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8. Aderyn

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„Fels aus der Tiefe, höre meine Worte! Zauber lockten dich vor vieler Jahre Zeit. Doch ist der Augenblick deiner Erlösung noch nicht gekommen. Trage die Last der Inseln bis zu jenem Tage, an dem die Welt versinken will und mit ihr all der Menschen Klage.“

Der Aufprall presste Jo die Luft aus den Lungen. Keuchend riss sie die Augen auf und starrte in einen grauen, wolkenverhangenen Himmel, aus dem kleine Schneeflocken auf sie herabfielen. Eiskalter Wind fuhr ihr durch das Gesicht. Winter! Der Zauber hatte sie tatsächlich an einen anderen Ort gebracht. War dies Thuroth? Verwundert setzte sie sich auf, stützte ihre Hände im hellgrau schimmernden Schnee ab und rutschte auf die Knie. Ihr Bruder lag neben ihr und wandte ihr den Rücken zu. Sie sah sich um, aber von Manù und Luc war nichts zu sehen.

„Motz!“

Sie streifte den Rucksack von den Schultern und ließ ihn auf den Boden gleiten. Dann beugte sie sich über ihren Bruder und strich ihm über den Kopf. „Motz, was ist denn?“

Ihr Bruder regte sich nicht. Jos Blick fiel auf einen roten Fleck im Schnee. Erschrocken nahm sie Motz den Rucksack ab und drehte seinen Körper vorsichtig auf den Rücken. An der linken Schläfe klaffte eine Wunde, aus der Blut sickerte. Dort, wo Motz' Kopf gelegen hatte, entdeckte Jo einen spitzen, blutbefleckten Stein. Sie öffnete ihren Rucksack und holte ein Fläschchen Betaisodona hervor, aus dem sie einige Tropfen auf die Wunde gab. Motz zuckte nicht.

Missmutig ließ sie ihren Blick schweifen. Sie befanden sich auf einem kleinen Felsplateau in der Mitte eines steilen Berghanges. Um sie herum thronten majestätische Berge, deren Gipfel Hunderte von Metern in den Himmel ragten und sich in den Wolken verloren. Zerklüftete Felshänge, verschneite Schluchten und massige Gletscher zogen sich zu beiden Seiten bis zum Horizont. Im Tal weit unter ihnen wand sich ein Fluss wie eine silberne Schlange durch die verschneite Landschaft. Nicht weit von Jo entfernt sprang eine Gruppe Bergziegen mit seltsam verdrehten Hörnern durch den Schnee. Sie hob den Kopf und entdeckte im weiteren Verlauf des Berghangs einen verfallenen Turm. Vielleicht konnten sie dort Schutz vor Schnee und Kälte finden. In einiger Entfernung sah sie auf der anderen Seite des Tales einen weiteren Turm. Nach einer Ortschaft suchten ihre Augen vergebens.

Wo waren Luc und Manù? Sie rief mehrmals ihre Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Die Kälte drang in ihre Glieder und sie nestelte mit klammen Fingern an den Rucksäcken, um die Winterjacken herauszuziehen. Sie schlüpfte in ihre Jacke und legte die von Motz über seinen Oberkörper. Dann ergriff sie ihren Rucksack und begann mit dem Aufstieg. Bald stellte sie fest, dass sich unter dem Schnee in den Fels gehauene Stufen befanden, die sie immer wieder stolpern ließen. Der Rucksack war schwer und sie geriet trotz der Kälte und des Windes, der ihr entgegenblies, ins Schwitzen. Ihr Atem ging schneller und formte kleine Wölkchen in der eisigen Luft. Als ihr Knöchel zu schmerzen begann, hielt sie inne, blickte zurück und sah den Körper ihres Bruders durch die Schneeflocken hindurch auf dem Plateau liegen.

Endlich erreichte sie den Turm. Die Hälfte der Front war eingestürzt, die steinernen Trümmer lagen vor ihr im Schnee, doch der Rest des Gebäudes einschließlich des Dachs schien intakt zu sein. Vorsichtig trat sie über die Türschwelle. An der linken Wand führten Stufen in die obere Etage. Das Erdgeschoss bestand aus einem großen Raum, dessen Boden von einer dicken Schneeschicht bedeckt war. Er war leer bis auf einen Kamin, in dem sich jedoch kein Holz befand. Jo entdeckte nichts, was sich hätte verbrennen lassen können.

Sie legte den Rucksack neben den Kamin, verließ den Turm und machte sich auf den Rückweg. Es dämmerte, der Schnee fiel jetzt dichter, sodass sie nicht weiter als ein paar Meter voraussehen konnte. Der Wind wehte ihr Stimmen zu. Gehörten sie zu Manù und Luc? Sie humpelte schneller, das Plateau konnte nicht mehr weit entfernt sein: Sie erinnerte sich, dass sich der Felsblock, der jetzt neben ihr auftauchte und der sich bei genauerem Hinsehen als unterer Teil einer Statue herausstellte, ganz in seiner Nähe befunden hatte. Ein Geräusch drang aus dem Abgrund zu ihr herauf. Es klang wie eine Decke, die ausgeschlagen wurde, oder wie eine im Wind flatternde Fahne. Jo kniff die Augen zusammen und starrte in die wirbelnden Schneeflocken vor sich, ohne etwas zu erkennen. Sie schlitterte die verbleibenden Stufen hinunter und sah am Rande des Plateaus ein großes Stück Leder mit Stacheln durch die Luft zucken und im Schneetreiben verschwinden, begleitet von einem Kreischen und dem Geräusch, das sie zuvor gehört hatte. Dann war alles still. Sie stutzte, senkte den Blick und starrte sie auf die Stelle, wo Motz gelegen hatte. Ihr Bruder war verschwunden.

Jo blinzelte fassungslos. Einen Augenblick war sie unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Das konnte, das durfte nicht wahr sein. Was war hier geschehen? Wer oder was hatte ihren Bruder mitgenommen?

„Motz! Motz!“, rief sie in die wachsende Dunkelheit, enthielt jedoch nur einen entfernten Schrei als Antwort. Sie verharrte regungslos, darauf hoffend und gleichzeitig fürchtend, dass das Wesen, das Motz mit sich genommen hatte, zurückkehrte, doch sie blieb allein. Immer dichter wirbelten die Schneeflocken und der Wind nahm an Stärke zu. Unheimliche Töne erfüllten die Luft und Finsternis legte sich auf die Landschaft.

Benommen drehte Jo sich um, ergriff Motz' Rucksack und stolperte die Stufen hoch, immer wieder zurückschauend in der Hoffnung, ihren Bruder aus dem Vorhang aus Schnee auftauchen zu sehen. Als sie den Turm erreichte, nahm sie die Taschenlampe aus dem Rucksack und erklomm schwerfällig die Treppenstufen in die erste Etage, die aus einem Raum bestand. Er war leer bis auf eine schmale Holzstiege, die zu einem gemauerten Ausguck auf dem Dach des Gebäudes führte. Er maß etwa zwei Quadratmeter und in seinen Wänden befanden sich Öffnungen. Neben dem Holzstapel in der Mitte stand eine Kanne aus Metall. Neugierig tauchte Jo ihre Finger in die darin befindliche Flüssigkeit, zog sie wieder heraus und roch daran. Öl! Wahrscheinlich war dies ein Leuchtfeuer. Sie ergriff die Holzscheite und warf sie mit lautem Gepolter die Treppe hinunter. Dann stieg sie mit der Kanne in der Hand die Stufen ins Erdgeschoss hinab, sammelte die Scheite auf und stapelte sie im Kamin, goss ein wenig Öl darüber und entzündete sie mit den mitgebrachten Streichhölzern. Sekunden später prasselte ein großes Feuer, dessen Schatten wild über die Steinmauern tanzten. Der Geruch verbrennenden Holzes füllte die Luft, während der Wind durch die Öffnung in der Wand pfiff und in die Flammen fuhr.

Jo setzte sich vor den Kamin und massierte mit beiden Händen den pochenden Knöchel. Das Feuer gab nur wenig Wärme ab und sie schlüpfte in ihren Schlafsack und versuchte, Kälte und Schmerzen zu ignorieren. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihrer Brust. Was war mit Motz geschehen? Wo war er jetzt? Gehörte das Stück Leder, das sie gesehen hatte, zu einer Schwinge? Hatte sie Flügelschläge gehört? Gab es denn so große Vögel, die einen Menschen tragen konnten? Hier vielleicht schon, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr fiel nur ein Grund ein, warum der Vogel Motz mitgenommen haben könnte: Hunger! Wenn Motz das Bewusstsein nicht wiedererlangte, konnte er sich nicht wehren, wenn der Vogel ... Ihr Herz raste und ihr Atem ging schneller. Ungeduld erfüllte sie bei dem Gedanken, dass sie jetzt nichts für ihn tun konnte. Warum war der Vogel nicht zurückgekommen, als sie gerufen hatte? Hatte er vor, sie später zu holen? Warum war sie nur nicht bei ihrem Bruder geblieben?

Ihr Kopf fiel auf ihre Knie. Und wo waren Manù und Luc? Sie hatte das Amulett doch erst kurz vor der Ankunft losgelassen. Mussten sich die beiden dann nicht ganz in der Nähe befinden? Vielleicht sahen sie den Schein des Feuers und waren auf dem Weg zu ihr. Dies war ein tröstender Gedanke. Morgen früh würde sie sich auf die Suche nach dem nächsten Ort machen, um Hilfe zu holen und nach ihrem Bruder zu suchen.

„Flap, flap.“

Sie schreckte hoch. Das Geräusch war vom Eingang gekommen. Sie ergriff die Taschenlampe und richtete den Lichtstrahl auf die Öffnung in der Wand. Auf der Treppe saß eine große Eule, die aufgeschreckt rückwärts gegen die Wand hüpfte und einen meckernden Laut ausstieß. Runde Augen starrten regungslos ins Licht. Jo senkte die Lampe und der Vogel entspannte sich. Sie seufzte erleichtert.

„Ich hoffe, du führst nichts Böses im Schilde und suchst nur Schutz vor dem scheußlichen Wetter.“ Die Eule hielt den Kopf schräg und plusterte das Kopfgefieder. „Meinetwegen kannst du hierbleiben. Ich bin eigentlich ganz froh über ein bisschen Gesellschaft.“

Die Gegenwart des Vogels beruhigte sie tatsächlich. Sie legte die Lampe zur Seite und kuschelte sich in den Schlafsack. Bald glitten ihre Sinne in die Welt zwischen Wachen und Schlaf.

Hefeyd stand in der Dämmerung unter dem Lichthaus am Ende der Mole, das den Schiffen den Weg in den Hafen von Cyfor wies. Schneeflocken umwirbelten ihn im auffrischenden Wind und überzogen den steinernen Boden mit einem Hauch von Grau. Reglos starrte er auf das wogende Meer, während er das Heft seines Schwertes fest umklammerte. Dunkle Wolkengebirge türmten sich über dem Wasser und eilten auf die Insel zu. Ein Schneesturm, dachte Hefeyd missmutig. Die Stirn seines schmalen, feinen Gesichts lag in Falten und seine silbrigen Augen wirkten müde. Es war kalt geworden und er fröstelte trotz des dicken Wollumhangs.

Eine gewaltige Bugwelle rollte durch den Vorhang der tanzenden Flocken unweit der Mole, gefolgt von dem mächtigen Rumpf und den dunklen geblähten Segeln eines Dreimasters, der Kurs auf Cyfor nahm. Der Anblick riss Hefeyd aus seiner Untätigkeit. Er wandte sich um und machte sich auf den Rückweg zum Hafen. In den dahinterliegenden engen Gassen der Unterstadt mit ihren Schänken und Gasthäusern und in den breiten Alleen der Oberstadt mit den ehemals prächtigen Häusern der Händler und Verwalter begannen die ersten Lichthäuschen zu leuchten. Zahllose Zwei- und Dreimaster schwankten vor der Kaimauer im Wind, ihre Schiffslaternen warfen zitternde Lichter auf das Wasser. Einige Schiffe hatten im Hafen keinen Platz mehr gefunden und mussten vor der Küste ankern, wo sie den gefährlichen Nachtwinden ausgesetzt waren. Kleinere Boote eilten geschäftig zwischen ihnen und dem Ufer hin und her.

Hefeyd erreichte die ersten steinernen Lagerhäuser, in die Hafenarbeiter mit vollgeladenen Karren die Waren von den Schiffen brachten: Gewürze, Früchte, wertvolles Tuch. Hefeyd ließ seine Hand über einen der schimmernden Tuchballen gleiten, der Stoff fühlte sich glatt und robust an. Muschelseide aus Lydaike. Ein von vier Kriegern bewachter, mit Gwyld beladener Wagen hielt vor einem mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Zweimaster, dessen Galionsfigur den Kopf eines Drachen darstellte. Eilig wurde das wertvolle Gut an Bord gebracht. Hefeyd warf einen Blick in das Lagerhaus von Fyrun, dem besten Weinhändler der Insel. Lange Reihen dunkler Holzfässer säumten die Wände, auf einem kleinen Tisch hinter dem Tor standen gefüllte Gläser. Daneben befand sich ein Karren mit kleineren Fässern, an denen Fyrun sich zu schaffen machte. Als er Hefeyd erblickte, winkte er ihn zu sich.

„Hefeyd, mein Junge. Gerade ist eine Lieferung des Roten aus Dyran eingetroffen. Ein ausgezeichneter Jahrgang! Probier einmal.“

Hefeyd zögerte. Doch er wusste, welche Wirkung der Rote auf ihn hatte, und er wollte an diesem Abend noch ins Dorf zurückkehren. „Nein danke, Fyrun. Ich muss noch fliegen. Eine gute Zeit!“ Seine Stimme klang hell und kräftig.

„Eine gute Zeit!“ Fyrun nickte mit einem Ausdruck des Bedauerns auf seinem Gesicht und wandte sich wieder seiner Lieferung zu.

Hefeyd bahnte sich einen Weg durch das Gewirr der Karren, die emsig zwischen den Lagerhäusern und den Schiffen hin und her gezogen wurden, und den zahlreichen Garküchen, die in unregelmäßigen Abständen mitten auf der Kaimauer Speisen und warmen Wein anboten. Der köstliche Duft nach gebratenem Fisch und Ajil, dem vor der Küste gefangenen Seewurm, zog ihm in die Nase. Sein Magen knurrte. Er war im Auftrag seines Vaters nach dem Frühstück aufgebrochen und hatte seitdem nichts mehr gegessen. Entschlossen trat er an eine Garküche heran und bestellte ein in Wydhbeerenblätter gewickeltes, mit Ajil gefülltes Brot und einen Becher leichten Honigweins. Der Seewurm schmeckte scharf und kräftig, die Blätter und der Wein süß und stark. Eine wohlige Wärme breitete sich in Hefeyds Magen aus. Gestärkt setzte er seinen Weg fort, begleitet von dem Stimmengewirr der Hafenarbeiter, Seeleute und Händler, dem Rumpeln der Karren, dem Klatschen des gegen die Hafenmauer drängenden Wassers, dem Knarzen der dicken Haltetaue und dem Ächzen der hölzernen Schiffsrümpfe.

Er erreichte ein zwischen den gewaltigen Lagerhäusern winzig wirkendes Holzhaus und trat ein. Dichter Rauch schlug ihm entgegen. Blinzelnd entdeckte er eine korpulente Gestalt an einem massigen Schreibtisch. Alech zog an seiner Pfeife und fuhr stirnrunzelnd mit dem Finger über einen Pergamentbogen. Dann sah er auf.

„Sei gegrüßt, Hefeyd. Was kann ich für dich tun?“

„Sei gegrüßt, Meister des Hafens. Bitte gib mir die Schiffsliste der letzten Woche.“

Alech erhob sich, trat an eines der mit Pergamentrollen gefüllten Regale an den Wänden und ergriff eine Rolle, die er Hefeyd reichte. „Sage deinem Vater, dass sich nichts geändert hat. Schiffe aus Gwened laufen diesen Hafen nicht mehr an.“

Hefeyd hielt die Rolle unschlüssig in der Hand. „Ist dir der Grund dafür bekannt?“

Alech neigte den Kopf. „Von dem Kapitän eines Handelsschiffes aus Dyran habe ich erfahren, dass Kian Gweneds Bedarf an Weizen und Fleisch nun auf den anderen Inseln deckt, weil er erfahren hat, dass unser Fürst seine Macht nach Gwened ausdehnen will.“

Hefeyd stutzte. Davon war ihm nichts bekannt und seinem Vater allem Anschein nach auch nicht, sonst hätte er ihn nicht mit der Prüfung der Listen beauftragt. Nicht nur für Thuroths Händler war Kians Entscheidung ein herber Schlag, das Geschäft mit Gwened hatte ihnen viel Gewinn gebracht. Auch der Fürst würde zürnen, denn die Händler würden die festgesetzten Abgaben nun nicht mehr zahlen können.

Hefeyd überflog die Liste und reichte sie Alech zurück. „Danke. Eine gute Zeit!“

„Eine gute Zeit!“, erwiderte der Meister des Hafens und kehrte an den Schreibtisch zurück.

Stirnrunzelnd trat Hefeyd aus dem Haus. Der Schnee fiel nun dicht und dämpfte die Geräusche des Hafens, als hätte sich ein Tuch darübergelegt. Die Masten und Rümpfe der vor der Kaimauer liegenden Schiffe verschwanden in einem Vorhang aus dicken Flocken. Hefeyd zog die Kapuze über seine langen Haare, schüttelte den Schnee von der Spitze seiner Fellstiefel und bog in eine kleine Gasse ab, die in die Unterstadt führte. Es wurde Zeit.

Plötzlich flog eine Kurierlibelle durch die Schneeflocken auf ihn zu und setzte sich auf seine Hand. Hefeyd erkannte an dem flimmernden Körper, dass die Nachricht wichtig sein musste. Hastig löste er das Papier aus den flauschigen Bauchfühlern, entfaltete es, kniff in der zunehmenden Dämmerung die Augen zusammen und las: Im alten Wachturm von Aderyn brennt das Feuer. Finde heraus, wer es entzündet hat, und berichte mir. Vater.

Hefeyd seufzte. Es gefiel ihm nicht, bei diesem Wetter ins Gebirge fliegen zu müssen. Er würde einige Stunden unterwegs sein, den Wachturm nicht vor Mitternacht erreichen und so mitten in den Schneesturm geraten. Dennoch schrieb er eine kurze Nachricht an seinen Vater, dass er sich sofort auf den Weg machen würde, befestigte sie an den Fühlern und murmelte den Empfänger und das Wort „eilig“. Die Libelle entfaltete ihre filigranen Flügel, schoss davon und verschwand.

Hefeyd eilte durch die verschneiten schmalen Gassen. Die steinernen Häuser standen so eng beieinander, als müssten sie sich gegenseitig Halt geben. Eine Schar zerlumpter Kinder sprang im Schnee herum. Vor den Schänken hockten verkrüppelte Gestalten und bettelten um Almosen. Die Händler schlossen ihre Läden, bei diesem Wetter würden sie heute nichts mehr verkaufen. Einige von ihnen warfen Hefeyd grimmige Blicke zu. Das waren die, bei denen er im Laufe des Tages im Auftrag seines Vaters überfällige Abgaben für den Fürsten eingetrieben hatte. Hefeyd zog die Kapuze tiefer ins Gesicht. Er hatte Verständnis für den Unmut der Händler, denn die Abgaben waren gestiegen und ließen ihnen kaum das Nötigste zum Leben. Viele von ihnen lebten bereits in Armut. Der Fürst wurde zu gierig, die Sorgen seiner Untertanen galten ihm nicht viel. Hefeyd fragte sich, warum sein Vater nicht mehr für die Bevölkerung Thuroths tat.

In einem Hinterhof standen drei verhüllte Gestalten zusammen, die beim Anblick von Hefeyds Umhang auseinanderstoben und im Schneetreiben verschwanden. Hefeyd hielt inne, sein feines Gehör lauschte den Stimmen hinterher, doch konnte es sie nicht mehr erreichen. Ihm war zugetragen worden, dass sein Vater zwei Händler wegen offener Kritik an der Herrschaft des Fürsten festgenommen und von ihnen erfahren hatte, dass sich überall auf der Insel Widerstand gegen die unzumutbaren Lebensbedingungen bildete und sich immer mehr Menschen Brägan anschlossen. Brägan. Hefeyd seufzte. Gehörten diese Verhüllten zu den Widerständlern? Es machte keinen Sinn, sie bei diesem Wetter in den engen, verwinkelten Gassen zu verfolgen. Doch es gab noch einen anderen Grund für seine Untätigkeit: Diese Menschen hatten keine Hoffnung mehr und handelten aus Verzweiflung, nicht aus Niedertracht.

Er hastete weiter. Aus den Gasthäusern und Schänken drang bereits Musik und Stimmengewirr. Hefeyd sehnte sich nach einem warmen Plätzchen, den ganzen Tag über war er in der Kälte unterwegs gewesen. Fröstelnd schlug er einen schmalen Weg ein, der aus der Stadt heraus auf die Ebene neben dem Nairn, dem Großen Fluss, führte. Ein Hain von Eisbeerensträuchern tauchte aus dem Schneegestöber auf und Hefeyd hörte ein lautes Schmatzen. Sein Freund konnte nicht weit entfernt sein.

„Niall!“

„Hier bin ich.“

Nialls massiger Körper schälte sich aus den Schneeflocken. Er war groß für einen Flyr, er maß fast vierzig Fuß. Mit einer seiner beiden krallenbewehrten Hände, die als Verlängerung seiner Arme aus der Flügelhaut ragten, hielt er den Ast eines Strauches fest, während er mit der anderen die Beeren abrupfte und sie sich ins Maul steckte.

„Wir müssen los, mein Lieber.“

Niall ließ seine gewaltigen Schwingen flattern und senkte den langen Hals, um den ein mit Steigbügeln versehener Lederriemen lag. Hefeyd steckte seine Füße in die Steigbügel, zog sich auf den Nacken und kraulte den Flyr hinter den flauschigen Ohren.

Niall seufzte wohlig. „Wohin fliegen wir?“, nuschelte er mit vollem Mund und hob den Kopf.

„Ins Hallgebirge zum Wachturm von Aderyn. Dort soll das Feuer brennen.“

„In Aderyn?“ Niall breitete die Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. „Seltsam. Wer sollte sich zu dieser Zeit dort aufhalten?“

Brägan, schoss es Hefeyd durch den Kopf und ein Hauch von Hoffnung wehte ihn an. Das Gebirgstal um den alten Wachturm war schon lange nicht mehr bewohnt. Es hatte einst zum Königreich Armor gehört, das in den Alten Zeiten untergegangen war. Vor einigen Jahren war der Turm noch einmal von Aufständischen genutzt worden, die einen Angriff gegen den Fürsten geplant hatten, dann aber gescheitert waren. Nein, Brägan hatte dort sicherlich kein Feuer entfacht. Das wäre leichtsinnig, denn die Späher seines Vaters lauerten überall. Wenn im Wachturm wirklich Feuer brannte, musste es eine andere Erklärung geben.

Mittlerweile hatte sich Finsternis über das Land gelegt. Sie flogen durch einen Vorhang dichter Flocken und Hefeyd konnte nicht einmal bis zum Kopf des Flyres sehen. Er verließ sich auf Nialls Orientierungssinn und bat ihn, so dicht wie möglich über dem Boden zu fliegen, um die eisige Kälte in den höheren Luftschichten zu vermeiden. Der Flyr folgte zunächst dem Lauf des Nairn bis zum Dorf der Heilerinnen am Dinassee. Als sie es überflogen, fragte Hefeyd sich, was seine Mutter wohl gerade tat. Sie lebte im Dorf und arbeitete als Heilerin im Haus der Kranken. Wahrscheinlich sitzt sie mit Neala beim Abendessen, dachte er und fühlte gleichzeitig Hunger und Sehnsucht.

Der eisige Wind nahm zu und Hefeyd zitterte vor Kälte. Er zog den wehenden Umhang fester um sich und sprach leise die Worte des Zaubers. Sofort durchströmte ihn ein Gefühl der Wärme. Der Schneefall ließ ein wenig nach und die dunklen Umrisse der Ausläufer des Hallgebirges wurden sichtbar. Der Flyr schwang sich in größere Höhen, um den dunklen engen Schluchten zu entgehen, in denen der Wind heulte. Das Tosen der Stürme, das sich in den Tälern und Schluchten fing, sich durch Spalten und Höhlen drängte, an die steilen Berghänge brandete und von den schroffen Felswänden widerhallte, hatte dem Gebirge seinen Namen gegeben. Manchmal mischten sich Stimmen in einer fremden Sprache darunter, Schreie, Schlachtrufe und Klagelaute. Auch das Wiehern von Pferden, Kampfgetümmel und das Aufeinanderschlagen von Schwertern erschallte. Dort hatte sich in der Alten Zeit das Schicksal von Armor entschieden.

Durch den beginnenden Sturm zu fliegen war immer noch besser, als in die Festung zurückzukehren, dachte Hefeyd zornig, als seine Erinnerung zu dem Gespräch wanderte, das er am Morgen mit seinem Vater dort geführt hatte. Der hatte seine Verspätung kritisiert und gedroht, Niall auszumustern, da er zu langsam fliege.

Diese Worte gingen seinem Vater oft und leicht von den Lippen. Hefeyd wusste natürlich, dass die älteren Flyre auf die entlegene Insel Dughain an den Grenzen der Welt gebracht wurden, wo sie ihren Lebensabend verbrachten, doch war dieser Zeitpunkt für Niall noch lange nicht gekommen: Er war erst fünfhundertzwanzig Winter alt und immer noch schnell genug, schneller als manche jüngere Artgenossen. Hefeyd wusste um den wahren Grund für die Worte seines Vaters: die Freundschaft, die ihn mit Niall verband. In den Augen seines Vaters hatten Tiere keinen Wert und wurden mit unerbittlicher Härte behandelt. Dies erwartete er auch von seinem Sohn, doch Hefeyd war von anderer Gesinnung. Niall war sein Freund, außer Artan sein einziger wirklicher Freund seit Brägans Fortgang. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen. Noch nie hatte er sich einer Anweisung seines Vaters widersetzt, doch eine Trennung von Niall würde er nicht hinnehmen.

Ohne ein weiteres Wort über den Flyr zu verlieren, hatte sein Vater ihm den Auftrag gegeben, in Cyfor bei verschiedenen Kaufleuten Abgaben einzutreiben und die Schiffslisten zu prüfen. Damit war das Gespräch beendet gewesen.

„Was grämt dich, Hefeyd?“ Nialls Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Der Flyr drängte schon den ganzen Tag auf eine Erklärung.

„Mein Vater möchte dich nach Dughain bringen. Aus diesem Grund werden wir nicht mehr zur Festung zurückkehren.“ Diesen Entschluss hatte er während des Sprechens der Worte gefasst.

Der Flyr verlangsamte den Rhythmus seiner Flügelschläge und drehte den Kopf leicht nach hinten. „Wenn dein Vater dies so entschieden hat, werde ich dem nicht entgehen können. Ich kann mich nicht verstecken, er kennt jeden Winkel auf Thuroth und er würde mich finden. Du weißt, was das bedeutet. Denke nur an Fylu.“

„Ich werde nicht zulassen, dass er uns trennt. Ich habe meinem Vater stets treu gedient, obwohl das, was ich in den letzten Monaten über seine Arbeit erfahren habe, mein Herz mit Zweifeln gefüllt hat. Er ist einer der Mächtigsten der Duin Madainn und sollte seine Kräfte einsetzen, um Wohlstand und Zufriedenheit zu schaffen. Stattdessen versinkt Thuroth in Armut, Angst und Trostlosigkeit.“

Hefeyd fühlte, dass die Zeit gekommen war, um seinem Vater Fragen zu stellen, und dieser Gedanke ließ ihn schaudern. „Ich bin ihm treu geblieben, obwohl Brägan sich mit vielen anderen gegen ihn gestellt und mich um Unterstützung gebeten hat. Doch wenn mein Vater dich fortbringt, wird er mich verlieren.“

„Das sind starke Worte, mein Freund. Du weißt, dass er deinen Bruder töten will, wenn er ihn findet. So könnte es dir auch ergehen.“

„Sei unbesorgt. Niemals würde er Brägan etwas antun!“ Als sich sein Bruder nach Abschluss seiner Ausbildung offen gegen seinen Vater gestellt hatte, hatte dieser ihn zum Feind Thuroths erklärt und seine Magier ausgeschickt, um ihn gefangen zu nehmen. Seitdem war Brägan wie vom Erdboden verschluckt, doch sein Vater hatte die Suche nach ihm nie aufgegeben. Hefeyd und seine Mutter Siana hatten Brägan seit vier Wintern nicht mehr gesehen, er schickte lediglich ab und zu eine Kurierlibelle, um ihnen mitzuteilen, dass es ihm gut ging. Es wurde gemunkelt, dass er sich mit seinen Anhängern ins Hallgebirge zurückgezogen hatte.

Ausgerechnet über dem Nebeltal erfasste eine Windbö Niall und drückte ihn zur Seite. Der Sturm hatte an Kraft zugelegt und drohte sie gegen einen der unsichtbaren Berghänge zu schleudern. Sein Tosen wuchs zu einem unerträglichen Dröhnen und Hefeyd hielt sich die Ohren zu, um die darin wirbelnden Stimmen nicht zu hören.

„Ich kann nicht weiterfliegen!“, brüllte Niall.

Im Tal wollte Hefeyd nicht landen, er wusste um die Wirkung des Nebels. Er sah hinab und erahnte durch die Nebelfetzen den Fluss, der sich unter ihnen dunkel durch den Abgrund schlängelte.

„Überflieg das Nebeltal und lass uns am Ufer des Songran landen. Es gibt dort Höhlen, in denen wir Unterschlupf finden können.“

Nialls Flügel rauschten kraftvoll durch den Sturm, während ihn immer wieder Böen ergriffen und zur Seite wirbelten. Eine Felswand tauchte plötzlich aus den Schwaden auf, der Niall nur durch eine abrupte Drehung ausweichen konnte, die Hefeyd fast abgeworfen hätte. Endlich lag das Nebeltal hinter ihnen, der Flyr legte die Flügel an, schoss in die Tiefe und setzte neben dem Fluss auf den verschneiten Resten einer Straße auf, deren Pflastersteine nun zerbröckelt und verwittert waren, und die von verfallenen Lichthäuschen gesäumt war. Die alte Handelsstraße von Armor. Vor den Berghängen standen die dunklen Umrisse von Ruinen aus dickem Gestein, zerfallene Wände und zerbrochene Säulen, überwuchert von Efeu, das wie Finger aus dem Schnee ragte. Überbleibsel der Rasthäuser und Ställe.

Sie stapften auf den nächstgelegenen Berghang zu und fanden eine Höhle, die jedoch so niedrig war, dass Niall sich nicht an die Decke hängen konnte. So lehnte er sich an die Felswand und legte seine Flügel um Hefeyd, der sofort in einen tiefen Schlaf fiel.

Die verborgenen Inseln

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