustern, die nicht immer begründet sind und die Reflexion ablenken können.“1

An deren Stelle strebe ich eine „organischere“ Behandlung an, bei der es möglich wird, dass die innere Dynamik des Problems deren Fortgang und die Weise des Herangehens an die Fragestellung bestimmt. Schließlich möchte ich um etwas Geduld nachsuchen. Damit sollen zwar die kritische Wachsamkeit nicht aufgegeben und auch die Einwände nicht unterdrückt werden. Jedoch mag es, nach Spinozas kluger Bemerkung, gut sein, bis zum Ende zu warten, um sich ein abschließendes Urteil zu bilden: „Hier werden die Leser gewiß zweifeln, und es kommen ihnen darum viele Einwände in den Sinn; ich bitte sie also, sie möchten langsam mit mir voranschreiten und noch kein Urteil fällen, bevor sie alles gelesen haben.“2

Auch so noch werden manche terminologischen und begrifflichen Erklärungen als vorausgesetzt gelten dürfen, da es hier darum geht, sich möglichst nach „der Sache selbst“ zu richten.

Von einer „Theodizee“ zu sprechen, bedeutet schon die erste Vereinfachung. Denn es gibt recht viele Entwürfe zur Theodizee, nicht allein – wie das Max Webers Ansatz belegt – in der Diachronie der großen Religionen bzw. einzelner Kulturbereiche3, sondern auch in der Synchronie der verschiedenen Behandlungsweisen innerhalb einer gleichen Epoche oder sogar einer und derselben Religion.4 Und innerhalb eines selben Entwurfs gilt es wiederum, wie Paul Ricœur das tut, vier Theorie-Ebenen zu unterscheiden: Mythos, Weisheit, Gnosis sowie eigentliche Theodizee.5 Wer sich also an die überreichliche Literatur zu dem Thema herantraut, dem mag schließlich dabei schwindlig werden.

Noch schwerer jedoch wiegt, wenn überhaupt, die Vielfalt des Gegenstands an sich. „Alles Übel ist Legion“, bemerkt scharfsinnig Xavier Tilliette.6 Denn es gibt das erlittene und das auferlegte Übel, das der Krankheit und das des Verbrechens, das individuelle und das kollektive Übel, das der Naturkatastrophe, das des Verrats am Freund oder dieses Freundes, das irgendwie erträgliche und das bedrückend unerträgliche Übel, dasjenige, das einen Sinn zu haben scheint, und das, welches sich als unrettbar absurd erweist… Es gibt das Übel nach menschlichem Maß und das, welches wir im Leben der Tiere ahnen oder sogar in den Naturkatastrophen… „Nur selten hat ein Singular so unangemessen gewirkt wie in diesem Fall. Denn es gibt nicht das Problem des Übels, sondern nur viele Probleme, die sich mit vielen Übeln befassen“7. Statthaft ist also immer noch die Diskussion um die Möglichkeit der „Theodizee“ an sich bzw. eines hinreichend eindeutigen Begriffs vom „Übel“.8

Unsere Überlegungen sollen nun nicht in dieses Labyrinth hineinführen, auch wenn sie sich seiner Nähe bewusst bleiben wollen. Sie versuchen vom Elementaren auszugehen und begnügen sich zunächst mit dem Verweis auf die allgemeine Erfahrung, nach der wir alle erkennen können, dass es „Schlechtes“ in der Welt gibt, selbst wenn wir es dann auf tausenderlei Weise deuten, auch dessen Namen nicht sagen und einige schließlich sogar den Begriff leugnen wollen. Es gibt ihn aber, wenngleich sich darüber streiten ließe, ob in diesem oder jenem konkreten Fall ein wirkliches Übel vorliegt oder eine subjektive Einschätzung; oder ob das, was der einen Kultur als etwas Schlechtes erscheint, in einer anderen als etwas Gutes gesehen wird. Die Kasuistik – und nicht selten die Sophisterei – ist eigentlich endlos und kann allzu oft nur dazu führen, vom wirklichen und echten Problem abzulenken. Denn hinter allen Unterscheidungen steht immer die Ausgangserfahrung, die – wie Augustin über die Zeit sagte – im Systematischen ebenso undefinierbar ist wie im konkreten Erleben offenkundig.

In seinem eingängigsten und grundlegendsten Sinne ist das Schlechte ein „anthropologisches ‚Urphänomen‘“.9 Es ist, was wir in einem bestimmten Augenblick als das wahrnehmen, was nicht sein sollte; es ist, wie Augustin sagte, „das, was schadet“ (id quod nocet)10; und wir möchten hinzufügen: einem selbst und den übrigen. Es benötigt keinen genauen Begriff, um sich zu bekunden: „es ist eher ein Name für das Bedrohliche“11. Und I. U. Dalferth kann bemerken: „das Kaleidoskop des Bösen kennt zwar unzählige Varianten im menschlichen Leben, doch stets schadet es und zerstört es Leben in sinnloser und absurder Weise“12. Um als wirkliches Problem wahrgenommen zu werden, braucht das jeweils Üble sogar nicht einmal wirklich an sich zu sein. Denn im äußersten Fall kann auch ein bloß eingebildetes Übel einem schon zusetzen und sich als das erweisen, was es nicht geben dürfte.

Um diese elementare Erfahrung, dieses Urphänomen und um die starke Herausforderung, die es für die Menschheit darstellt, geht es letztlich. „Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz“, sagte Georg Büchner zutreffend13. Und obgleich der Schmerz nicht das einzige Übel ist, wird der Realismus dieses Satzes die Versuchung zu einem theoretischen Ausweichen doch stark eingrenzen.

Bleiben wir noch dabei. Um den ganzen Ernst dessen zu verstehen, worum es geht, genügt es schon, daran zu denken, wie es sich um „das“ handelt, worauf ebenso das noch „wortlose“ Weinen – infans – des Neugeborenen wie auch die Suche nach einem Heilmittel für eine Wunde oder eine Krankheit verweisen; um „das“, was die Menschen bei den großen Naturkatastrophen erregt; um „das“, was einen Verrat so abstoßend macht oder angesichts von Sklaverei, Holocaust bzw. Hunger in der Welt so viel Entsetzen verursacht. Alles „Übel“ ist, in seiner elementarsten Bedeutung und in seiner unleugbarsten Wirklichkeit, das, was wir als etwas erfahren, das wir subjektiv „nicht wollen“ und von dem wir objektiv denken, dass es „nicht sein sollte“, und welches wir darum ablehnen und zu beseitigen oder wenigstens zu mildern suchen.

Auch wenn die Rhetorik der Existentialisten uns allmählich ferner rückt, so würde das Leiden eines unschuldigen Kindes (man denke nur an Camus und an Dostojewskij oder sogar schon an Euripides14) genügen, damit wir, jenseits aller formalen Feinheiten, den Problemstoff vor uns haben. Ebenso wie ein Besuch – mit offenen Augen, Ohren und Herzen – in einem Krankenhaus genügt, um gar nicht erst von den Schrecken eines Krieges zu reden, damit wir dessen furchtbaren Ernst begreifen, was dann auch immer die möglichen Diskussionen um konkrete Einzelheiten oder Nuancen sein möchten15.

Das Neubedenken allen Übels

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