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5 Die Suche

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Morfans schlanke Gestalt stand regungslos am offenen Fenster. Seine dunklen Augen waren auf die schneebedeckten Berge im Norden gerichtet und folgten langsam dem Verlauf des Gebirges in Richtung Westen, wo es sich im Dunst verlor. Die untergehende Sonne tauchte die verschneite Landschaft in ein silbriges Licht. Erst als die Dunkelheit begann, ihre Finger auszustrecken, schlug Morfan die Augen nieder und schloss das Fenster. Er wandte sich um und durchschritt langsam den Raum, der das oberste Stockwerk des vorderen westlichen Turms der Festung einnahm. Im großen Kamin neben der Türe brannte ein Feuer, das keine Wärme schenkte. Morfan setzte sich an seinen mit Schriftrollen und Pergamentbögen bedeckten Schreibtisch vor dem Fenster und schaute auf den Nairn und den Hafen von Dùn Righ.

Es war nicht mehr viel Betrieb auf dem großen Fluss, die letzten Handelsschiffe liefen gerade in das Hafenbecken ein und wurden an den Pollern vertäut. Die Seeleute sahen zu, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit den sicheren Hafen erreichten, denn der Nairn hatte seine Tücken und forderte schon tagsüber ihr gesamtes Können. Nachts wollte es niemand mit ihm aufnehmen. Morfan zählte fünfzehn Dreimaster, vier Zweimaster und einige kleinere Schiffe. Die Geschäfte liefen gut. Am nächsten Tag würden die Schiffe – beladen mit dem kostbaren Seegras aus dem Osten – ihre Heimreise zu den anderen Inseln antreten. Die Ernte war so gut ausgefallen wie schon lange nicht mehr und Morfan hatte entschieden, dass die Seegrasbauern in diesem Jahr die Hälfte ihrer Einnahmen an den Fürsten von Thuroth abzugeben hatten.

Einer der Dreimaster schimmerte in der Abendsonne wie frisch poliert. Das Schiff war aus dem glänzenden Gweneder Palianholz gebaut, das besondere Langlebigkeit verlieh und nur schwer zerbarst. Eine gewaltige Galionsfigur zierte den Bug und die Masten und Rahen erschienen in der Dämmerung wie Baumstämme und Geäst. Morfan strich sich stirnrunzelnd über den langen grauen Bart. Schiffe aus Gwened sah man in Dùn Righ nur noch selten. Im größten Hafen von Thuroth, in Cyfor, lagen sie im Gegensatz zu früheren Zeiten gar nicht mehr vor Anker. Sie liefen Thuroth nur noch wegen des Seegrases an und Morfan fragte sich, aus welchem Grund sie ihren Bedarf an Weizen, Gemüse und Fleisch nicht mehr hier, sondern auf den kleineren Inseln deckten.

Er wandte sich den vor ihm liegenden Papieren zu, die er im Schein der Talglampe durchblätterte und an einigen Stellen mit Notizen versah. Es klopfte. Er legte die Feder zur Seite und seine hohe Stirn legte sich in Falten.

„Herein!“

Ein kleiner Mann mit eng zusammenstehenden Augen und dichten Brauen betrat den Raum und schloss die Türe hinter sich. Sein Gesicht war schmal und blass und seine Augen bewegten sich unruhig hin und her. Er eilte auf Morfan zu und wäre dabei fast über seinen grauen Umhang gestolpert und auf den Holzboden gestürzt. Morfan musterte ihn ungeduldig.

„Saraid, was gibt es denn?“

Der Mann verneigte sich kurz. „Bitte verzeih, dass ich dich störe, aber im Hof ist eine Abordnung der Seegrasbauern, die mit dir über die gestiegenen Abgaben sprechen möchte.“

Morfans Augen funkelten. „Da gibt es nichts zu besprechen.“

Saraid fuhr sich durch die wenigen Haare, die ihm noch geblieben waren. „Sie wollen nicht bezahlen.“

Morfan kniff die Augen zusammen und presste seine schmalen Lippen aufeinander. „Erst die Minenarbeiter, jetzt die Seegrasbauern. Was ist nur mit den Bewohnern dieser Insel los, Saraid? Denken sie, sie könnten mit mir feilschen?“ Leise und drohend verließen die Worte seinen Mund. „Vielleicht war ich zu nachsichtig.“ Nachdenklich klopfte er mit seinen langgliedrigen Fingern auf das vor ihm liegende Pergament. Die Seegrasernte war eingebracht und in den nächsten zwei Monaten hatten die Seegrasbauern nicht viel zu tun.

„Ein längerer Aufenthalt in der Festung wird ihnen guttun. Nur einer von ihnen soll in ihr Dorf zurückkehren.“

Saraid lächelte. „Wie du wünschst.“ Er verneigte sich erneut und verließ das Zimmer noch hastiger, als er es betreten hatte.

Morfan lehnte sich zurück. Er sah auf einmal sehr müde aus.

Am folgenden Samstag machten sich Jo, Luc und Motz mit dem Auto auf den Weg nach Paris. Manù hatte sich am Telefon bereit erklärt, bei der Suche nach den Aufzeichnungen ihres Großvaters zu helfen, und angeboten, die drei bei sich wohnen zu lassen.

Vor der Abfahrt hatte Jo ausgiebig im Internet nach Mexx geforscht und war auf einen Eintrag über einen Heiler namens Mexx Manuèl gestoßen, der im Jahre 1850 in der Rue de Rivoli in Paris gelebt und es mit seinen Künsten zu großem Ansehen und erheblichem Reichtum gebracht hatte. Vermutlich ein Vorfahr von Mexx, da sowohl Name als auch Adresse übereinstimmten. Leider gab es keinen Hinweis darauf, woher er stammte. Unter dem Begriff Thuroth fand Jo nur eine Webseite über ein Computerspiel. Von einer Insel dieses Namens gab es im Netz keine Spur. Wahrscheinlich hatte Mexx sie erfunden, um seinen wirklichen Herkunftsort nicht preiszugeben.

Sie lauschte dem auf das Autodach trommelnden Regen und musterte Luc, der vor ihr auf dem Beifahrersitz saß. Wie Motz war er groß und kräftig, doch seine blonden, kurzen Haare und das lebhafte Hellblau seiner Augen bildeten einen starken Kontrast zu der dunklen Mähne und den braunen Augen ihres Bruders. Luc hatte nie erzählt, woher die breite Narbe stammte, die sich von seiner linken Schläfe bis zur Wange zog und ihm einen nahezu finsteren Ausdruck verlieh. Selbst Motz wusste es nicht, obwohl die beiden seit ihrer Kindheit miteinander befreundet waren. Vermutlich hatte Luc sie sich, wie auch die noch nicht verheilte Verletzung an seinem Unterarm, beim Schwertkampf zugezogen, den er seit vielen Jahren praktizierte.

Trotz des starken Regens kamen die drei gut durch und erreichten Paris gegen Mittag. Der Boulevard Mesnilmontant war leicht zu finden und bald standen sie vor einem schmalen, zweigeschossigen Haus aus grauem Stein, in dem sich vor vielen Jahren Mádos Praxis befunden hatte. An der Fassade prangte ein ovales Schild aus blauer Emaille mit goldener Schrift: Manù Feu – Lebenshilfe – Wahrsagerei. Motz klingelte und kurz darauf öffnete eine große, schlanke Frau in Jeans und T-Shirt die Tür.

„Willkommen“, sagte sie lächelnd und bat Jo, Motz und Luc mit einer Handbewegung ins Haus. Jo musterte Mádos Enkelin neugierig. Kurze, schwarze Haare krönten ein längliches Gesicht mit von dünnen Falten umrandeten Augen und schmalen Lippen. Sie machte einen jugendlichen Eindruck, doch Jo wusste von der Großmutter, dass sie fast vierzig war.

Manù schloss die Haustür hinter ihnen und verschwand mit den Worten „Stellt euer Gepäck einfach irgendwo ab“ in einem Raum zur Linken, aus dem kurz darauf das Klappern von Geschirr erklang.

Leichter gesagt als getan, dachte Jo, während sie ihren Blick über die den Flur füllenden Regale, Tischchen und Hocker gleiten ließ, die vor Büchern, Heften, Broschüren, Papieren und Landkarten überquollen. Die Magie der Kelten, Das Handbuch der Runen, Zukunftsdeutung, Zeitreisen las sie auf einigen der Buchrücken. Sie quetschte ihren Rucksack zwischen einen vom Fußboden bis zu ihrer Hüfte reichenden Stapel Bücher und eine Truhe mit Folianten und folgte dem Geruch von frisch gebackenem Brot und Basilikum in die Küche, wo Manù gerade eine Schüssel mit Nudeln auf den Tisch stellte, der mit Tellern, Besteck, Gläsern und einer Karaffe mit Wasser gedeckt war.

„Setzt euch und greift zu.“

Sie nahmen Platz, nachdem sie sich vorgestellt und die Stühle von Büchern und Zeitschriften befreit hatten.

Manù lächelte schief. „Ich komme einfach nicht dazu, aufzuräumen.“

Sie machte einen freundlichen Eindruck, doch war in ihren Augen etwas, was nicht dazu passen wollte. Sie waren dunkel und unergründlich und erschienen Jo seltsam fremd.

„Ich habe schon mit der Suche begonnen, doch noch nichts gefunden. Aber acht Augen sehen ja bekanntlich mehr als zwei“, sagte Manù, ergriff die Karaffe und begann, die Gläser zu füllen.

Luc sah fragend in die Runde. „Gibt es etwas, das ich wissen müsste?“

Mádos Enkelin hielt inne, legte die Stirn in Falten und warf Jo einen erstaunten Blick zu.

„Wir haben Luc nicht eingeweiht.“

Manùs Gesicht verdüsterte sich. „Warum nicht?“

Weil er den Fluch genauso wenig ernst nehmen wird wie Motz. Weil …

„Weil das alles Unsinn ist!“, platzte es aus ihrem Bruder heraus. „Hirngespinste einer alten Hexe!“ Er schnaufte und sein rechtes Ohr färbte sich dunkelrot. „Unsere Urgroßmutter ist an einer Krankheit gestorben, nicht an einem Fluch. Ein verfluchtes Buch! Pah!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung, griff nach seinem Glas und leerte es in einem Zug.

Ein kurzes heftiges Funkelntrat in Manùs Augen. „Ich hoffe für deine Schwester, dass du deine Meinung noch änderst.“

Motz schüttelte entnervt den Kopf und verdrehte die Augen. Es war ihm anzumerken, dass es ihn große Mühe kostete, nicht aufzuspringen und den Tisch zu verlassen.

Einen Augenblick lang sprach niemand. Regentropfen klopften an die Fensterscheibe, durch die Jo sah, wie sich auf der anderen Straßenseite die Wipfel der Bäume des Père Lachaise im Wind wiegten.

Luc räusperte sich. „Interessantes Gespräch.“

Motz seufzte und warf seinem Freund einen Blick zu, als wolle er sich für das, was er jetzt sagen würde, entschuldigen. Dann erzählte er Judiths Geschichte. „Ich habe meinen Großeltern versprechen müssen, bei der Suche nach Mádos Manuskript zu helfen“, fügte er abschließend hinzu.

Wie Jo erwartet hatte, grinste Luc breit, als Motz geendet hatte.

„Hmm … das ist doch mal was anderes. Ich bin dabei!“

Sie kniff die Augen zusammen. „Das ist kein Spiel, Luc.“

Er drehte sich zu ihr, mit ernstem Blick. „Woher willst du das wissen?“

Sie wandte sich ab.

Nachdem Jo, Luc und Motz ihr Gepäck im Obergeschoss verstaut hatten, zeigte Manù ihnen das Haus. Es schien fast nur aus Büchern zu bestehen. In endlosen Reihen standen sie in den Regalen, auf dem Boden waren sie zu waghalsigen Türmen gestapelt, in Truhen und Kisten lagen sie scheinbar wahllos aufeinandergehäuft.

Den vieren war klar, dass Mexx die Aufzeichnungen – aus welchen Gründen auch immer – vor oder nach Mádos Verschwinden entwendet haben konnte. Es war genauso gut möglich, dass Mádo sie außerhalb des Hauses versteckt hatte. Schließlich hatte Judith ihn unmittelbar nach ihrem letzten Besuch mit einer Tasche aus dem Haus gehen sehen. Dennoch wollten sie im Haus mit der Suche beginnen.

Sie nahmen sich zunächst den Keller vor und untersuchten jedes Buch, jedes Blatt Papier und jeden Bogen Pergament. Ohne Erfolg. Sie klopften die Wände und den Fußboden ab, nahmen Maß und verglichen die Ergebnisse mit den auf den Karten eingezeichneten Grundrissen, doch sie konnten keine Abweichung feststellen. Es schien keine geheime Kammer zu geben. Nach einigen Stunden beendeten sie die Suche für diesen Tag.

„Was haltet ihr von Manù?“, fragte Luc, als er mit Jo und Motz nach dem Abendessen die Treppe ins Obergeschoss erklomm.

„Welcher vernünftige Mensch beschäftigt sich schon mit Wahrsagerei und Kartenlegen? Das mit dem Fluch hat sie natürlich auch sofort geglaubt“, sagte Motz abschätzig und drückte die Klinke zu seinem Zimmer herunter.

Jo runzelte die Stirn.

„Ich kann nur hoffen, dass wir diese Aufzeichnungen bald finden und den ganzen Unsinn vergessen können. Schließlich wollen wir unsere Zeit in Paris doch wohl anders nutzen.“ Er zwinkerte seinem Freund zu.

„Dagegen hätte ich nichts einzuwenden.“ Lucs Augen glänzten. „Wollen wir noch etwas trinken gehen?“

Motz winkte ab und Jo schüttelte den Kopf. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und sehnte sich nach ihren Betten.

Jos Zimmer lag zur Straße hin und sie konnte von ihrem Fenster aus auf den Père Lachaise blicken. Sie öffnete das Fenster, lehnte sich gegen den Rahmen und zündete sich eine Zigarette an. Der Wind hatte nachgelassen und die Bäume standen reglos über den vom Licht der Laternen gelb getönten Grabsteinen und Grüften. Dort lag Judiths erstes Kind. Eine Gänsehaut überzog Jos Arme, sie schnippte die Zigarettenkippe auf die Straße, wandte sich ab und legte sich ins Bett.

Als Luc und Motz am nächsten Morgen das Haus verließen, um eine Wohnung zu besichtigen, begab sich Jo auf den Friedhof. Sie wollte das Grab von Judiths Erstgeborener besuchen. Mit Manù vereinbarte sie, dass sie die Suche nach den Aufzeichnungen später fortsetzen würden. Der Regen hatte aufgehört, Sonnenstrahlen fanden ihren Weg zwischen den Wolken hindurch und ließen die nassen Grabsteine glitzern. Jo schritt durch die breiten Alleen, über die mächtige alte Bäume schützend ihre Äste hielten, und betrachtete die mit großem künstlerischen Aufwand gefertigten Grabsteine und Grüfte am Wegesrand. Großmutter hatte ihr erklärt, wo das Grab lag, sodass Jo keine Schwierigkeiten hatte, es zu finden.

Es war klein und unscheinbar. Kein Baum und keine Blumen schmückten es, nur ein kleiner Grabstein stand in seiner Mitte, der die Inschrift Simone Moreau – geb. und gest. 20.02.1937 – warum? trug. Jo presste die Lippen aufeinander. Ihre Urgroßmutter hatte viel ertragen müssen. Sie ging in die Hocke und strich vorsichtig mit den Fingern das Moos vom Grabstein, das sich dort festgesetzt hatte. Wie traurig, dass sich niemand mehr um das Grab kümmerte.

Mádo, schoss es Jo durch den Kopf. Melinda hatte doch erzählt, das er hier regelmäßig das Grab seiner Frau in der Familiengruft besucht hatte. Sie sprang auf und steuerte auf einen Gräberplan zu, der an der Friedhofsmauer befestigt war, als sie wie vom Schlag getroffen stehen blieb. Dann fing sie an zu rennen, kam erst vor Mádos Haus zum Stehen und klingelte Sturm. Manù riss die Türe auf.

„Hat Marcel damals in eurer Familiengruft nach dem Manuskript gesucht?“

Manù starrte sie an und fuhr sich mit den Fingern über die kurzen Haare. „Soweit ich weiß, nicht“, sagte sie zögernd und schüttelte den Kopf.

Kurz darauf hastete Jo, ihren schmerzenden Knöchel ignorierend, hinter Manù auf den Friedhof zurück. Die Familiengruft der Feus lag versteckt zwischen einer alten Eiche und einer Ligusterhecke an einem kleinen Querweg. Zwei graue, etwa zweieinhalb Meter große Engel aus Stein bewachten mit finsteren Mienen ein schmiedeeisernes Tor, hinter dem eine Treppe in die Tiefe führte. Jo warf einen Blick hinunter, spürte einen eisigen Hauch und fröstelte trotz der Wärme des Herbsttages. Manù schob sie sanft beiseite, zog einen großen Schlüssel hervor und öffnete das Tor.

Langsam stiegen sie in die kalte Dunkelheit hinab. Die Treppe mündete vor einer weiteren Tür, die Manù mit demselben Schlüssel öffnete. Muffiger Geruch schlug ihnen entgegen, als sie den dahinterliegenden Raum betraten. Manù betätigte einen Schalter an der Wand und das schwache Licht von drei von der Decke baumelnden Glühbirnen enthüllte in die Seitenwände eingelassene Nischen, in denen steinerne Sarkophage standen.

„Wo liegt deine Großmutter?“, fragte Jo leise.

Manù trat auf die untere Nische am Ende der rechten Wand zu und ließ ihre Hände über den Deckel des dort liegenden Sarkophages gleiten.

„Du willst ihn öffnen“, stellte Jo fest und spürte ein leichtes Unbehagen. Sie hatte keine Angst vor den Toten – alles Böse ging von den Lebenden aus, die Toten waren friedlich –, doch sie fühlte sich nicht wohl dabei, ihre Ruhe zu stören. Gemeinsam hoben die beiden Frauen den Deckel des Sarges an und erstarrten.

Der Sarkophag war bis auf einen gewaltigen Stapel Papier leer.

Manù sog scharf die Luft ein und machte Jo ein Zeichen, den Deckel wieder abzulegen. Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Gruft. Jo humpelte schweigend hinter ihr zum Haus zurück.

Am Nachmittag füllten sie gemeinsam mit Motz und Luc die Papiere aus dem Sarkophag in zwei große Reisetaschen und trugen diese ins Haus. Luc schlug vor, auch die anderen Särge zu öffnen, doch Manù wollte davon nichts wissen. „Wir schauen uns zunächst an, was wir gefunden haben.“

Manù verschwand in der Küche, um Tee zu kochen, während Motz und Luc den Inhalt der Taschen auf dem Wohnzimmerteppich ausbreiteten. Jo spürte, dass das leere Grab Manù sehr mitgenommen hatte. Wo mochte der Leichnam ihrer Großmutter abgeblieben sein? In einem der anderen Sarkophage? Kopfschüttelnd setzte sie sich auf den Boden und wandte sich den vor ihr liegenden Schriftstücken zu, die von farbigen Bändern zusammengehalten wurden. Die Seiten waren vergilbt, einige schimmelig und fleckig, andere zerrissen. Es gab uralt erscheinendes Pergament, das bei der Berührung zu zerfallen drohte, Bütten, dickes Papier mit Briefköpfen einer Gesellschaft für magische Heilkunst und dünne Seiten, durch die man fast hindurchsehen konnte. Die Texte waren alle in derselben Handschrift verfasst worden, mal mit breiter Feder und deutlich, mal mit schmalem Federstrich, krakelig und kaum zu entziffern.

Jo tauchte mehr und mehr in Mádos Welt ein. Sie las von Heilpflanzen und Kräutern, deren Namen sie noch nie gehört hatte, von Sammel- und Heilritualen, vom Einfluss der Jahreszeiten und des Mondkalenders auf die Heilung von Krankheiten. Sie entdeckte Rezepte für Zaubertränke und Salben und Anleitungen zu magischen Heiltänzen und Gesängen. Als sich das Tageslicht aus dem Raum stahl und Manù die Lampen anmachte, sah sie das erste Mal auf und spürte, wie müde sie war. Sie verzichtete auf das Abendessen, ging zu Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen machten sich Luc und Motz zu einem weiteren Besichtigungstermin auf, während Jo sich mit ihrer Gastgeberin ins Wohnzimmer begab und erneut den Schriftstücken aus der Gruft widmete. Nach einer Weile warf sie einen verstohlenen Blick zu Manù hinüber, die sich in den Sessel vor dem Kamin zurückgezogen hatte und mit gerunzelter Stirn einen Bogen Pergament studierte. Mádos Enkelin hatte sich ihr gegenüber bisher freundlich und hilfsbereit gezeigt, doch Jo spürte noch etwas anderes, Dunkles, Verborgenes, das ihre Neugier weckte.

„Auf deinem Praxisschild steht Lebenshilfe und Wahrsagerei. Was machst du genau?“, fragte sie, während sie ihren Knöchel massierte, der seit dem Ausflug auf den Friedhof schmerzte.

Manù sah auf und ließ die Hand mit dem Pergament langsam in ihren Schoß sinken. „Ich lege Tarotkarten, befrage die Glaskugel und lese aus der Hand, damit meine Kunden ihre gegenwärtige Situation klarer sehen. Ich sage auch zukünftige Ereignisse voraus, wenn sie dies wünschen.“

„Auch den Tod?“

Die Wahrsagerin hob die Augenbrauen. „Nein.“

Jo zögerte. Dann erzählte sie von ihrer Fähigkeit, den baldigen Tod in den Augen der Menschen zu erkennen. „Ich sage, was ich sehe.“

„Warum?“

„Warum? Weil derjenige dann weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt. So kann er all das, was ihm wichtig ist, noch tun.“

Manù schüttelte leicht den Kopf. „Aber er hat keine Hoffnung mehr. Angst wird ihren Platz einnehmen und seine Seele verschlingen. Das ist grausam.“ Sie musterte Jo mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.

Jo blinzelte verwirrt und senkte den Blick. Sie hat recht, sagte die Stimme in ihrem Kopf. Hoffst du nicht auch, dass der Fluch nur ein Hirngespinst von Melinda ist? Wie würdest du dich fühlen, wenn du wüsstest, dass dir der Tod gewiss ist?

Keine Ahnung.

Tsss, machte die Stimme. Das glaube ich dir nicht.

Jo schüttelte das Unbehagen ab, das sich auf ihre Schultern gelegt hatte, erhob sich, trat ans Fenster und sah auf den Boulevard hinaus. Menschen hasteten mit hochgeschlagenen Kragen und mürrischen Gesichtern durch den Herbstregen, jeder mit seinem eigenen Schicksal, jeder mit seinen eigenen Ängsten und Hoffnungen.

„Beschäftigst du dich auch mit Magie?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln, und wandte sich vom Fenster ab.

Manù nickte. „Viele der Bücher im Haus stammen aus der Zeit, als mein Großvater noch hier lebte. Ich stieß auf uralte Schwarten mit Heilzaubern und begann, mit den Formeln zu experimentieren. Leider bin ich noch nicht sehr erfolgreich.“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und seufzte. „Wäre es nicht wunderbar, die Macht zu besitzen, Krankheiten und Elend mit Magie zu besiegen?“ Ihr Blick verlor sich in dem auf dem Boden liegenden Wust von Papier. „Man würde wirklich etwas bewirken“, fügte sie leise hinzu.

Jo schwieg und musterte Mádos Enkelin, die mit ihren Gedanken weit weg zu sein schien. Sie verließ das Zimmer und durchquerte den Flur, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Die Tür zu Manùs Sprechzimmer stand offen und Jo spähte hinein. Bücher nahmen jeden verfügbaren Platz in den hohen Wandregalen, auf dem Couchtisch, dem Sofa und dem Sessel vor dem Kaminofen ein. Lediglich der runde Tisch in der Mitte des Raumes und die beiden davorstehenden Stühle waren bücherfrei. Jo schlenderte zu den Regalen. Wie konnte ein Mensch nur so viele Bücher besitzen? Das übertraf selbst Melindas Bibliothek bei Weitem. Sie ließ die Finger über die Buchrücken gleiten, zog den einen oder anderen Band heraus, der sich mit Magie und Zauberei befasste, und blätterte darin, fand aber auf die Schnelle nichts über Flüche. Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte sich ab.

Auf dem Sessel vor dem Kamin fiel ihr ein dickes Buch ins Auge. Der blaue Einband war beschädigt und verschmutzt und trug keinen Titel. Jo nahm es in die Hand und schlug es auf. Die Seiten waren vergilbt und mit handschriftlichen Anmerkungen versehen. Sie kannte die Sprache nicht und war in gewisser Weise froh, dass sie die Zeilen nicht verstand, wenn sie daran dachte, was passiert war, als sie das letzte Mal ein Buch gelesen hatte. So wie die Worte gesetzt waren, schien es sich um Gedichte zu handeln. Sie blätterte zur ersten Seite zurück, fand jedoch weder Titel noch Erscheinungsdatum, Autor oder Verlag. Nur ein handschriftlicher Vermerk zierte die Seite: Für Mádo 1930.

Merkwürdig, dachte sie und drehte das Buch in ihren Händen.

Ein Geräusch ließ sie aufblicken. Manù stand auf der Türschwelle, ihre dunklen Augen schienen zu funkeln und ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Jo klappte das Buch zu, legte es auf den Sessel zurück und ging wortlos aus dem Zimmer. Sie hörte, wie die Tür hinter ihr zugezogen und abgeschlossen wurde. Als Manù sich später wieder zu ihr ins Wohnzimmer gesellte, erwähnte sie das Buch nicht und gab sich, als wäre nichts geschehen.

„Ich habe gestern Nacht versucht, in deine Zukunft zu schauen, doch es ist mir nicht gelungen.“

Jo zog die Augenbrauen hoch. „Du konntest nicht sehen, ob das Buch verflucht ist?“

Manù presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Wir können nur hoffen, dass sich in den Aufzeichnungen meines Großvaters ein Anhaltspunkt dafür findet, wie wir dies feststellen können. In meinen Büchern steht nichts über Flüche.“

Jo nickte, ohne Manù anzusehen, ergriff einen Stapel Papier und zog sich auf das Sofa zurück.

Gegen Mittag kehrten Motz und Luc in bester Laune zurück. Die Wohnung, die sie sich an diesem Morgen angeschaut hatten, entsprach genau ihren Vorstellungen und sie hatten sich mit dem Vermieter auf einen vernünftigen Preis einigen können. Motz knuffte Jo in die Seite. „Freust du dich wenigstens ein bisschen für mich?“

Jo schwieg. Wie konnte er erwarten, dass sie sich freute?

„Nein, natürlich nicht. Der Fluch, ich vergaß.“ Seine Stimme triefte vor Ironie.

Sie sah auf, verletzt und wütend zugleich, doch er hatte sich schon abgewandt. Widerwillig ergriff sie einen der Papierstapel und öffnete das ihn umgebende Band. Ihr Blick fiel auf einen mit roter Tinte beschriebenen Pergamentbogen. Darin äußerte Mádo sein Missfallen am Verhalten einiger Mitglieder der Vereinigung, die sich der Schwarzen Magie zugewandt hatten und gefährliche Experimente durchführten. Er hatte sie mehrfach aufgefordert, davon abzulassen, und war dann aus der Vereinigung ausgetreten, um sich ganz seinem Buch und seinen Patienten zu widmen. Jo erzählte den anderen davon.

Luc nahm ihr das Pergament aus der Hand und überflog es. „Er hat hier nicht einmal die Namen der anderen Mitglieder genannt, sondern sie nur mit Anfangsbuchstaben bezeichnet. Es würde mich interessieren, um wen es sich dabei gehandelt hat.“

„Vielleicht haben sie etwas mit Mádos Verschwinden zu tun“, mutmaßte Jo und erhob sich, um sich zu strecken.

„Möglich“, erwiderte Luc gähnend. „Steht das Haus von Mexx eigentlich noch?“

Manù nickte. „Ja. Es ist nicht bewohnt, obwohl das nicht zu verstehen ist. Normalerweise kümmert sich die Stadt um Häuser, die lange leer stehen, und zwingt den Eigentümer, es entweder selbst zu nutzen oder es zu vermieten. Aber hier scheint der Eigentümer nicht auffindbar zu sein und vor einer Enteignung schreckte die Stadt bisher zurück, aus welchen Gründen auch immer. Es ist mittlerweile in keinem guten Zustand mehr, aber damals war es sicherlich ein beeindruckender Palais.“

Jos Herz begann schneller zu schlagen. An das Haus hatte sie gar nicht mehr gedacht. „Wer ist denn der Eigentümer?“

Manù stand auf und ging zu dem kleinen Sekretär, der hinter der Tür stand, öffnete die Schublade und zog ein Blatt heraus. „Als eure Großeltern euer Kommen ankündigten, habe ich eine Kopie des Grundbuchauszuges besorgt. Danach heißt der Eigentümer Mexx Manuél.“

Das war der Name, den Jo im Internet gefunden hatte. Aber er hatte im Jahr 1850 dort gelebt. „Steht dort auch, wann er Eigentümer wurde?“, fragte sie.

Manù schaute auf das Dokument. „Ja, 1845. Dann kann es sich nicht um unseren Mexx handeln.“ Sie setzte sich mit dem Papier in der Hand in einen der Sessel. „Als Judith damals starb, nahm Melinda Kontakt mit der Schwester meines Großvaters auf, um sie zu warnen. Sie vermutete, dass Mexx Mádo getötet hatte, und befürchtete, dass auch Mádos Schwester und seine Tochter in Gefahr sein könnten. Meine Mutter erzählte mir erst kurz vor ihrem Tod davon. Ich war neugierig geworden und suchte Melinda auf, um mehr darüber zu erfahren. Sie erzählte mir Judiths traurige Geschichte und ich gewann einen Eindruck von Mexx' Persönlichkeit. Deshalb verwarf ich den Gedanken, in sein Haus einzudringen.“

„Du warst also noch nicht dort?“ Lucs Stimme klang überrascht.

„Ich habe es nur von außen gesehen. Es ist ein unheilvoller Ort.“ Sie erhob sich und legte den Grundbuchauszug in die Schublade des Sekretärs zurück.

„Aber jetzt sind wir zu viert und könnten es uns doch einmal ansehen, oder?“ Luc schaute in die Runde. In seinen Augen funkelte es.

Motz runzelte die Stirn und machte eine abwehrende Handbewegung. „Das ist Hausfriedensbruch. Ich habe keine Lust, mich strafbar zu machen. Es könnte auch gefährlich sein. Das Haus ist alt und ...“

„Ach, komm schon.“ Luc beugte sich nach vorn und knuffte seinen Freund in den Oberarm. „Ich wüsste nicht, wieso das gefährlich sein sollte. Wenn Mexx noch lebt, ist er jetzt über hundert.“ Er schürzte die Lippen. „Er könnte uns allerdings mit dem Rollator erschlagen.“

Motz' rechtes Ohr färbte sich dunkelrot. „Ich möchte dort nicht erwischt werden.“

Luc grunzte abfällig und schaute zu Manù, die die Diskussion schweigend verfolgt hatte. Sie starrte auf die Dokumente auf dem Holzboden.

„Das Manuskript könnte sich dort befinden“, drängte Luc.

„Ich möchte mir das Haus ansehen“, sagte Jo bestimmt. „Vielleicht hilft uns das weiter.“

Manù nickte widerstrebend. „Bei Tagesanbruch geht es los.“ Jo und Luc stimmten zu, während Motz schweigend vor sich hin starrte.

Am nächsten Morgen regnete es in Strömen und Motz erklärte sich bereit, Jo, Luc und Manù mit seinem Auto zur Rue de Rivoli 46 zu fahren. Mexx' Haus stand etwas zurückversetzt und passte mit seiner schmutzig grauen, vernachlässigten Fassade nicht zu den eleganten und gepflegten Nachbarhäusern. Die Fenster waren von schwarzen Schlagläden verdeckt und an die breite Haustür waren Bretter gelehnt, die vielleicht einmal angenagelt gewesen waren, um den Eintritt zu verwehren. Jetzt ließen sie sich problemlos zur Seite schieben. Wahrscheinlich hatte sich schon einmal jemand Zutritt zum Haus verschafft. Manù legte die Hand auf die Klinke und drückte die Türe auf, die mit einem Quietschen nachgab.

„Ein Spukhaus eben“, flüsterte Luc Jo ins Ohr, woraufhin sie zusammenzuckte.

Motz, der zunächst vor dem Haus auf sie hatte warten wollen, folgte ihnen hinein, vielleicht aus Neugier oder wegen des schlechten Wetters. Drinnen empfing sie bis auf einige schwache Streifen Tageslicht, die durch die Ritzen der Schlagläden ins Haus drangen, tiefe Dunkelheit. Luc betätigte den Lichtschalter in der Diele, aber wie zu erwarten war, blieb es dunkel, und er schaltete die Taschenlampe ein. Vor ihnen führte eine Treppe ins Obergeschoss, rechts daneben befand sich ein schmaler Flur, während zur Linken eine gläserne Schiebetür den Blick auf einen Saal mit drei Kaminen freigab. Hier fand das Fest statt, dachte Jo und schob die Türe zur Seite.

Zwei Tische und einige Stühle standen mitten im Raum, von einer dicken Staubschicht überzogen. Helle Flecken an den Wänden, von denen die graue Tapete abblätterte, ließen erahnen, dass dort einmal Gemälde gehangen hatten. Luc stocherte im Kamin herum, doch es gab nur die Überreste lange erloschener Feuer. An der Decke hing ein gewaltiger Kronleuchter und Jo konnte sich gut vorstellen, wie dieser Raum vor vielen Jahren festlich geschmückt die Kulisse für ein rauschendes Fest abgegeben hatte. Motz hatte inzwischen die hinteren Räume des Erdgeschosses inspiziert, wo sich die Küche und die Vorratsräume befanden, aber er hatte nichts Erwähnenswertes entdeckt.

Sie verließen den Festsaal, stiegen die Treppe hinauf und betraten das erste Zimmer auf der rechten Seite. Jo drehte sich sofort um. Tatsächlich, dort hing ein gewaltiger, verblichener Wandteppich, der einen weit verzweigten Stammbaum zeigte.

„Hier hat er sie verflucht“, flüsterte sie. Angst, Wut und Verzweiflung umwehten sie. Alte Gefühle, Judiths Gefühle. Ihr wurde schwindelig und sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.

Motz und Luc untersuchten derweil den Schreibtisch in der Mitte des Raumes, während Manù sich die Bücher im Wandregal ansah.

„Schaut mal!“, rief Luc und zog Fotos aus der Schreibtischschublade, die er auf der Tischplatte ausbreitete. Sie zeigten einen großen Mann mit pechschwarzen Augen, grauen Haaren und grauer Haut – Mexx, vermutete Jo – in Begleitung verschiedener Personen. Manù hatte eines der Fotos an sich genommen und studierte es mit einem Ausdruck von Trauer auf ihrem Gesicht.

„Das ist mein Großvater“, sagte sie leise und reichte Jo das Foto, das einen unsicher blickenden Mann mit schütterem Haar und Brille zeigte, um dessen Schulter Mexx seinen Arm gelegt hatte.

„Er sieht nicht aus, als hätte er sich bei dieser Umarmung besonders wohlgefühlt“, murmelte Jo und drehte das Foto um. 15. Februar 1940 stand dort geschrieben.

„Das war kurz vor seinem Verschwinden“, hauchte Manù.

Furcht rieselte plötzlich von der Zimmerdecke auf Jo hinab. Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte gegen die Holztäfelung.

„Was hast du?“, fragte Motz.

Sie antwortete nicht und trat auf den Flur hinaus. Eine schmale Leiter führte an seinem Ende auf den Dachboden.

Motz folgte ihr. „Jo, was ist los?“

„Da oben ist etwas … Totes.“ Sie schluckte schwer.

„Vermutlich eine tote Maus“, beschwichtigte Motz, doch Jo sah die Sorge in seinem Gesicht. Auch Luc und Manù warfen beklommene Blicke zur Decke. Jo trat auf die erste Sprosse und stieg langsam empor, gefolgt von den anderen. Der Speicher war leer bis auf eine große dunkle Holztruhe, die in seiner Mitte unter einem Fenster stand, auf das der Regen trommelte. Jo ging auf die Truhe zu und hob vorsichtig den schweren Deckel. Tod und Vergessen sprangen heraus und füllten den Raum.

„Oh Gott“, keuchte sie und wankte zurück.

In der Truhe befand sich das mumifizierte Skelett eines Mannes. Die Beine waren angezogen, die Arme lagen verschränkt auf dem Brustkorb und der Kopf lehnte an der Wand. Das verzerrte Gesicht spiegelte Angst und Entsetzen wider, der Mund verharrte in einem ewigen Schrei. Jo sank auf die Knie und starrte auf die Stofffetzen, die dem Toten am Körper klebten: Überreste einer Polizeiuniform.

„Das ist Jules, der Polizist, der Judith beschützt hat und dann plötzlich verschwunden ist.“ Sie war sich ganz sicher.

„Kein schöner Anblick“, murmelte Luc.

„Seht mal“, sagte Manù, die auf der anderen Seite der Truhe in die Hocke gegangen war und auf den Kopf des Toten zeigte.

Jo beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. Jetzt sah sie es auch: In Jules Schädel klaffte ein Loch. Er war erschlagen worden.

Mexx war somit damals nach Paris zurückgekehrt – wenn er die Stadt je verlassen hatte. Jo fragte sich, ob er Judith beobachtet hatte. War er ihr in die Normandie gefolgt, um ihr beim Sterben zuzusehen? Unbändiger Hass wuchs bei dieser Vorstellung in ihr.

Manù trat zu ihr und legte ihr die Hand auf den Unterarm. „Gibt es noch einen Toten in diesem Haus?“

Jo schloss die Augen. Zunächst spürte sie nur ein leichtes Unbehagen, das wie ein Luftzug um ihren Körper strich. Dann gesellten sich Grauen, Hass und Wut dazu und bedrängten sie, sodass sie taumelte. Doch es waren keine menschlichen Gefühle, sie waren verwoben mit Holz und Stein, es war … das Haus! Sie riss die Augen auf und stützte sich auf Manùs Arm.

„Wir müssen fort von hier.“

„Was ist mit meinem Großvater?“, drängte Manù.

Jo schüttelte sich. „Er ist nicht hier.“ Hastig wandte sie sich ab, kletterte die Leiter hinunter ins Obergeschoss, stürmte die Treppe hinab und lief aus dem Haus.

Auf der Rückfahrt hielt Motz an einer Telefonzelle und meldete den Fund bei der Polizei, ohne seinen Namen zu nennen. „Sie haben mir nicht geglaubt“, sagte er, als er wieder ins Auto stieg. „Die unternehmen bestimmt nichts.“

Ein Schauer lief Jo über den Rücken bei dem Gedanken, dass Jules' Körper diese Truhe wohl nie mehr verlassen würde.

In Manùs Haus angelangt setzten sich die vier ins Wohnzimmer und starrten schweigend auf die auf dem Boden liegenden Papiere.

„Mexx war ein Mörder, ein mieser Verbrecher“, begann Motz zögernd und Jo wusste, was er sagen wollte. Der grausige Fund von Jules' Leiche hatte bei ihr ähnliche Gedanken ausgelöst. Mexx hatte nicht auf Flüche zurückgreifen müssen, um jemandem den Tod zu bringen. Er bediente sich profanerer Methoden. Was nicht hieß, dass er nicht vielleicht doch …

Such weiter, sagte die Stimme in ihrem Kopf.

Wortlos ergriff sie einige Pergamentseiten und begann zu lesen. Nach und nach taten es die anderen ihr gleich, Motz mit einem resignierten Stöhnen, Luc mit der Bemerkung „Tja ...“ und Manù mit den Worten „Lasst es uns zu Ende bringen“.

Als Jo die Augen kaum noch offen halten konnte, hielt Luc mit einem strahlenden Lächeln einen Stapel Papiere hoch, der mit einem blauen Band zusammengehalten wurde. „Das ist es!“

Manù nahm ihm den Stapel aus der Hand und las laut, was auf dem Deckblatt stand: „Das geheime Wissen der Magier“. Sie löste das Band und blätterte durch die Seiten. „Ja, das ist es. Hier sind sogar Protokolle von Mádos Gesprächen mit Mexx.“

Ein gewölbter Briefumschlag fiel aus dem Manuskript in ihren Schoß. Stirnrunzelnd riss sie ihn auf und zog ein zierliches Kettchen hervor, das im Licht grau schimmerte.

Bei seinem Anblick sah Jo vor ihrem inneren Auge Bilder von schneebedeckten Bergen und Ebenen, von eisüberzogenen Seen, reißenden Flüssen und einem gewaltigen Wasserfall, und sie spürte die Kälte des Winters in ihren Knochen.

„Jo, was ist denn?“

Lucs Stimme drang aus weiter Ferne zu ihr. Dann kam die Dunkelheit.

Die verborgenen Inseln

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