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2. Zeit der Schatten

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„Jo! Jo!“

Die Stimme ihres Bruders drang wie durch Watte zu ihr. Sie schlug die Augen auf und blickte in sein verärgertes Gesicht.

„Hast du den Verstand verloren? Wieso musst du dich in einem solchen Sturm bei den Klippen herumtreiben?“

Sie blinzelte.

„Seit Stunden bin ich auf der Suche nach dir und habe fast jede dieser verdammten Höhlen abgeklappert.“ Er holte tief Luft. „Und ausgerechnet hier muss ich dich finden.“

Jo musterte ihren Bruder. Wenn er wütend war, färbte sich das rechte Ohr dunkelrot und seine buschigen, dunklen Augenbrauen zogen sich so weit zusammen, dass sie einen breiten Balken bildeten.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Klar, dachte sie. „Wie bist du hier hineingekommen?“

Motz verzog das Gesicht. „Wie schon?“ Er streckte seinen Arm aus.

Jos Augen folgten der angezeigten Richtung und starrten auf einen breiten Spalt in der Felswand, durch den Tageslicht und das Rauschen der Brandung in die Höhle drangen.

Hmm.

„Es ist schon schwer genug zu verstehen, dass du nachts die Höhlen aufsuchst, um zu singen, statt dich wie jedes andere normale Mädchen mit Freunden zu treffen und Spaß zu haben, aber dass du bei diesem Wetter das Haus verlassen hast, das ist doch ...“ Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

Jo presste die Lippen aufeinander.

„Du solltest dir helfen lassen.“

Ihr Kopf fuhr herum, ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Warum kannst du mich nicht so nehmen, wie ich bin?“

Motz ging vor ihr in die Hocke und legte seine Hände auf ihre Schultern. „Weil ich mir Sorgen um dich mache.“ Er hielt kurz inne. Seine Stimme klang sanft, als er fortfuhr: „Du tust solch merkwürdige Dinge, Jo. So wie gestern, als du Marie erzählt hast, sie habe nicht mehr lange zu leben. Sie ist seitdem völlig verstört.“

„Du weißt, dass meine Vorhersagen stimmen.“

„Ach Jo!“ Er zog seine Hände zurück und richtete sich auf.

„Du weißt es.“

Er schüttelte den Kopf und warf ihr einen Blick zu, in dem sich Ärger und Kummer die Waage hielten. Eine Weile sprach keiner von beiden ein Wort.

„Komm schon. Großmutter ist außer sich vor Sorge.“

Jo stopfte das Buch und die Taschenlampe in ihre Jacke und erhob sich. Vor Erschöpfung wankend folgte sie ihrem Bruder aus der Höhle hinaus ins Freie. Feiner Morgendunst hing über dem Strand und dem türkisfarbenen Wasser, das sich weit zurückgezogen hatte. Ein kühler Wind wehte die Gerüche nach Salz, Algen und Vergänglichkeit herbei. Sie legte den Kopf in den Nacken. Die Sturmwolken der Nacht waren abgezogen, über ihr strahlte das tiefe Blau eines schönen Herbstmorgens.

Als sie noch einmal zurückschaute, erkannte sie, wo sie die Nacht verbracht hatte, und seufzte leise. Motz und sie hatten Großmutter vor vielen Jahren das Versprechen geben müssen, diese Höhle niemals zu betreten.

Schweigend hinkte sie neben Motz den bodennebligen Dünenpfad entlang, der zwischen den Klippen hindurch vom Strand ins Dorf führte. Endlich erreichten sie die vor dem Haus wuchernden Hortensienhecken, deren von Tau getränkte Blüten rosa-violett in der Sonne schimmerten. Sie erklommen die alten Steinstufen und schoben die schwere Haustüre auf.

Großmutter schoss aus der Küche in den Flur. „Gott sei Dank!“ Sie schlang die Arme um ihre Enkelin und drückte sie an sich.

Jo schwieg.

„Du bist ja ganz klamm.“ Sie löste die Umarmung. „Eine heiße Dusche wird dir guttun.“

Jo nickte dankbar, stieg die knarrenden Holzstiegen empor und betrat das Bad. Während sie sich auszog, fiel ihr Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Ihr Gesicht war blass, selbst ihre dunkelgrünen Augen hatten ihre kräftige Farbe verloren. Die Piercings an Augenbrauen und Nase schimmerten matt. Ihre schulterlangen rotbraunen Locken, die normalerweise in alle Richtungen standen und sich nicht bändigen ließen, klebten an Kopf und Nacken. Sie verzog den Mund und wandte sich ab.

Nach dem Duschen ging sie in ihr Zimmer, holte das Buch hervor und kuschelte sich ins Bett. Ein leichter Wind wehte durch das Fenster hinein und legte sich auf ihr feuchtes Haar. Fröstelnd schlug sie das Buch auf.

Myrek zuckte mit der Flügelspitze. „Der Bergspringer und der Südländer machen mir keine Sorgen. Wie stark ist diese Tulag?“

Nisko spreizte die Schwingen. „Es ist Mell, die Tochter von Karg. Man sagt, sie sei mächtiger als ihr Vater.“

„Kennst du ihre Pläne?“

„Noch nicht.“ Nisko legte die Ohren an. „Ist sie die Frau aus der Prophezeiung?“

Myrek stieß einen zischenden Laut aus. „Wie oft muss ich es dir noch sagen: Diese Prophezeiung ist hilfloses Gerede eines Sehers der Südnomaden.“

„Er war der Seher des Königs“, wandte Nisko ein.

„Ja, leider, sonst hätte niemand seinen Worten Beachtung geschenkt. Kümmere dich um Mell.“

Myrek breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft.

Ein entfernter Donner kündigte ein Gewitter an. Blinzelnd huschten Jos Augen über die letzten Zeilen des Kapitels.

Mell keuchte vor Erschöpfung. Das Haar hing ihr in wirren Strähnen ins bleiche Gesicht. Seit Wochen schwanden ihre Kräfte, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Auch die Heiler waren machtlos, und eine dunkle Ahnung beschlich Mell, dass ihre Schwäche nicht natürlichen Ursprungs sein könnte. Doch seit wann verfügte Myrek über Zauberkräfte? Sie hörte Logs Schritte und richtete sich auf. In seinen Augen sah sie, dass er keinen Erfolg gehabt hatte.

„Ich brauche deine Hilfe, Mell.“ Er reichte ihr die Hand und zog sie hoch. „Was ist denn nur mit dir?“

Ich sterbe, dachte sie.

Jo erhob sich und humpelte zum Fenster. Dunkle Wolken waren über dem Meer aufgezogen und schickten Blitze wie zittrige gelbe Finger auf das Wasser hinab. Weit entfernt rollten Donner heran.

Sie wandte sich ab, trat an den kleinen Schreibtisch und nahm von einem Stapel Papier das oberste Blatt in die Hand. Zahllose Noten tanzten darüber, ohne Notenlinien und scheinbar zusammenhanglos. Zufrieden lächelnd fuhr Jo sich durch die Locken, während sie der Melodie in ihrem Kopf lauschte. Leise und tief, ein stiller See, fauchend und wild, ein reißender Fluss, warm und zart, ein Sommerhauch, kalt und silberfrostig, ein Winterlicht.

Ein Donner knallte, die Musik verstummte. Das Blatt Papier fand seinen Weg zurück auf den Stapel.

Sie legte sich wieder auf das Bett und starrte gegen die Zimmerdecke, während ihre Gedanken zu ihrem Bruder wanderten. Glaubte er tatsächlich, was er in der Höhle zu ihr gesagt hatte? Gab es denn außer Großmutter niemanden, der zu verstehen suchte, was in ihr vorging?

Jeder ist für sich allein, sagte die vertraute Stimme.

Jo machte eine wegwerfende Handbewegung. Es spielte keine Rolle mehr, was Motz von ihr hielt. Nach den Ferien ging er mit seinem Freund Luc zum Studium nach Paris, während sie zu ihren Eltern nach Berlin zurückkehrte. Sie würden sich nicht mehr oft sehen. Langsam fielen ihre Augenlider zu und sie versank im Schlaf.

Als sie erwachte, war das Gewitter abgezogen. Kalte, feuchte Luft drängte durch das Fenster in den Raum. Jo presste die Bettdecke an sich und wandte sich wieder dem Buch zu. Stunden später blätterte sie die letzte Seite um.

Mell beobachtete die Schlacht von einem entfernten Hügel aus. Sie hatte sich von Log an einen Baum binden lassen, da sie vor Schwäche nicht mehr stehen konnte. Immer wieder fielen ihr die Augen zu und bald gab sie es auf, sie wieder zu öffnen. Sie hatte genug gesehen. Die Armee der Fledermäuse hatte die Streitkräfte der Menschen zur Küste zurückgedrängt und auch die letzten Gebiete des Lichts in tiefe Finsternis gehüllt. Mell hatte versagt, doch sie war zu erschöpft, um Bedauern zu empfinden.

Als Log zu ihr zurückkehrte, war sie bereits tot.

Sie wurde in der letzten Stadt der Menschen beigesetzt. Am dritten Tag der Totenwache kamen die Fledermäuse.

Die Zeit der Menschen war vorüber.

Jo schlug das Buch zu und betrachtete es nachdenklich. Warum hatte sich jemand die Mühe gemacht, es vor der Welt zu verstecken und in der Höhle einzumauern?

Das Bild der Höhle erschien vor ihrem inneren Auge. Es hatte in der Nacht keine Möglichkeit gegeben, sie zu verlassen. Da war Jo sich ganz sicher. Sie hatte das Buch finden sollen.

Aber aus welchem Grund?

Die verborgenen Inseln

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