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7. Aufbruch

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Morfan betrat den Hain gemessenen Schrittes. Ehrfurcht sprach aus dem Blick, mit dem er die Ebereschen bedachte, deren Laubkronen sich hoch über ihm im Winterwind wiegten. Ihre eisüberhauchte Beerenpracht glitzerte in der Morgensonne. Nicht weit entfernt plätscherte Wasser aus dem Fels in einen kleinen Teich. Er verneigte sich gen Osten, setzte sich mit verschränkten Beinen in die Mitte der Lichtung vor ein steinernes Tischchen und schloss die Augen.

Saraid holte unter seiner Kutte ein langes Messer hervor, verbeugte sich vor einem der Bäume und schlug einige Zweige vom Stamm, die er auf den Tisch legte. Mit einem gemurmelten Wort entfachte er ein Feuer. Dann zog er sich an den Rand der Lichtung zurück und wartete. Der Rauch umhüllte Morfans Gestalt und bald begann der Magier, in einem monotonen Rhythmus zu sprechen, bis seine Stimme tief und warm klang. Sein Kopf fiel nach hinten und bewegte sich ruckartig hin und her, seine weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere.

„Brägan?“ Seine Stimme klang ungläubig.

Saraid trat hervor und löschte das Feuer. Morfan erhob sich schwerfällig und wischte sich mit dem Ärmel seiner Kutte den Schweiß von der Stirn.

„Es ist so, wie wir vermutet haben. Er will mich töten.“ Er schüttelte den Kopf und ein Ausdruck des Bedauerns huschte über sein Gesicht.

Beide verneigten sich vor den Bäumen und verließen den Hain.

Eine Stunde später saßen Jo, Luc und Motz im Auto und machten sich auf den Rückweg in die Normandie. Manù war in Paris geblieben, hatte ihnen jedoch die Aufzeichnungen ihres Großvaters und das Kettchen mitgegeben und angeboten, bei Bedarf sofort nachzukommen, da sie ihnen aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten eine große Hilfe sein könnte. Jo hatte nicht nachgehakt, welche Fähigkeiten Manù meinte.

„Auf Wahrsagerei und Kartenlegen können wir gut verzichten“, hatte Motz Manùs Angebot kommentiert und war losgebraust.

Sie erreichten Etretat erst spät am Abend. Motz setzte Luc beim Haus seiner Eltern ab und parkte sein Auto wenig später vor dem Haus der Großeltern. Großvater war noch nicht zu Bett gegangen und zog die schwere Haustüre auf, bevor Motz den Schlüssel ins Schloss stecken konnte. Er lotste Jo und Motz in die Küche und bat sie, ihm von ihren Erlebnissen in Paris zu berichtet. Als sie geendet hatten, sah er Jo mit müden, sorgenvollen Augen an.

„Was willst du jetzt tun?“

Sie hob den Kopf und sah an ihm vorbei aus dem Fenster in die Nacht hinaus. „Warten.“

Großvater stand auf, drückte ihr sanft einen Kuss auf den Hinterkopf und verließ die Küche.

In ihrem Zimmer schaute Jo später lange und aufmerksam in den Spiegel über dem Waschbecken, doch in ihren Augen war nichts, das ihren baldigen Tod erahnen ließe. Nur mäßig beruhigt setzte sie sich auf das Bett. Dabei fiel ihr Blick fiel auf das auf dem Nachttisch liegende Buch Zeit der Schatten’. Wut stieg in ihr auf. Sie ergriff es und schleuderte es gegen die Wand. Mit einem lauten Klatschen fiel es zu Boden.

Dann löschte sie das Licht, kuschelte sich in ihre Bettdecke und lauschte der Brandung. Wind wehte leicht durch das Fenster herein und strich über ihren Kopf. Irgendwo bellte ein Hund.

Und wenn sie tatsächlich verflucht war und sterben musste? Sie schluckte und starrte in die Dunkelheit. „Ich will nicht sterben“, flüsterte sie. „Ich habe doch noch so viel vor.“ Ihr Herz schlug wild und sie lag noch Stunden wach, bis sie endlich einschlief. Die Angst lag neben ihr und wartete.

Am nächsten Morgen fuhr Großvater zu einem befreundeten Chemiker nach Brest, um die Kette untersuchen zu lassen. Am Abend kehrte er zurück und rief Großmutter, Jo und Motz ins Wohnzimmer. Er zog das Amulett aus dem Briefumschlag und legte es auf den Tisch.

„Das Material, aus dem die Kette gefertigt ist, ist unbekannt.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Mein Freund war vor Aufregung außer sich und ich hatte große Mühe, ihm das Versprechen abzuringen, Stillschweigen zu bewahren.“ Er warf Jo einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Das ist doch nicht möglich“, murmelte Motz und schüttelte den Kopf.

„Großer Gott“, rief Großmutter aus und schlug sich die Hand vor den Mund.

Jo warf nur einen kurzen Blick auf das Amulett, das im Schein des Kaminfeuers silbern schimmerte, und rannte aus dem Haus.

Oh nein.

Der Mann lag am Boden und schrie. Sein Gesicht war blutig und geschwollen, seine graue Tunika hing in Fetzen von seinem geschundenen Körper.

„Ich frage dich jetzt zum letzten Mal: Wo ist Brägan?“

Der Mann drehte sein Gesicht zu seinem Peiniger. „Ich weiß es nicht. Ich habe ihn seit Beendigung der Ausbildung weder gesehen noch gesprochen.“

„Du lügst!“ Saraid riss den Kopf des Mannes an den langen Haaren hoch und lächelte. „Wir haben dich beobachtet, Fynn. Du hast versucht, andere deines Standes für Brägans Sache zu gewinnen. Aber du hast dich nicht geschickt genug angestellt und Leute anwerben wollen, die auf unserer Seite stehen.“

Fynn schwieg. Morfan betrat die Zelle und Saraid wich bis ans rostige Eisengitter zurück.

„Es mag sein, dass du für Brägan sterben willst, obwohl ich dir versichern kann, dass er dies für dich nicht tun würde.“ Morfans Stimme klang belustigt. „Wenn dich Schmerzen und die Aussicht auf einen grausamen Tod nicht dazu bringen, mir etwas über eure Pläne zu verraten, muss ich wohl zu anderen Mitteln greifen.“

Er gab Saraid ein Zeichen, der daraufhin die Zelle verließ. Wenig später hallten die schmerzerfüllten Schreie einer jungen Frau durch den Kerkertrakt der Festung. Fynn setzte sich abrupt auf und starrte Morfan hasserfüllt an. „Lass sie gehen“, keuchte er, als würde ihm jedes einzelne Wort Schmerzen bereiten.

Morfan lächelte. „Und warum sollte ich das tun?“

Fynn stöhnte. „Ich werde dir sagen, was ich weiß.“ Morfan beobachtete ihn abwartend. „Brägan hat ein Versteck in den Bergen, der genaue Aufenthaltsort wurde mir nicht mitgeteilt, für den Fall, dass ich in deine Hände falle, aber ich vermute, es liegt in der Nähe des Vulkans.“

„Wer ist bei ihm?“ Morfan kniff die Augen zusammen.

„Korbinian, andere Magier und viele Bewohner Thuroths.“ Fynn sank wieder zu Boden. Die Schmerzen schienen zu stark zu sein.

„Taryn?“

Fynn schüttelte den Kopf. „Soweit ich weiß, nicht.“

Morfan runzelte die Stirn und strich sich über den Bart. „Brägan kennt deine Schrift?“

Als Fynn nickte, zog Morfan einen Bogen Pergament und eine Feder aus seinem Umhang und reichte sie dem Verletzten. „Schreib ihm, dass du wichtige Neuigkeiten für ihn hast, die du ihm nicht per Kurierlibelle mitteilen möchtest, und dass du ihn dringend sehen musst. Schlag ihm die Quelle des Noriel als Treffpunkt vor. Er soll sich dort morgen gegen Mitternacht einfinden.“

Fynn schrieb die Zeilen mit zitternder Hand und reichte Morfan den Bogen. Der überflog ihn und pfiff nach einer Libelle, die Sekunden später auf seinem Arm landete. Morfan befestigte die Nachricht am Fühler, nannte den Empfänger und fügte die Worte „Sehr eilig“ hinzu, woraufhin das Tier pfeilschnell aus der Zelle schoss.

Fynn hob den Kopf. „Mehr weiß ich nicht.“

Morfan bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick und verließ die Zelle, ohne die Tür zu schließen. Saraid kam ihm entgegen. „Kümmere dich um die beiden“, sagte Morfan und erklomm die Steintreppe.

Um Mitternacht des nächsten Tages spähten Morfan und Saraid durch die Äste der Wintereiche, hinter der sie sich verbargen, auf die Quelle des Noriel, die aus dem Fels in einen kleinen Teich sprudelte. Das heiße Wasser sandte Dampfschwaden in die Winternacht. Die übrigen Männer hatten sich rund um die Quelle verteilt und lagen unsichtbar im schneebedeckten Schilf. Wenn Brägan die Kurierlibelle mit Fynns Nachricht erhalten hatte, musste er in den nächsten Minuten hier erscheinen.

„Er müsste längst hier sein“, zischte Saraid etwas später.

Morfan schwieg. Sie warteten noch eine weitere halbe Stunde, doch Brägan erschien nicht.

Saraid erhob sich und streckte seine Glieder. „Er hat geahnt, dass es eine Falle ist.“

„Ja. Ich hatte mit dieser Möglichkeit gerechnet.“ Morfans Stimme klang ruhig, ließ aber seinen unterdrückten Zorn erahnen. „Wir werden uns etwas anderes einfallen lassen.“

In Dùn Righ erstattete er dem Fürsten Bericht, dessen Wutausbruch noch außerhalb der Festungsmauern zu hören war. Als Morfan in sein Zimmer zurückkehrte, erwartete Saraid ihn vor dem Kamin. Morfan ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen und starrte ins Feuer. „Er verliert den Verstand.“

Saraid nickte. „Wir müssen es beenden, und zwar schnell.“

„Es wird nicht mehr lange dauern, mein Freund. Ich fühle es. Jemand ist auf dem Weg hierher und wird uns eine große Hilfe sein, auch wenn er es gar nicht beabsichtigt.“

Saraid runzelte die Stirn. „Wer wird kommen?“

Morfan lächelte. „Eine Fremde.“

In den nächsten Tagen veränderte sich Jos Zustand, langsam und stetig. Obwohl sie nachts gut schlief, war sie mittags so müde, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte. Sie erklärte sich ihre Müdigkeit mit den aufregenden Geschehnissen in Paris und den Sorgen, die sie sich machte. Eine Woche vor ihrer geplanten Heimreise nach Berlin wachte sie morgens zerschlagen auf, wankte zum Waschbecken und blickte in den Spiegel.

Was sie sah, ließ sie taumeln. Sie krümmte sich und fiel auf die Knie. Kälte kroch ihr den Rücken hinauf, legte sich um ihre Schultern und ihr Herz. Ihr Atem zögerte. Zu früh, zu früh, rief die Stimme. Jo keuchte.

Warum hatte sie dieses verdammte Buch gelesen? Warum hatte Judith es mit in die Normandie gebracht? Warum, warum, warum? Die Ohnmacht lauerte in ihren Augenwinkeln. Was konnte sie tun? Gab es einen Weg, sie zu retten? Oder stand ihr Tod unwiderruflich fest? Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle und sie schlug die Hände vor das Gesicht. Ein unkontrolliertes Zittern ergriff ihren Körper und ihr Geist versank in Dunkelheit.

„Jo!“ Sie vernahm Motz' Stimme von weither und hob langsam den Kopf. Er strich ihr mit besorgtem Blick durch das Gesicht und half ihr auf.

„Was ist passiert?“ Seine Stimme war ein Flüstern.

Sie sah ihn lange wortlos an und er presste die Lippen aufeinander.

„Das kann nicht sein, Jo.“ Seine Stimme wehrte sich und er blickte sie unsicher an. „Das ist Einbildung. Manù hat dich …“

Jo legte Motz eine Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. „Und die Kette?“

Ihr Bruder zuckte hilflos mit den Schultern.

„Sag den anderen Bescheid. Ich möchte mit ihnen reden.“

Nachdem Motz das Zimmer verlassen hatte, zog sie sich an und wankte die Treppe hinunter. Die Großeltern, Motz und Luc erwarteten sie im Wohnzimmer. Jo warf einen Blick auf das Amulett auf dem Kaminsims und holte tief Luft.

„Ich weiß nicht, ob und wie das Amulett und der Reisespruch funktionieren. Ich weiß auch nicht, was mich erwartet, wenn ich die Insel erreichen sollte, welchen Gefahren ich dort ausgesetzt sein werde, Todesgefahren vielleicht. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt eine Chance habe, denjenigen zu finden, der den Fluch zurücknehmen kann und ob er dazu auch bereit ist.“ Sie zögerte und senkte die Stimme. „Und ich weiß nicht, ob ich auf die gleiche Weise wieder nach Hause zurückkehren kann. Dennoch will ich diese Reise wagen, denn hier erwartet mich nichts als der Tod.“

Niemand sprach ein Wort. Der Wind fegte ums Haus und zerrte an den Schlagläden. Jo sah auf. Großmutter beschattete die Augen mit einer Hand, Großvater presste die Lippen zusammen, während Motz und Luc sie ungläubig anstarrten.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Ihr Bruder sprang auf und sah in die Runde. „Haben denn hier alle den Verstand verloren?”

„Motz, ich habe …“

„Ach Jo, das ist doch alles Unsinn! Hörst du dich eigentlich reden? Du willst mit einem Amulett und einem Zauberspruch eine Reise auf eine Insel unternehmen, die es gar nicht gibt, um einen Mann zu finden, der längst tot ist.“ Er holte tief Luft. „Verdammt noch mal!“

Jo zuckte zurück und blinzelte die Tränen weg, die ihre Augen füllten.

„Und wie erklärst du dir, dass das Metall der Kette nicht bestimmbar ist?“, vernahm sie Lucs Stimme und sah auf. Er griff nach dem Amulett und hielt es ihrem Bruder unter die Nase.

„Das kann ich nicht erklären“, rief Motz und stieß Lucs Arm zur Seite. „Vielleicht ... ach, was weiß ich. Ich will mit dem ganzen Quatsch nichts zu tun haben.“ Er drehte sich um und lief aus dem Zimmer.

Jo senkte traurig den Kopf.

„Es scheint ja wirklich die einzige Chance zu sein, um dich vor dem Tod zu bewahren“, sagte der Großvater nach einer Weile seufzend. „Doch ich möchte nicht, dass du alleine gehst. Bitte Manù, dich zu begleiten.“

Sie warf Großvater einen skeptischen Blick zu.

„Sie ist nicht nur eine Wahrsagerin und Kartenlegerin. Sie hat Fähigkeiten, die von Nutzen sein können.“ Er erhob sich und reichte ihr das Telefon.

Jo zögerte nur kurz. Der Gedanke, die Reise nicht alleine durchstehen zu müssen, tröstete sie. Die Wahrsagerin erklärte sich sogleich bereit, in die Normandie zu kommen und mit Jo Reisespruch und Amulett auszuprobieren.

In den nächsten Tagen ging Motz ihr aus dem Weg. Auch die Großeltern sprachen nicht viel mit ihr. Jeder hing seinen Gedanken nach und Jo war froh, als Manù am Samstagnachmittag eintraf. Die Sonne drängte sich durch die Wolken, als Jo, Manù, Motz, Luc und die Großeltern auf der Terrasse um den runden Holztisch herum Platz nahmen. Der Duft nach Vanille zog durch die Luft.

„Du bist sicher, dass du mit mir kommen möchtest?“, fragte Jo.

Manù nickte heftig. „Ja, unbedingt. Natürlich möchte ich in erster Linie helfen, dein Leben zu retten. Aber ich muss zugeben, dass mich auch die Aussicht sehr reizt, wirkliche Magier kennenzulernen.“

„Ihr wisst nicht, wie die Kette funktioniert“, wandte Motz ein.

„Und ihr habt nur eine Kette für zwei Personen“, ergänzte Luc.

Manù ergriff das Amulett und ließ es nachdenklich durch ihre Hände gleiten. „Vielleicht muss es nicht um den Hals gelegt werden und es genügt, wenn jeder von uns es mit einer Hand berührt, während wir gemeinsam den Reisespruch aufsagen.“

Jo beugte sich vor. „Und wie kommen wir zurück?“ Diese Frage beschäftigte sie, seit sie davon sprachen, das Amulett auszuprobieren.

„Ich bin sicher, dass wir den dafür nötigen Reisespruch von einem der Magier auf Thuroth erfahren werden“, antwortete Manù.

Jo presste die Lippen aufeinander. Das setzt voraus, dass wir wirklich nach Thuroth gelangen, dass es dort Magier gibt, die bereit sind, uns zu helfen, und dass es einen Zauber gibt, der uns zurückbringen kann. Was, wenn wir einen ganz anderen Ort erreichen, von dem es kein Zurück gibt? Was, wenn wir in einer Zwischenwelt stecken bleiben? Es gab nur offene Fragen und keine Antworten.

Gemeinsam mit Manù erstellte sie eine Liste der Gegenstände, die sie mit auf die Reise nehmen wollten: Rucksäcke, Schlafsäcke, Isomatten, Winter- und Regenjacken und festes Schuhwerk, sonstige Kleidung, Lebensmittel, Taschenlampen, Werkzeug, Taschenmesser, Messer und Pfefferspray, Streichhölzer, Feuerzeuge, Ferngläser, Fotoapparate, einen Topf, 2 kleine Zelte, Wasserflaschen, Medikamente, Verbandszeug, Schreibzeug und Papier. Natürlich würden sie auch das Buch mitnehmen. Jo fühlte sich etwas besser, jetzt, wo sie mit den Vorbereitungen für die Reise beschäftigt waren. Am nächsten Morgen fuhr sie mit Manù nach Fécamp, um einzukaufen, nachmittags übte sie mit ihr den Reisezauber, von dessen Aussprache Manù eine genaue Vorstellung zu haben schien, und am Abend begann sie, ihren Rucksack zu packen. Großmutter hatte Lebensmittel besorgt und stellte sie in der Küche auf den Tisch.

„Was sagen wir deinen Eltern?“, fragte der Großvater, als sie beim Abendessen beisammensaßen. Jo stellte fest, dass ihr das völlig gleichgültig war. Ihre Eltern würden sie nicht vermissen, genauso wenig wie ihre Eltern ihr fehlen würden. Sie zuckte mit den Schultern. Andererseits würden ihre Eltern natürlich erwarten, dass sie pünktlich zum Schulbeginn wieder in Berlin wäre, während Motz direkt von der Normandie aus zum Studium nach Paris ging.

„Wenn sie wirklich anrufen sollten, was mich wundern würde, sagt ihnen, ich läge mit einer Mandelentzündung im Bett und könnte nicht sprechen. Wir können davon ausgehen, dass sie nicht hierherkommen, um zu sehen, wie es mir geht. So habe ich mindestens eine Woche gewonnen.“ Das war eine Möglichkeit, ihre Eltern hinzuhalten.

Der Großvater schaute skeptisch. „Wenn sie dich länger als zwei Wochen nicht sprechen können, werden sie vermuten, dass du mit Motz nach Paris gegangen bist.“ Er ließ die Bemerkung im Raum stehen, doch Jo wusste, was er meinte. In diesem Fall würden die Großeltern Ärger bekommen und das wollte sie natürlich nicht. Sie musste sich also beeilen.

Manù und sie übten den Reisespruch bis weit nach Mitternacht, bis sie das Gefühl hatten, dass sie ihn ohne Stottern und Stammeln beherrschten. Dann wünschten sie sich eine gute Nacht. In ihrem Zimmer sah Jo lange in den Spiegel in der Hoffnung, sich getäuscht zu haben. Doch so war es nicht.

Furcht hielt sie noch lange wach und es schien ihr, als sei sie gerade erst eingeschlafen, als das Morgenlicht sie weckte. Sie verkroch sich unter der Bettdecke, bis sie daran dachte, was Manù für sie auf sich zu nehmen bereit war. Beschämt stand sie auf, schlüpfte in Jeans, Sweatshirt und Wanderschuhe, schnappte sich die Lederjacke, stieg die Treppe hinab und hielt stirnrunzelnd auf der untersten Stufe inne. Vor der Küche, aus der der Geruch von warmem Brot und Kaffee in den Flur zog, standen vier Rucksäcke.

Motz erschien im Türrahmen, sein Gesicht verriet nichts über seine Gefühle. „Ich komme mit.“

Jo riss die Augen auf. „Wie bitte?“ Er wollte sie begleiten? Er, der nicht an Flüche und Zauber glaubte? Er geht davon aus, dass der Reisespruch nicht funktioniert.

„Ich auch“, ließ sich Lucs Stimme vernehmen.

Jo kniff die Augen zusammen, trat in die Küche und sah von Luc zu ihrem Bruder. „Ihr glaubt, der Zauber gelingt nicht, aber das Gegenteil kann der Fall sein. Und auf Thuroth könntet ihr euer Leben verlieren, nur um meines zu retten.“

„Das ist uns klar“, sagte Motz ruhig. „Wir haben den Reisespruch schon mit Manù geübt.“

Jo drehte sich zu ihrem Bruder. „Du warst die ganze Zeit gegen diese Reise. Wieso …?“

„Ich lasse dich nicht mit ihr alleine“, grummelte Motz und machte eine Kopfbewegung in Richtung der Wahrsagerin.

„Und Luc?“

„Er hat darauf bestanden, uns zu begleiten.“

Luc nickte.

„Ja, aber warum denn?“

„Es könnte ja sein, dass mir etwas an dir liegt.“ Er grinste.

Jo spürte, wie das Blut in ihre Wangen stieg. Sie senkte den Blick und setzte sich schweigend an den mit Croissants, Butter, Marmelade und Kaffee gedeckten Tisch. Sie konnte kaum glauben, dass Motz und Luc sie begleiten wollten. In das Gefühl der Erleichterung und Freude mischten sich Angst und Sorge. Ich würde mir nie verzeihen, wenn ihnen etwas zustößt.

„Bitte iss etwas“, hörte sie Großmutter sagen, doch sie verspürte keinen Appetit.

Alle, auch Manù, sahen angespannt aus und sprachen wenig. Nach dem Frühstück schulterten die vier ihre Rucksäcke, nachdem sie deren Inhalt nochmals kontrolliert hatten, steckten die Messer in die Scheiden am Gürtel – Motz steckte seines wie gewohnt in eine Scheide an der Wade – und begaben sich mit den Großeltern auf die Terrasse, als sie Melinda rufen hörten. Großvater lief zur Haustür und ließ sie hinein. Sie trug einen Brief in der Hand und reichte ihn Jo, nachdem sie Manù mit einem knappen Nicken begrüßt hatte.

„Nimm das mit, es wird euch helfen“, krächzte sie.

„Was ist das?“, fragte Jo überrascht.

„Es ist ein Brief von Judith an Mexx.“ Die Heilerin war außer Atem und Schweißperlen schimmerten auf ihrer Stirn.

„Von meiner Mutter?“, entfuhr es der Großmutter. „Warum hast du mir nie davon erzählt?“

Melinda seufzte. „Er ist nicht wirklich von Judith, sondern von mir, aber er soll den Eindruck erwecken, dass Judith ihn kurz vor ihrem Tod geschrieben hat.“

Jo runzelte die Stirn. „Was steht in dem Brief?“

„Dass Judith ihn mochte und ihm sein Verhalten auf dem Fest verziehen hat.“

„Was?“, rief Jo aufgebracht. Ihr war der Gedanke zuwider, dass Melinda einen Brief dieses Inhaltes gefälscht hatte. Immerhin trug Mexx die Schuld an Judiths Tod. Nur mühsam konnte sie sich beruhigen.

Melinda legte Jo ihre faltige Hand auf den Arm. „Vielleicht bringt der Brief Mexx dazu, den Fluch aufzuheben.“

„Einen Versuch ist es wert“, meinte Manù, nahm den Brief an sich und verbarg ihn unter ihrer Kleidung. Dann holte sie das Kettchen hervor. „Ich denke, es wird Zeit.“

Nachdem sie sich von den Großeltern und Melinda verabschiedet hatten, stellten sich Jo, Motz, Luc und Manù im Kreis auf. Jo und ihr Bruder wechselten einen langen Blick. Sie sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte. Er, der nicht an Flüche glaubte und Übersinnliches für Hokuspokus hielt, stand hier an ihrer Seite, um eine Reise in eine andere Welt zu wagen und ihr Leben zu retten. Ein vages Gefühl ergriff sie und sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, was es war: Dankbarkeit. Blinzelnd wandte sie den Kopf ab.

Das Licht der Morgensonne und das Kreischen der Möwen verblasste, während ihr Herz laut und schnell zu schlagen begann. Die Furcht hüpfte vor ihr auf den Steinfliesen. Auf ein Zeichen von Manù berührten die vier das Amulett mit jeweils einer Hand und begannen mit dem Sprechen der Formel.

„Esculton, venath, co ven dun

Dennon for an venen vin

An men portar o Thuroth

Vin an sul ca tempo eteriel

Dùn Righ min meto, nin esiton

Men prennon an là men liberon.“

Nichts geschah. Sie sagten den Spruch jetzt schon zum dritten Mal auf.

Es funktioniert nicht, dachte Jo verzweifelt.

Plötzlich wurden ihre Lider niedergedrückt, ein Wind strich um sie und hob sie empor. Schwerelosigkeit befiel sie und durch ihre Augenlider hindurch zuckten grelle Blitze. Erschrocken ließ sie die Kette los. Dann wurde es dunkel und still.

Die verborgenen Inseln

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