Читать книгу Das Neubedenken allen Übels - Andres Torres Queiruga - Страница 12

4. Die historische Sicht gegenüber Zweideutigkeit und Vorurteil

Оглавление

Die Notwendigkeit des Wandels wird also offenkundig. Und merkwürdig ist dabei, dass es sich seit Beginn der Neuzeit so verhielt. Deswegen kam damals auch nicht nur die „Theodizee“ als neues Wort und neuer Begriff auf, sondern, wie bei Gelegenheit noch deutlicher zu sehen sein soll, auch die Elemente einer neuen Antwort ließen sich von Anfang an erahnen. Allerdings kam auch zur Geltung, dass man „am Fuße des Leuchtturms“, nach Ernst Blochs bekanntem Ausdruck, nichts oder doch nicht weit genug sieht. Die landläufige Fortdauer der alten Voraussetzungen zeigte nämlich die Tendenz, die Wirkung der neuen Einsichten im Keim zu ersticken. Zum Glück aber erlaubt der geschichtliche Abstand, mit seiner Erweiterung der Perspektive, heutzutage eine größere Durchsicht sowohl für die Einschätzung des notwendigen Wandels wie für die Wahrnehmung seiner inneren Struktur und der Möglichkeit neuer Antworten.

Gegen Ende der Aufklärung konnte Kant mit scharfsinniger Strenge die tiefe Notwendigkeit des kulturellen Wandels diagnostizieren, als er darauf verwies, dass die Geschichte in das „Zeitalter der Kritik“ eingetreten sei, die dazu bereit wäre, alles dem „Tribunal“ der autonomen Vernunft zu unterbreiten, einem Tribunal, dem nichts und niemand sich entziehen könne. Auch die Religion nicht; denn es dürfte ihr nichts nützen, sich in ihrer „Heiligkeit“ zu verschanzen, um den Einwänden zu entgehen, ohne dass sie sich „verdächtig“ machen würde und dadurch die Achtung der Vernunft nicht mehr verdiente40. Und innerhalb der Religion müsste ihre Antwort auf das Problem des Übels eine neuerliche Überprüfung auf sich nehmen. Die sozio-religiöse Verlässlichkeit des Glaubens wäre nicht mehr hinreichend, um die logische Beweiskraft des epikurischen Dilemmas zu widerlegen. Denn entweder ließe sich deren Falschheit belegen, oder man müsste die Unmöglichkeit einsehen, die Kohärenz der Gottesidee zu rechtfertigen; und diese Unmöglichkeit würde nunmehr einem tödlichen Schlag gegen die Glaubwürdigkeit des Christentums gleichkommen.

Bedeutungsvoll ist, dass sich zur gleichen Zeit allmählich auch der neue Weg zu einer möglichen Lösung abzeichnete (was Kant leider nicht zu erkennen vermochte, als er dessen Vorhandensein für sich und die vielen verdeckte, die seine Diagnose stets wiederholen). Werke wie der zu Unrecht wenig beachtete Essay von Erzbischof William King über den „Ursprung des Übels“41 sowie die besser bekannte, aber nicht weniger verständnislos behandelte Theodizee des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz wiesen da schon in die richtige Richtung, obgleich sie dieser logischerweise nicht bis zur letzten Konsequenz folgen konnten.

In der Tat konnten sie, weil sie auf der Endlichkeit der Geschöpfe als innerstem Kern der Möglichkeit und der Existenz allen Übels bestanden, dazu anhalten, das Problem von der Betrachtung der Konstitution der weltlichen Wirklichkeit selbst her anzugehen. D. h., sie setzten es an dessen richtige Stelle in der Geschichte, zumal sie, obwohl sie noch keine volle Klarheit erreichen konnten, bereits darauf hinwiesen, dass der Ausgangspunkt nicht die Ableitung aus der überkommenen Vorstellung von Gott und seinem Wirken in der Welt sein durfte. Nunmehr wurde es erforderlich, von der neuen Ansicht einer im selbständigen Funktionieren ihrer Gesetze erkannten Welt auszugehen. Denn bei einer solchen Verfahrensweise, die wohl noch Schwankungen kannte, schlossen sie auf die objektive Unmöglichkeit einer Welt ohne Übel.

Zum ersten Mal in der Geschichte und gerade aus dem Kern der neuen kulturellen Situation heraus hatten sie damit ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, dem Dilemma des Epikur das Rückgrat zu brechen. Denn, wie ich noch näher erläutern möchte, mit dem kritischen Nachweis der Unmöglichkeit einer Welt ohne Übel konnten sie ganz offensichtlich werden lassen, dass die Logik dieses Dilemmas ebenso sinnlos war wie die Frage, ob Gott nicht Quadrat-Kreise hätte schaffen können bzw. wollen.

Daher bin ich der Überzeugung, dass alles anders gekommen wäre, wenn es dieser Einsicht hätte gelingen können, ihr enormes logisches und vitales Potential zu entfalten. Doch dem war nicht so, und dem konnte, wie gesagt, vielleicht auch nicht so sein, da selbst die Protagonisten sich aller Konsequenzen nicht hätten voll bewusst sein können: Denn eine unzureichende historische Perspektive hinderte sie daran, sich der starken Trägheit angemessen zu entziehen, welche die Kultur damals beherrschte. Deren Atmosphäre, das ständige Einwirken theologischer Motive sowie, vor allem bei Leibniz, das Gewicht eines überzogenen und allzu optimistischen Rationalismus verdunkelten, ja verdeckten nahezu den wirklichen Kern des Neuansatzes. Denn die Neuerer selbst ließen, sobald sie einmal nachlässig waren, wieder die Möglichkeit einer Welt ohne Übel zu; und aus ihren Gedanken mochten sie diese nie ganz tilgen.

Die Folge war, dass es nicht gelang, den Anachronismus in der allgemeinen Problemstellung zu überwinden, so dass sich bis heute noch nicht hinreichend das Erfordernis durchsetzen konnte, die Problematik in der neuen Epoche an seiner rechten Stelle anzusetzen. Diese Epoche verlangte nämlich gerade wegen ihrer Entdeckung der Eigengesetzlichkeit der Welt als ihrem Kennzeichen danach, dies in seinem ganzen Ernst anzunehmen, und zwang damit dazu, von jener Autonomie her, und ausgesprochen kritisch, die traditionellen Voraussetzungen zu überprüfen. Doch dazu kam es nicht, und die Diskussion blieb – und bleibt – von dem fatalen Fehlansatz eines Spiels mit doppeltem Boden beherrscht.

Dies war die entscheidende Zweideutigkeit, welche die Behandlung der Theodizee belastet hat und weiterhin belastet. Und sie liefert die Erklärung dafür, dass Kant gut achtzig Jahre nach deren Einführung durch Leibniz (1710) „das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ als offenkundig verkünden wollte42. Und er hatte seine Gründe. Doch täuschte sich der große Philosoph ganz grundlegend. Denn es betraf und betrifft oder sollte zumindest nicht alle Versuche betreffen, sondern einzig diejenigen, die (seiner eingeschlossen) unternommen wurden und werden, ohne jene Zweideutigkeit zu beheben.

Zu vollkommener Verwirrung hat von 1759 an ganz entschieden Voltaire mit seinem Candide ou l’optimisme beigetragen. Streng genommen handelte es sich hier um ein echtes Pamphlet, so ungerecht und verständnislos wie sein Autor mit Leibniz’ wahrem Gedankengang verfuhr, von dessen philosophischer Tiefe und Ernsthaftigkeit er auch meilenweit entfernt blieb43. Dass aber die historisch-kulturelle Allgemeinheit den Candide dennoch als eine glänzende und endgültige Widerlegung der leibnizschen Theodizee betrachten konnte, beweist wiederum – abgesehen davon, dass es zeigt, wie viel Trägheit und „aus dem Gedächtnis schreiben“ einen großen Teil der philosophischen Historiographie beherrschen – die übergroße Macht des landläufigen Vor-Urteils.

Ich verstehe schon, dass diese Bemerkungen mit dem gewohnten Schema zur Beurteilung der Geschichte der Theodizee in der Neuzeit brechen. Nach meiner Ansicht jedoch bewegt sich diese Geschichte ganz allgemein im Rahmen der hier analysierten Zweideutigkeit. Dies zeigt vielleicht nichts besser als die Art der Beurteilung von Leibniz’ Pionierleistung, die sich in die zutreffenden Kritiken an vielen Aspekten seines Denkens sowie das praktische Übergehen bzw. das Fehlen einer gerechten Bewertung seiner Kerngedanken aufgliedern lässt.

Die Kritiken sind gewiss berechtigt – wenn auch nicht so sehr, wie sie das sein möchten44 –, insofern sie sich auf die beiden schwächsten Seiten an Leibniz’ Denken beziehen: (1.) auf den übertriebenen philosophischen Rationalismus, der in dem Beharren auf „der besten aller möglichen Welten“ so zutage tritt, mit seinen Spekulationen um die göttlichen Attribute und der daraus folgenden Neigung, die Schwere des Übels nicht ernst genug zu nehmen; sowie (2.) auf die theologische Beeinflussung, die bei mehr als einer Gelegenheit eine Verdunkelung von Struktur und Kohärenz des philosophischen Gedankengangs bewirkt.

Doch diese Kritiken verfehlen bei Weitem den wahren Gehalt des leibnizschen Beitrags, der, wie gesagt, in einer Umkehr beim Grundansatz des Problems besteht obgleich er nicht bis zur letzten Konsequenz geht. Sagen wir es noch einmal: Er vollzieht den Wandel, indem er mit dem von der vormodernen Routine genährten grundlegenden Vorurteil bricht und dadurch einen Neuansatz schafft, der dann wahrhaft modern wirkt.

Trotz mancher eigentlich nachrangiger Überlegungen geht Leibniz in seiner tiefsten Einsicht und im strukturellen Kern seines Diskurses nicht gleich und ausschließlich „von oben“ aus, vom Himmel der religiösen Überzeugungen, der bei unkritischer Annahme eines eingreifenden Gottes für a priori gegeben setzt, was Gott tun können und wollen oder zulassen „muss“. Das historisch Neue und Wesentliche seiner Theodizee besteht darin, dass er „von unten“ beginnt, indem er die Wirklichkeit der Welt analysiert, um dann a posteriori zu erkennen, was ihrer eigenen Konstitution nach möglich ist oder nicht (dem sichersten Ort, an dem wir Sinn oder Sinnlosigkeit unserer Aussagen wirklich bewerten können)45. Der Wald der nachrangigen Interferenzen – die ja wirklich und zahlreich sind – hat dann den Baum der Weisheit verdeckt, den Leibniz mitten in der Diskussion gesetzt hat: die Behauptung nämlich, dass die weltliche Wirklichkeit, an sich selbst untersucht, es nicht gestattet, von der Voraussetzung als etwas Offenkundigem auszugehen, welche die gesamte Diskussion – ungeprüft, weil nicht erörtert – beherrschte. Denn allein nach der Überzeugung, dass eine Welt ohne Übel möglich sei, hat es einen Sinn, Gott dafür verantwortlich zu machen, dass es eine solche Welt nicht gibt.

Zudem möge man beachten, dass Leibniz’ Beitrag formal, d.h. nach streng philosophischer Methodik, als Aufruf zum Neubedenken des Problems, seine Gültigkeit behält. Er behält sie; denn – sogar in dem Fall, wo man nach kritischer Überprüfung jener Voraussetzung zu dem gegenteiligen Schluss gelangen sollte, dass eine Welt ohne Vorkommen des Übels möglich sei – allein schon so fände die Diskussion auf ihrer historisch angemessenen Ebene statt. Zumal die Schlussfolgerung, sei sie nun positiv oder negativ, auch so nur, durch die Offenlegung ihrer Voraussetzungen, eine kritische Berechtigung erhalten kann.

Das Neubedenken allen Übels

Подняться наверх