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IV

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Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als der Schindelwagen die Residenzstadt hinter sich ließ. Vorbei an den k.k. Stallungen und der k.k. Infanteriekaserne war er durch die Mariahilfer Straße gezogen, auf die Gürtelstraße abgebogen und erreichte nun die Vorstadt, deren Behausungen sich im Schatten der Metropole schuldbewusst zu ducken schienen.

So auch jenes schiefwinkelige Haus, in dem Hieronymus und Franz seit mehr als einem halben Jahr Quartier bezogen hatten. Das Grundstück war von einem niedrigen Zaun umgeben, in der Mitte des Vorplatzes stand ein Brunnen.

Im Hof angekommen hielt Hieronymus den Wagen an und spannte Roswitha ab, während Franz die sechs Kinder der Quartiergeberin begrüßte, die ihn, wie jeden Tag, laut krakeelend empfingen. Von ihrer Mutter jedoch fehlte jede Spur.

Hieronymus kam auf Franz zu, der gerade Jaroslav, den Zweitjüngsten der Rasselbande, in die Luft warf und wieder auffing. »Warum werden wir heute von Anezka gar nicht angefäult6, weil wir den Wagen drei Fuß zu weit von was auch immer abstellen?« Er sah zu Tereza, der Ältesten. »Ist deine Mutter nicht hier?«

Die nickte und runzelte die Stirn. Dann deutete sie hinters Haus.

Hieronymus und Franz warfen sich einen besorgten Blick zu und machten sich in die gewiesene Richtung auf.

»Holt uns doch bittschön einen Kübel frisches Wasser und stellt ihn in die Stube«, rief Franz den Kindern zu, die sogleich zum Brunnen liefen.

Hinter dem Haus hockte eine Frau, das Haupt gesenkt, der Blick starr. Ihre braunen Haare bildeten einen geflochtenen Knoten, ihr Kittel wies eine Vielzahl von Flicken auf. Als sich Hieronymus und Franz näherten, zeigte sie keine Regung.

»Anezka?«, begann Franz und kniete sich ungelenk zu ihr. »Was bekümmert dich?« Er legte ihr die rechte Hand auf die Schulter, was wirkte, als würde ein Riese ein Kind tätscheln.

Sie schüttelte wortlos den Kopf.

»Na komm«, versuchte er es noch einmal, als sein Blick auf die halbleere Flasche Sliwowitz fiel, die neben der Frau an der Bretterwand lehnte.

»Leoš«, flüsterte Anezka schließlich mit hartem böhmischem Akzent. »Leoš ist weg.«

Hieronymus runzelte die Stirn. »Was heißt das: Er ist weg?«

Die Frau funkelte ihn wütend an. »Wie soll Anezka wissen, was das heißt? Seit vier Wochen hat uns Leoš nicht mehr besucht.« Sie wischte sich Tränen aus den Augen. »Und Geld hat er uns auch keines mehr gebracht. Kein Leoš. Kein Geld. Rozumíš?«

Franz schüttelte den Kopf. »Nein, wir verstehen nicht.« Er legte seine Hand auf ihre. »Vielleicht … hat er sich nur wieder einmal versoffen? Du weißt, wie er sein kann.«

»Vier Wochen lang versoffen?« Sie entzog ihm ihre Hand. »Anezka ist kein dummes Weib. Wenn ein Mann so lange nicht mehr in sein Zuhause kommt, sich nicht um seine Kinder schert, hat er entweder eine andere, oder er ist tot.«

Franz sah mit sorgenvollem Blick zu Hieronymus hoch, der nur mit den Schultern zuckte.

Anezka griff sich die Flasche, nahm einen tiefen Schluck daraus. »Wenn Leoš tot ist, dann sei der Herrgott seiner Seele gnädig. Wenn er eine andere hat, ist er so gut wie tot.«

»Wir könnten zu den Ziegelwerken fahren und nach Leoš fragen«, schlug Franz vor und sah erneut zu Hieronymus. Der schien unschlüssig zu sein. »Wir kriegen raus, wo der Kerl geblieben ist, das verspreche ich dir.«

Anezka nickte bedächtig. »Děkuji.« Dann hielt sie Franz die Flasche Sliwowitz hin. »Schluckerl Sliwo?«

Der nahm sie, trank und reichte sie an Hieronymus weiter.

»Eigentlich wollte ich keinen –«

Dann trank er doch. Spürte, wie ihm der scharfe Zwetschkenschnaps die Kehle hinabbrannte und den Magen wärmte.

Anezka erhob sich. »Wann fahrt ihr hin? Morgen?«

Franz richtete sich ebenfalls auf, wenn auch wesentlich ungelenker ob seines verkrüppelten Rückens. »Ja, morgen.«

Zum ersten Mal, seit die beiden Männer angekommen waren, zeichnete sich so etwas wie ein zuversichtliches Lächeln im verlebten Gesicht der Frau ab.

Eine Burg, die über einer Stadt thront. Eine Tür, die eingetreten wird. Ein kleines Beil, das hinabsaust. Das unwirkliche Bild eines kleinen Fingers, der abgehoben neben der Hand liegt. Ein stechender, alles beherrschender Schmerz.

Karolína!

Hieronymus öffnete die Augen. Er blickte auf einen geschwärzten Plafond, der wie eine Öffnung ins Nichts wirkte. Wo war er –?

Instinktiv hob er seine rechte Hand, betrachtete sie im kalten Licht des Mondes. Er hatte also nicht geträumt, er hatte sich nur erinnert. Der kleine Finger fehlte, seit jener schicksalhaften Nacht, in der er so viel mehr verloren hatte als bloß dieses unbedeutende Körperteil. Den Grund zu leben. Karolína …

»Na«, tönte es zu seiner Linken. »Wieder mal den Geistern der Vergangenheit hinterhergejagt?«

Hieronymus wandte den Kopf, sah die dunklen Umrisse seines Weggefährten auf dem anderen Nachtlager. Er und Franz lagen auf ihren mit Stroh gefüllten Säcken, die Leiber nur mit dünnen Laken aus Leinen bedeckt. Das Mondlicht schnitt durch das kleine Fenster im Erdgeschoss, ließ die Dunkelheit der Schatten noch undurchdringlicher wirken. Ein zarter Geruch nach Zwetschke lag in der Luft.

»Irgendwie lassen mich diese Geister nicht los«, meinte Hieronymus resigniert. »Und einerlei, wie oft oder lange ich am Schlickplatz vor der Rudolf-Kaserne wartete, an der ich sie im Juli erspäht hatte, sie kam nie wieder.«

»Du weißt, ich bin der Letzte, der dir deine Träume entreißen will. Aber glaubst du nicht, dass zumindest die Möglichkeit besteht, dass es nicht Karolína war, sondern –«

»Sie war es.« Der Ton in Hieronymus’ Stimme duldete keinen Widerspruch. Nicht von seinem Freund und schon gar nicht von seiner eigenen, inneren Stimme.

»Ich glaub dir ja.« Franz beugte sich ächzend zu ihm, hielt ihm eine Flasche hin. »Schlafmedizin gefällig?«

Der nahm das Angebot an, trank mehrere Schlucke des scharfen Obstbrandes. Dann fiel sein Blick auf die geschlossene Tür zu seiner Rechten, hinter der das Schlafgemach ihrer Vermieterin lag.

»Anezka wirkte schon in den letzten Tagen gedrückt.«

»Du meinst mehr als sonst?« Kaum hatte Franz die Worte ausgesprochen, kamen sie ihm bereits unpassend vor. »Ich weiß, was du meinst«, fügte er rasch hinzu. »Und du hast recht.«

»Mit einem Gemahl wie Leoš hat man eben nicht viel zu lachen. Mich hat es nur immer gewundert, wie er seine Blechmarken, mit denen er in der Ziegelei entlohnt wird, in Gulden umtauschen konnte. Soweit ich weiß, wird jeder gekündigt, der seinen Lohn nicht ausschließlich in die Werkskantine trägt. Findig ist er, das muss man ihm lassen.«

»Und wo glaubst du, steckt dieser findige Pfeifenstierer7?« Der abfällige Ton in Franz’ Stimme ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, was auch er von Anezkas Gemahl hielt.

Hieronymus zuckte mit den Schultern. »Wäre er bei der Arbeit verunglückt, hätte man seine Frau schon verständigt.«

Franz raunte seine Zustimmung. Dann schwiegen beide.

»Morgen Nachmittag muss ich mich um die Fotografie des Kindes ohne Mutter kümmern«, meinte Hieronymus schließlich nachdenklich.

»Hast du eine Ahnung, wie du das bewerkstelligen willst?«

»Nein. Ist aber noch ein bisschen Zeit bis dahin.«

Franz schnaubte. »Oder auch nicht. Wir müssen für Anezka morgen früh aus den Federn. Wir haben es versprochen.«

»Wir?«

»Du hättest doch niemals einen alten Krüppel wie mich alleine zum Ziegelwerk geschickt. Wenn ich mich dort reinschleiche, spannen die mich noch vor einen Karren.«

»Das Fabriksgelände ist mit Sicherheit streng bewacht«, sagte Hieronymus leise. »Da müssen wir uns was einfallen lassen, wie wir dort reinkommen.«

»So gefällt mir das schon besser.«

»Freu dich bloß nicht zu früh«, mahnte Hieronymus. »Ich fürchte nur, wir werden keine erfreulichen Neuigkeiten erfahren.«

»Das fürchte ich allerdings auch, mein Freund. Das fürchte ich auch.«

6 Wienerisch: anschnauzen.

7 Taugenichts.

Donaumelodien - Totentaufe

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