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Bertrand war ein Knabe von zehn Lenzen und immer schon von froher Natur. Besonders aber, seit er vor knapp einem Jahr eine fein polierte steinerne Murmel gefunden hatte, die geheimnisvoll in den Farben Braun und Grün schimmerte. Seither war ihm nur noch Gutes widerfahren. Sein Vater hatte eine Anstellung bei einem wohlhabenden Adeligen in der Inneren Stadt gefunden, weshalb der Tisch immer reichlich gedeckt und seine Mutter bei bester Laune war. Sein jüngerer Bruder hatte sich von dem schweren Husten, der ihn geplagt hatte, erholt, und der Gemahl seiner älteren Schwester war von zwei Raufbolden von der Franzensbrücke in den Donaukanal geworfen worden, von wo er nicht mehr aufgetaucht war. Seither hatte ihr immerzu malträtiertes Gesicht keine Anzeichen mehr von blauen Flecken oder Platzwunden aufgewiesen.

Ja, das Jahr seit dem Murmelfund war ein glückliches gewesen, weshalb Bertrand das runde Kleinod seither immer sicher in der Tasche seiner Joppe verstaut bei sich trug. Gerade hüpfte der Junge die Johannesgasse Richtung Stadtpark hinunter, als er mit Zeigefinger und Daumen eine merkwürdige Unebenheit auf der ansonsten spiegelglatten Oberfläche der Kugel verspürte. Er blieb stehen, sah sich sorgsam um, ob kein Fuhrwerk oder sonstiges Vehikel seinen Weg zu kreuzen drohte, und holte die Murmel hervor. Voll Sorge besah er sich die Unebenheit, versuchte, mit seinen abgeschundenen Fingernägeln den Schmutz zu entfernen – vergeblich. Also nahm er die Kugel in den Mund und begann, vorsichtig an ihr zu lutschen, als wäre sie eine Kirsche, die man noch nicht zerbeißen mochte. Und tatsächlich, wenig später schien die Unebenheit verschwunden zu sein. Bertrand wollte gerade noch einmal mit der Zunge die Vollkommenheit der Kugel prüfen, als ihn so ein Haderlump grob anrempelte – und er vor Schreck einatmete.

Plötzlich steckte die Murmel in Bertrands Hals, wollte weder in den Magen hinab noch in den Mund zurückrutschen. Der Bub verdrehte die Augen und begann lautlos zu japsen wie ein Fisch, der an Land verendete. Er fiel auf die Knie. Seine ansonsten gesunde rötliche Gesichtsfarbe wurde erst blass, dann bläulich.

Kurz bevor Bertrand das Bewusstsein verlor, klopfte ihm ein Knecht, der die Atemnot des Knaben bemerkt hatte, so beherzt auf den Rücken, dass dieser die Murmel in hohem Bogen wieder ausspie.

Während sich Bertrand mit tiefen Lungenzügen erholte, sprang die Murmel das Straßenpflaster hinab, rollte zwischen den abgerundeten Steinen hin und her und kam schließlich in einer Ecke zu liegen, in der eine Katze genüsslich schlummerte. Ihr struppiges Fell war grau und braun getigert, eine Rasse war bei ihr jedoch keine mehr zu erkennen. Mit halb geöffnetem Auge nahm sie die Steinkugel wahr wie ein Habicht, der seine Beute fixierte. Das runde Etwas rollte bis vor ihr Schnäuzchen, blieb dann liegen. Ein lustloser Schubs mit der Pfote ließ die Murmel eine Handbreit weiterrollen. Dies genügte, um den Spieltrieb in dem Tier zu erwecken. Wie von der Tarantel gestochen sprang die Katze auf und trieb mit gezielten Prankenhieben die Kugel die Gasse hinunter.

Bis die Murmel durch ein vergittertes Kellerfenster sprang und dort in der Dunkelheit verschwand.

Zwei-, dreimal pratzelte die Katze noch durch das Gitter, dann wandte sie sich ab, als hätte sie nie auch nur den Hauch eines Interesses an der Murmel gehabt – und stand einem Hund gegenüber, der knurrend die Zähne bleckte. Instinktiv machte die Katze einen Buckel, sträubte das Fell und stieß ein infernalisches Fauchen aus – dann hastete sie, so schnell sie konnte, davon. Und der Hund hinter ihr her.

In wildem Zickzack jagte der Wauwau die Fellnase, vorbei an Bürgern und Händlern, an Verkaufsständen und Karren.

Schließlich machte die Katze einen Satz, sauste zwischen den Beinen eines Arbeiters hindurch. Bei diesem handelte es sich um Bertrands Vater, der gerade ein dickes Seil in Händen hielt und damit über die Umlenkrolle eines Flaschenzuges eine Kommode in die Höhe zog, die für das oberste Zimmer des Hauses seines adeligen Dienstgebers gedacht war.

Der Hund setzte nach.

Doch da hatte Bertrands Vater die Beine bereits wieder geschlossen und maß mit scharfem Blick das Möbelstück, das direkt über ihm schwebte.

Mit einem Jaulen schlug der Köter im Gemächt des Mannes ein, der gleich darauf mindestens ebenso aufjaulte – und das Seil losließ …

Für einen Moment schien die edle Kommode in der Luft zu verharren, losgelöst von der Schwerkraft zu schweben – nur um im nächsten Augenblick wie ein Felsbrocken zu Boden zu stürzen.

Das Seil sauste so schnell durch die Umlenkrolle, wie die Kommode auf die Pflastersteine zustürzte, wo sie einen Herzschlag später mit einem fürchterlich lauten Krachen aufschlug und in unzählige Einzelteile zersprang – und das nur wenige Fuß von Bertrands Vater entfernt, der sich den Schritt hielt und mit ungläubigen Augen erst sein Glück fassen musste, dass nicht er es war, der unter der Kommode gestanden hatte, sondern der Hund.

Dessen Blut floss nun unter der zerstörten Kommode hervor, rann zwischen den Pflastersteinen hinfort, zeichnete ein seltsam wirkendes rechteckiges Muster. Bertrands Vater folgte dem sich ausbreitenden Rinnsal mit den Augen, gleich so, als würde er ein seltenes Schauspiel der Natur beobachten, und kam schließlich mit seinem Blick auf einem Haufen Unrat zu ruhen, der sich in einer Ecke türmte –

Und aus dem eine bleiche, verkrampfte Hand ragte.

Bertrands Vater humpelte mehr, als er ging, während er sich dem Haufen näherte, hielt sich weiterhin den schmerzenden Schritt.

»Jessasmaria!«, entfuhr es ihm, während er sich gleichzeitig bekreuzigte.

Vor ihm lag, inmitten des Unrats, ein Mann mittleren Alters, die Wangen wohl genährt, die Haare bereits schütter. Anstatt der Augen zwei klaffende Höhlen, die tief in den Schädel hineinreichten und aus denen das mittlerweile getrocknete Blut wie aus einem Springbrunnen herausgeschossen sein musste.

Donaumelodien - Totentaufe

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