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Das Leben des Herrn Pascal

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Gilberte Pascal hat diese Lebensgeschichte kurz nach dem Tod ihres Bruders, in den letzten Monaten des Jahres 1662, auf Anfrage von Angehörigen und Freunden verfasst. Bald zirkulierten hiervon Kopien, eine Veröffentlichung kam zunächst aber nicht in Betracht, obwohl dieser großartige Bericht bereits 1663 von Florin Périer, dem Ehemann der Erzählerin, in seinem Vorwort zu Pascals Traités de l’équilibre des liqueurs (Abhandlungen über das Gleichgewicht der Flüssigkeiten) verwendet worden ist. 1669 stützt sich auch das Vorwort, das Gilbertes Sohn Étienne für die Pensées-Ausgabe schrieb, auf diese Lebensgeschichte.

Erst 1684 wurde La vie de M. Pascal gedruckt: nach einer unbekannten Kopie, in Unkenntnis Gilbertes. Diese Erstausgabe erschien in Amsterdam bei dem Buchhändler Abraham Wolfgang.

Im Dezember desselben Jahres legte Pierre Bayle darüber in den Nouvelles de la République des Lettres folgendermaßen Rechenschaft ab: »Hundert Predigtbände wiegen nicht eine Lebensgeschichte wie diese auf und sind weit weniger fähig, die Gottlosen zu entwaffnen … Sie können uns nicht länger erzählen, nur Kleingeister besäßen Frömmigkeit, denn man zeigt ihnen eine umso höher ausgebildete in einem der größten Geometer, feinsinnigsten Metaphysiker und erkenntnisreichsten Geister, die es je gab.«

[1] Mein Bruder wurde am 19. Juni 1623 in Clermont geboren. Mein Vater hieß Étienne Pascal, Präsident am Steuergerichtshof, und meine Mutter Antoinette Begon. Sobald mein Bruder in dem Alter war, da man mit ihm sprechen konnte, zeigte er durch die kleinen schlagfertigen Antworten, die er vollkommen passend gab, mehr aber noch durch Fragen, die er über die Natur der Dinge anstellte, und die jedermann überraschten, Merkmale eines ganz außergewöhnlichen Geistes. Dieser Anfang, der zu schönen Hoffnungen Anlass gab, fand kein Ende, denn in dem Maße, wie er wuchs, nahm sein Denkvermögen stetig und machtvoll zu, sodass er seinem Alter immer weit voraus war.

[2] Indes seit dem Tod meiner Mutter im Jahr 1626, da mein Bruder erst drei Jahre alt war, widmete sich mein Vater, nunmehr alleinstehend, verstärkt der Pflege seiner Familie, und weil er keinen anderen Sohn als eben diesen hatte, gaben ihm dessen Eigenschaft als einziger Sohn und die Zeichen geistiger Größe, die er in dem Kind erkannte, eine so tiefe Zuneigung für ihn ein, dass er sich nicht dazu durchringen konnte, seine Erziehung einem anderen zu übertragen, und sich infolgedessen entschied, ihn selbst zu unterrichten, wie er es denn auch getan hat: Mein Bruder ist nie in irgendeine Schule gegangen und hat nie einen anderen Lehrer als meinen Vater gehabt.

[3] Im Jahre 1631 zog sich mein Vater nach Paris zurück, nahm uns alle mit und richtete dort seinen Wohnsitz ein. Meinem Bruder, der damals erst acht war, verschaffte dieser Rückzug einen großen Vorteil, was die Absicht anbetraf, mit der mein Vater sich in seiner Erziehung trug: Denn es steht außer Frage, dass er diese in der Provinz, wo die Ausübung seines Amtes und die ständige Gesellschaft, die sich bei ihm einfand, ihn sehr abgelenkt hätten, nicht mit der gleichen Sorgfalt hätte aufnehmen können. Da er sich aber in Paris in völliger Freiheit wiederfand, verlegte er sich ganz auf sie und hatte darin allen Erfolg, den die Bemühungen eines Vaters haben können, der so intelligent und liebevoll war, wie man nur sein kann.

[4] Seine wichtigste Erziehungsmaxime war es, dieses Kind nicht zu überfordern. Aus diesem Grund wollte er ihm vor seinem zwölften Lebensjahr kein Latein beibringen, auf dass er es dann umso leichter erlerne.

[5] In der Zwischenzeit ließ er ihn nicht untätig, denn er unterhielt sich mit ihm über alles, dessen er ihn für fähig erachtete. Er ließ ihn erkennen, was es mit den Sprachen im Allgemeinen auf sich hatte; er zeigte ihm auf, wie man sie in den Grammatiken unter bestimmte Regeln zusammengefasst hatte; dass diese Regeln freilich Ausnahmen hatten, auf die hinzuweisen man sich bemühte; und dass man also Mittel gefunden hatte, alle Sprachen von Land zu Land kommunizierbar zu machen. Diese allgemeine Vorstellung half seinem Geist, Klarheit zu gewinnen, und ließ ihn die Vernunft der grammatikalischen Regeln erkennen, sodass er, wenn er sie erlernte, wusste, warum er es tat, und er befleißigte sich genau der Dinge, auf die man den größten Fleiß verwenden musste.

[6] Nach diesen Kenntnissen vermittelte mein Vater ihm weitere; er erzählte ihm oft von außergewöhnlichen Erscheinungen der Natur, wie zum Beispiel vom Schießpulver und von anderen Dingen, die überraschen, wenn man sie bedenkt. Mein Bruder fand großes Vergnügen an diesen Unterhaltungen, wollte aber den Grund aller Dinge wissen; und da [diese Gründe] nicht alle bekannt sind und mein Vater sie ihm darum nicht sagte, oder ihm nur die sagte, die man gemeinhin vorbringt, und die eigentlich nichts anderes als Fehler sind, so befriedigte ihn das nicht: Denn er besaß stets eine bewundernswerte Geistesschärfe, das Falsche zu durchschauen, und man kann sagen, dass die Wahrheit immer und in allen Dingen der einzige Gegenstand seines Geistes gewesen ist, da ihn ja außer ihrer Erkenntnis nichts je hat zufriedenstellen können. Daher konnte er sich seit seiner Kindheit nur dem zuwenden, was ihm selbstverständlich als wahr erschien, sodass er, wenn man ihm nicht gute Gründe nannte, diese selbst suchte; und wenn er sich einer Sache zugewandt hatte, ließ er nicht eher von ihr ab, als bis er an ihr einen Grund gefunden hatte, der ihn zufriedenstellen konnte.

[7] Unter anderem trug es sich einmal zu, dass jemand bei Tisch sein Messer gedankenlos an eine Steingutschüssel schlug; er bemerkte, dass dies einen kräftigen Klang erzeugte, der aber, sobald man die Hand darauf legte, verstummte. Sogleich wollte er die Ursache hierfür wissen, und da diese Erfahrung ihn dazu bewegte, etliche weitere Versuche über den Klang anzustellen, wurde er so vieler Dinge gewahr, dass er darüber im Alter von elf Jahren eine Abhandlung schrieb, die für sehr gut durchdacht befunden wurde.

[8] Als er gerade einmal zwölf war, begann sich sein geometrisches Genie bei einer so außergewöhnlichen Begegnung zu zeigen, dass mir scheinen will, sie verdiene es, im Einzelnen hergeleitet zu werden.

[9] Mein Vater war in der Mathematik bewandert, daher pflegte er den Umgang mit all jenen, die in dieser Wissenschaft beschlagen waren, und die oft bei ihm verkehrten; weil er aber beabsichtigte, meinem Bruder Sprachunterricht zu erteilen, und wusste, dass die Mathematik eine Angelegenheit ist, die den Geist erfüllt und sehr zufrieden stellt, wollte er nicht, dass mein Bruder irgendeine Kenntnis von ihr hatte, aus Angst, er könnte darüber das Lateinische und die anderen Sprachen, in denen er ihn weiterbilden wollte, vernachlässigen. Aus diesem Grund hatte er alle Bücher, die sie behandelten, an sich genommen, und enthielt sich, in seiner Gegenwart mit den Freunden über sie zu sprechen. Diese Vorsichtsmaßnahme verhinderte jedoch nicht, dass die Wissbegier des Jungen angestachelt wurde, sodass er meinen Vater oftmals bat, ihm Mathematik beizubringen; dieser aber versagte es ihm und versprach ihm stattdessen wie zum Ausgleich, dass er ihn darin unterrichten werde, sobald er Latein und Griechisch beherrsche.

[10] Mein Bruder, der diesen Widerstand sah, fragte ihn eines Tages, was es mit jener Wissenschaft auf sich habe und was man mit ihr behandle. Mein Vater antwortete ihm allgemeinhin, dass sie das Mittel sei, um richtige Figuren zu erstellen und die Beziehungen zu finden, die sie untereinander hatten, und gleichzeitig untersagte er ihm, weiter darüber zu sprechen, ja überhaupt daran zu denken. Aber dieser Geist, der nicht in derlei Grenzen verbleiben konnte, sobald er die einfache Eröffnungsrede vernommen hatte, dass die Mathematik das Mittel bereithalte, unfehlbar richtige Figuren zu erstellen, fing selbst zu träumen an; und in seinen Erholungsstunden, als er sich allein in einem Zimmer aufhielt, in dem er sich für gewöhnlich zerstreute, nahm er Kohle und zeichnete geometrische Figuren auf die Fliesen; er suchte beispielsweise nach Mitteln, einen vollkommen runden Kreis zu entwerfen, oder ein Dreieck, dessen Seiten und Winkel gleich wären, und Ähnliches mehr. Er entdeckte das alles allein; anschließend suchte er die Beziehungen der Figuren untereinander. Weil mein Vater aber all diese Dinge so überaus sorgsam vor ihm verborgen gehalten hatte, dass er noch nicht einmal deren Namen wusste, war er gezwungen, sich die Definitionen selbst zu geben, und nannte einen Kreis »ein Rund«, eine Gerade »einen Strich«, und so verhielt es sich auch mit den anderen. Nach diesen Definitionen formulierte er Axiome und führte schließlich vollständige Beweise durch; und weil man in diesen Dingen vom einen zum anderen kommt, trieb er seine Forschungen so weit voran, dass er bis zum 32. Satz aus Euklids erstem Buch gelangte.1

[11] Wie er sich so darüberbeugte, betrat mein Vater den Ort, an dem er sich aufhielt, ohne dass mein Bruder es hörte. Er fand ihn so stark beschäftigt vor, dass er seines Kommens lange nicht gewahr wurde. Es ist nicht zu sagen, wer von beiden überraschter war: der Sohn angesichts des Vaters, weil der ihm hierüber ein ausdrückliches Verbot ausgesprochen hatte, oder der Vater, der seinen Sohn inmitten all dieser Dinge sah. Aber die Überraschung des Vaters wurde weit größer, als er ihm auf die Frage, was er da tue, antwortete, er suche eine bestimmte Sache, und diese sich als der 32. Satz aus dem ersten Buch von Euklid erwies. Mein Vater fragte ihn, was ihn zu dieser Suche veranlasst habe; er sagte, es läge daran, dass er dergleichen mehr gefunden habe; und als der Vater ihm darüber die gleiche Frage noch einmal stellte, erzählte er ihm zudem von irgendeinem anderen Beweis, den er durchgeführt hatte; und indem er Schritt für Schritt zurückging und dabei immer die Namen »Rund« und »Strich« verwendete, kam er schließlich zu seinen Definitionen und Axiomen.

[12] Mein Vater war so erschrocken über die Größe und Kraft dieses Genies, dass er ihn wortlos verließ und zum Haus von Herrn Le Pailleur ging, der sein enger Freund und ebenfalls sehr gelehrt war. Als er drinnen angelangt war, blieb er unbeweglich wie ein von seinen Gefühlen überwältigter Mensch stehen; und als Herr Le Pailleur dies sah, und sogar sah, dass er ein paar Tränen vergoss, war er ganz erschrocken und bat ihn, ihm den Grund für seinen Verdruss nicht länger zu verheimlichen. Mein Vater sagte zu ihm: »Ich weine nicht aus Trübsal, sondern vor Freude. Sie wissen um die Sorgfalt, die ich darauf verwandte, meinem Sohn die Kenntnis der Geometrie vorzuenthalten, aus Angst, ihn von seinen anderen Studien abzulenken; indes sehen Sie, was er gemacht hat.« Daraufhin zeigte er ihm alles, was er gefunden hatte, und worüber sich sagen ließe, dass er in gewisser Weise die Mathematik erfunden hatte.

[13] Herr Le Pailleur war nun nicht weniger überrascht als zuvor mein Vater und sagte ihm, dass er es nicht für richtig halte, diesem Geist noch länger Fesseln anzulegen und jene Kenntnis weiterhin vor ihm zu verbergen; dass man ihn die Bücher sehen lassen müsse, ohne ihn länger aufzuhalten.

[14] Mein Vater, der dies für ratsam befand, gab ihm die Elemente von Euklid, damit er sie in seinen Erholungsstunden lesen könne. Er betrachtete und verstand sie von ganz alleine, ohne je irgendeine Erklärung benötigt zu haben; und während er sie betrachtete, schrieb er und kam so weit voran, dass er sich regelmäßig bei den Konferenzen wiederfand, zu denen sich alle Gelehrten von Paris allwöchentlich versammelten, um ihre Werke vorzutragen oder die der anderen zu prüfen.

[15] Mein Bruder hielt sich dort sehr gut auf seinem Platz, sowohl bei der Überprüfung als auch bei der Anfertigung von Schriften, denn er gehörte zu denjenigen, die dort am häufigsten neue Dinge vortrugen. Ebenso häufig bekam man auf diesen Versammlungen Vorschläge zu Gesicht, die aus Italien, Deutschland und anderen fremden Ländern eingesandt wurden, und man achtete seine Meinung zu allem höher als die irgendeines anderen, denn er besaß einen so lebhaften Verstand, dass es manchmal vorgekommen ist, dass er Fehler entdeckt hat, die die anderen gar nicht bemerkt hatten. Freilich verwendete er auf das Studium der Geometrie nur seine Erholungsstunden, denn er lernte Latein nach den Regeln, die mein Vater für ihn vorgesehen hatte. Da er aber in jener Wissenschaft die Wahrheit fand, nach der er stets so eifrig gesucht hatte, war er mit ihr so zufrieden, dass er seinen Geist voll und ganz auf sie verwandte; und wenn er sich auch nur wenige Stunden mit ihr beschäftigte, so machte er hierin doch derartige Fortschritte, dass er im Alter von sechzehn Jahren ein Traité des coniques (Abhandlung über die Kegelschnitte) verfasste, das als eine so große geistige Leistung galt, dass man sagte, seit Archimedes habe man nichts gesehen, was dieser Kraft gleiche.

[16] Alle Gelehrten waren der Meinung, seine Schriften sollten von nun an gedruckt werden, denn sie sagten, so sehr es sich auch um ein Werk handle, das stets bewundernswert bleiben werde, würde doch der Umstand, es zu der Zeit drucken zu lassen, da sein Erfinder gerade einmal sechzehn Jahre alt war, seine Schönheit noch erheblich vergrößern. Aber meinen Bruder hatte es nie nach öffentlichem Ansehen verlangt, er legte keinen Wert darauf; und so ist dieses Werk nie gedruckt worden.

[17] Während dieser ganzen Zeit lernte er weiterhin Latein und auch Griechisch; und überdies unterhielt sich mein Vater mit ihm während der Mahlzeiten und danach bald über Logik, bald über Physik und andere Gebiete der Philosophie; und das ist alles, was er davon erlernt hat, da er ja nie eine Schule besucht oder einen anderen Lehrer für diese und alle übrigen Dinge gehabt hat.

[18] Mein Vater fand an den großen Fortschritten, die mein Bruder machte, das denkbar größte Vergnügen, bemerkte aber nicht, dass dieser unablässig hohe Geistesaufwand in einem so zarten Alter einige Auswirkungen auf seine Gesundheit haben konnte; und tatsächlich begann sie sich zu verschlechtern, seit er achtzehn geworden war. Da aber die Beeinträchtigungen, die er damals verspürte, nicht sehr stark waren, hinderten sie ihn nicht daran, seinen üblichen Beschäftigungen weiter nachzugehen, sodass er zu jener Zeit, im Alter von neunzehn Jahren, die Rechenmaschine erfand, mit der man unfehlbar sicher alle Arten von Berechnungen2 anstellt, und dies nicht nur, ohne zu Feder und Münzmarke3 zu greifen, sondern auch, ohne irgendeine arithmetische Regel zu kennen.

[19] Dieses Werk nun galt als Neuheit in der Natur: eine Wissenschaft, die ganz im Geiste angesiedelt ist, in einer kleinen Maschine untergebracht zu haben, und das Mittel gefunden zu haben, um damit alle Operationen vollkommen sicher auszuführen, ohne Überlegungen anstellen zu müssen. Die Arbeit ermüdete ihn sehr, nicht etwa, weil ihm das Denken oder die Bewegung schwer fielen, sondern weil er den Handwerkern all diese Dinge verständlich machen musste. Somit dauerte es zwei Jahre, um sie zu der Vollkommenheit zu bringen, in der sie gegenwärtig dasteht.

[20] Diese Ermattung und der empfindliche Zustand, in dem sich seine Gesundheit seit ein paar Jahren befand, stürzten ihn in Unannehmlichkeiten, die nicht mehr von ihm gewichen sind, sodass er uns zuweilen gesagt hat, seit seinem achtzehnten Lebensjahr habe er keinen Tag ohne Schmerzen verbracht. Jedoch waren seine Beschwernisse nicht immer gleich heftig; sobald er ein wenig Ruhe hatte, verfiel sein Geist unverzüglich darauf, etwas Neues zu suchen.

[21] Eines Tages, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, nachdem er den Versuch von Torricelli gesehen hatte, erfand und vollzog er jene anderen, die man die Versuche über die Leere genannt hat, und die so klar beweisen, dass alle Wirkungen, die man bis dahin auf die Abneigung gegen die Leere zurückgeführt hatte, durch das Gewicht der Luft verursacht werden. Dies war seine letzte Beschäftigung mit den Geisteswissenschaften; und wenn er auch später die Rollkurve erforschte, widerspricht dies nicht meinen Worten, denn er tat dies, ohne daran zu denken, und, wie ich an geeigneter Stelle berichten werde, auf eine Weise, die zeigt, dass er keinen Fleiß darauf verwandte.

[22] Unmittelbar nach diesen Versuchen, als er noch nicht ganz vierundzwanzig Jahre alt war, schuf Gottes Vorsehung einen Anlass, der ihn dazu verpflichtete, Schriften über Frömmigkeit zu lesen, und Gott erleuchtete ihn durch diese Lektüre so sehr, dass er vollkommen begriff, dass die christliche Religion uns dazu verpflichtet, nur für Gott zu leben und keinen anderen Gegenstand als ihn zu haben; und diese Wahrheit erschien ihm so einleuchtend, so notwendig und so nützlich, dass sie alle seine Forschungen beendete: Von da an entsagte er allen anderen Erkenntnissen, um sich einzig der einen Sache zu befleißigen, die Jesus Christus notwendig nennt.4

[23] Durch Gottes besonderen Schutz war er bis dahin von allen Lastern der Jugend verschont geblieben; und was noch bemerkenswerter ist bei einem Geist von seiner Durchsetzungskraft und Willensstärke: Er hat sich nie zu Ausschweifungen in Bezug auf die Religion hinreißen lassen, sondern seine Neugier stets auf natürliche Dinge beschränkt; und er hat mir mehrmals gesagt, dass diese Pflicht allen anderen hinzuzurechnen sei, die er meinem Vater schuldete, der selbst große Achtung vor der Religion besaß und ihm diese seit seiner Kindheit eingeflößt hatte, indem er ihm die Maxime mit auf den Weg gab, dass alles, was ein Gegenstand des Glaubens ist, kein Gegenstand der Vernunft sein kann und noch weniger ihr unterworfen werden darf.

[24] Diese Maxime, die ihm häufig von seinem Vater wiederholt wurde, für den er eine sehr große Wertschätzung hegte und in dem er eine große Gelehrsamkeit sich mit einem sehr klaren und sehr kraftvollen Denkvermögen verbinden sah, machte einen so starken Eindruck auf seinen Geist, dass er, egal welche Reden er die Freigeister auch schwingen hörte, davon gänzlich unberührt blieb; und obwohl er sehr jung war, sah er sie als Leute an, die jenem falschen Grundsatz verhaftet waren, dass die menschliche Vernunft über allen Dingen stehe, und die die Natur des Glaubens nicht kannten. Und von daher war dieser so große, so vielseitige und so von Wissbegier erfüllte Geist, der derart sorgfältig die Ursache und den Grund von allem suchte, zugleich allen religiösen Dingen unterworfen wie ein Kind; und diese Einfachheit hat zeitlebens in ihm vorgeherrscht, sodass er sich selbst dann, als er beschloss, nur noch religiöse Studien zu betreiben, nie den neugierigen Fragen der Theologie zugewandt, sondern seine ganze Geisteskraft darauf verwendet hat, die Vollkommenheit der christlichen Moral kennenzulernen und sich in ihr zu üben; ihr hat er alle ihm von Gott gegebenen Talente geweiht und für den Rest seines Lebens nichts anderes getan, als Tag und Nacht über das Gesetz Gottes nachzudenken.

[25] Obwohl er die Scholastik nicht eigens studiert hatte, waren ihm die Beschlüsse der Kirche gegen die Irrlehren, die von den Klügeleien des [menschlichen] Geistes ersonnen worden sind, doch nicht unbekannt; gegen diese Art von Bestrebungen war er am lebhaftesten eingestellt, und Gott gab ihm bereits in jenen Tagen eine Gelegenheit, den Eifer zu zeigen, den er für die Religion hegte.

[26] Er war damals in Rouen, wo mein Vater im Dienst des Königs stand. Zur gleichen Zeit war dort ein Mann, welcher eine neue Philosophie lehrte, die alle Neugierigen anlockte. Weil mein Bruder von zwei jungen Männern aus seinem Freundeskreis dazu gedrängt worden war, ging er mit diesen zu ihm; sie waren allerdings ziemlich überrascht, als sie im Gespräch mit dem Mann, der ihnen die Grundsätze seiner Philosophie herunterleierte, erfuhren, dass er daraus Schlüsse über Glaubenspunkte zog, die den Entschlüssen der Kirche zuwider liefen.

[27] Durch seine Argumentation belegte er, dass der Leib Christi nicht aus dem Blut der Jungfrau Maria gebildet worden war, sondern aus einem eigens dafür geschaffenen Stoff, dass der Körper der Jungfrau Maria etc.5, und dergleichen mehr. Sie wollten ihm widersprechen, er aber beharrte auf seinen Ansichten. Nachdem sie untereinander die Gefahr abgewägt hatten, die darin bestand, dass man einem Mann, der abwegige Meinungen vertrat, die Freiheit ließ, die Jugend zu unterrichten, beschlossen sie, ihn zunächst zu warnen, und ihn dann anzuzeigen, sollte er sich der Ermahnung widersetzen, die man ihm erteilte.

[28] Die Sache traf genau so ein, denn er missachtete die Ermahnung, sodass sie es für ihre Pflicht hielten, ihn bei Herrn du Bellay6 anzuzeigen, der im Auftrag des Herrn Erzbischof die bischöfliche Amtsaufgaben in der Diözese von Rouen ausübte. Herr du Bellay ließ diesen Mann suchen, wurde aber bei der Befragung von einem doppeldeutigen Glaubensgeständnis getäuscht, das dieser ihm eigenhändig schrieb und unterzeichnete, und nahm im Übrigen wenig Rücksicht auf die Wichtigkeit einer Mitteilung, die drei junge Leute ihm gemacht hatten.

[29] Sobald sie jedoch dieses Glaubensgeständnis sahen, erkannten sie den Fehler, der sie denn auch zwang, den Herrn Erzbischof von Rouen im Schloss von Gaillon aufzusuchen, der nach Prüfung alles dessen die Sache für so wichtig hielt, dass er ein Schreiben an seinen Rat richtete und einen Eilbefehl an Herrn du Bellay ergehen ließ, genau diesen Mann dazu zu bringen, in allen Punkten zu widerrufen und von ihm nichts entgegenzunehmen, es sei denn durch die Vermittlung derer, die ihn angezeigt hatten. So wurde die Sache ausgeführt; er erschien vor dem Rat des Herrn Erzbischofs und widerrief alle seine Ansichten; und man kann sagen, dass dies aufrichtig geschah, denn er hat sich nie verbittert gegenüber denjenigen gezeigt, die ihm diese Angelegenheit eingetragen hatten, was nahelegt, dass er möglicherweise7 selbst von den falschen Schlüssen getäuscht worden war, die er aus seinen falschen Grundsätzen zog. Auch ist ziemlich sicher, dass man sich dabei nicht in der Absicht getragen hat, ihm zu schaden, noch ein anderes Ziel verfolgt hat, als ihn über seinen Irrtum aufzuklären und ihn davon abzuhalten, die jungen Leute zu verführen, die nicht vermocht hätten, in so feinsinnigen Fragen das Wahre vom Falschen zu unterscheiden.

[30] So ging diese Angelegenheit glimpflich aus, und da mein Bruder mehr und mehr die Mittel suchte, gottgefällig zu sein, entflammte diese Liebe zur christlichen Vollkommenheit seit seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr so sehr in ihm, dass sie sich im ganzen Haus ausbreitete. Selbst mein Vater, der sich nicht dafür schämte, sich von seinem Sohn belehren zu lassen, nahm seinerzeit eine richtigere Lebensweise an, die er bis zu seinem Tode durch die unablässige, durchweg christliche Ausübung der Tugenden vervollkommnet hat. Und meine Schwester, die ganz außerordentliche geistige Talente besaß und seit ihrer Kindheit ein Ansehen genoss, zu dem nur wenige Mädchen gelangen, war von den Reden meines Bruders so berührt, dass sie sich dazu entschloss, all den Vorzügen zu entsagen, die sie bis dahin so sehr geliebt hatte, um ihr Leben ganz und gar Gott zu weihen, wie sie es seither getan hat, indem sie als Ordensfrau in ein sehr heiliges, gestrenges Haus8 eingetreten ist, wo sie einen so guten Gebrauch von der Vollkommenheit gemacht hat, mit der Gott sie geschmückt hatte, dass man sie der schwierigsten Arbeiten für würdig befunden hat, die sie stets mit aller erdenklichen Treue erfüllt hat, und wo sie am 4. Oktober 1661 im Alter von sechsunddreißig Jahren heiligmäßig gestorben ist.

[31] Mein Bruder hingegen, dessen Gott sich bediente, um all dies Gute zu bewirken, wurde von lang andauernden Krankheiten geplagt, die in immer heftigeren Schüben kamen. Weil er aber damals keine andere Wissenschaft mehr als die Vervollkommnung kannte, bemerkte er einen großen Unterschied zwischen dieser und jenen, mit denen er sich im Geiste bis dahin befasst hatte; denn da, wo seine Unpässlichkeit den Fortschritt jener anderen aufhielt, vervollkommnete sich diese hier unter denselben Bedingungen durch die bewundernswerte Geduld, mit der er sie ertrug. Ich will mich damit begnügen, zur Veranschaulichung ein Beispiel zu erzählen.

[32] Er hatte unter anderem die Beschwernis, Flüssigkeiten nicht schlucken zu können, es sei denn, sie waren erwärmt, und selbst dann konnte er das nur tropfenweise. Weil er aber zudem unter unerträglichen Kopfschmerzen, übermäßiger innerer Hitze und vielen weiteren Übeln litt, verordneten ihm die Ärzte alle drei Monate eine zweitägige Abführkur; er musste die einzunehmenden Arzneimittel wärmen und Tropfen für Tropfen hinunterschlucken, was eine echte Qual war und wovor allen ihn Umgebenden schauderte, ohne dass er sich je darüber beklagt hätte.

[33] Die fortgesetzte Einnahme dieser und vieler anderer verordneter Heilmittel verschaffte ihm einige Erleichterung, aber keine vollständige Genesung, sodass die Ärzte glaubten, um völlig wiederhergestellt zu sein, müsse er auf jede geistige Beschäftigung verzichten und so oft wie möglich die Gelegenheit suchen, sich zu zerstreuen. Mein Bruder hatte einige Mühe, sich an diesen Rat zu halten, weil er darin eine Gefahr sah; aber schließlich befolgte er ihn in dem Glauben, er sei dazu verpflichtet, alles ihm Mögliche zu tun, um wieder gesund zu werden, und in der Vorstellung, ehrenhafte Zerstreuungen könnten ihm nicht schaden; und so trat er in die Welt ein. Doch obwohl er sich dort dank Gottes Barmherzigkeit der Laster stets enthielt, wollte Gott, der ihn zu höherer Vollkommenheit berief, ihn dennoch nicht dort belassen, und für diesen Plan bediente er sich meiner Schwester, wie er sich in früheren Zeiten meines Bruders bedient hatte, als er sie von den Verpflichtungen, die sie in der Welt unterhielt, hatte entbinden wollen.

[34] Sie war nun religiös und führte ein so heiligmäßiges Leben, dass sie das ganze Haus besinnlich stimmte. In diesem Zustand schmerzte es sie zu sehen, dass der, dem sie nach Gott die Gnaden verdankte, deren sie sich erfreute, nicht derselben Gnaden teilhaftig wurde; und da mein Bruder sie oft sah, sprach sie hierüber auch oft mit ihm. Sie tat es schließlich mit so viel Kraft und Sanftmut, dass sie ihn von dem überzeugte, wovon er sie zuerst überzeugt hatte: die Welt und die weltlichen Unterhaltungen gänzlich aufzugeben; somit entschloss er sich, alles ihm im Leben Entbehrliche zu streichen, und brächte er damit auch seine Gesundheit in Gefahr, denn er glaubte, dass das Heil allen anderen Dingen vorzuziehen war. Er war damals ungefähr dreißig Jahre alt und immerzu entkräftet, und ab diesem Zeitpunkt nahm er die Lebensweise an, die er bis zu seinem Tod beibehielt.

[35] Um dieses Ziel umzusetzen und mit allen seinen Gewohnheiten zu brechen, zog er in ein anderes Viertel und verbrachte auch einige Zeit auf dem Land; als er von dort zurückkehrte, bekundete er so deutlich, dass er die Welt verlassen wolle, dass sie schließlich ihn verließ. Während dieser inneren Einkehr gründete er das Regelwerk seines Lebens auf zwei Hauptmaximen, die darin bestanden, allen Vergnügungen und jeglicher Überflüssigkeit zu entsagen; und in dieser Praxis verbrachte er den Rest seines Lebens. Um hierin erfolgreich zu sein, begann er von da an, sich so oft wie möglich ohne seine Dienerschaft zu behelfen, und hielt es seither immer so. Er machte sein Bett selbst, holte sein Abendessen aus der Küche, brachte es auf sein Zimmer und trug es wieder ab; und schließlich nahm er die Dienste seines Gesindes nur noch beim Kochen, bei Stadtgängen und anderen Dingen, die er unmöglich alleine unternehmen konnte, in Anspruch.

[36] Er verwendete seine ganze Zeit auf das Gebet und die Lektüre der heiligen Schrift. Er fand daran unglaubliches Vergnügen und sagte, dass die heilige Schrift keine Geisteswissenschaft, sondern die Wissenschaft des Herzens sei, dass sie nur denen verständlich sei, die ein aufrichtiges Herz haben, und dass alle anderen nur Dunkelheiten darin fänden. In dieser Verfassung, allem geistigen Wissen entsagend, las er sie; und er gab sich dabei so große Mühe, dass er sie bald ganz auswendig (par cœur) konnte; folglich war es nicht möglich, ihm falsch aus ihr zu zitieren. Denn sobald man ihm einen Satz hersagte, antwortete er mit Bestimmtheit: »Das stammt nicht aus der heiligen Schrift« oder »So steht es darin«; und dann gab er die Stelle präzise an. Auch die Kommentare las er mit großer Sorgfalt, denn die Achtung vor der Religion, in der er als Kind erzogen worden war, hatte sich in eine glühende und empfindsame Liebe für alle Glaubenswahrheiten verwandelt, sei es für jene, die die Unterwerfung des Geistes betreffen, sei es für jene, die die Praxis der Moral anbelangen, auf die die ganze Religion hinzielt; und diese glühende Liebe bewegte ihn dazu, ohne Unterlass an der Zerstörung alles dessen zu arbeiten, was sich diesen Wahrheiten entgegenstellte.

[37] Er besaß eine natürliche Redegewandtheit, die ihm eine wunderbare Leichtigkeit eingab, zu sagen, was er sagen wollte; dieser aber fügte er ungeahnte Regeln hinzu, deren er sich so vorteilhaft bediente, dass er seinen Stil meisterlich beherrschte. Somit sagte er nicht nur alles, was er wollte, sondern sagte es auch in der gewollten Weise, und seine Rede erzielte die beabsichtigte Wirkung. Diese natürliche, zugleich naive und starke Schreibweise war so besonders und ihm so eigen, dass man, sobald die Lettres au Provincial (Briefe in die Provinz) erschienen, wohl sah, dass sie von ihm stammten, welche Sorgfalt er auch immer aufbot, dies selbst vor seinen Angehörigen geheim zu halten.

[38] In jenen Tagen gefiel es Gott, meine Tochter von einer Tränenfistel zu heilen, die in dreieinhalb Jahren so weit fortgeschritten war, dass der Eiter nicht nur aus dem Auge, sondern auch aus Nase und Mund trat. Diese Fistel war so bösartig, dass die gelehrtesten Chirurgen von Paris sie für unheilbar hielten. Indes wurde sie im Nu durch die Berührung mit einem heiligen Dorn geheilt, und dieses Wunder war so authentisch, dass es von jedermann anerkannt wurde, hatten doch drei große Mediziner und die gelehrtesten Chirurgen Frankreichs es bezeugt und war es doch durch ein feierliches Kirchenurteil autorisiert worden.

[39] Mein Bruder war von dieser Gnade merklich berührt und betrachtete sie, als sei sie ihm selbst zuteil geworden, denn sie galt einer Person, die nicht nur seine Verwandte, sondern zudem sein Patenkind war; er war über die Maßen getröstet, dass Gott sich in einer Zeit, da der Glaube in den Herzen der meisten Menschen fast erloschen schien, so klar offenbarte. Die Freude, die er hierüber verspürte, war so groß, dass sie ihn durchdrang; und da sein Geist ganz von ihr erfüllt war, gab Gott ihm eine Unendlichkeit an bewundernswerten Gedanken über die Wunder ein, die ihm neue Erkenntnisse über die Religion schenkten und somit die Liebe und Achtung, die er stets für sie empfunden hatte, verdoppelten.

[40] Und dies war der Anlass, der das außerordentliche Arbeitsverlangen in ihm entstehen ließ, die wesentlichsten und stärksten Argumente der Atheisten zu widerlegen. Er hatte sie mit großer Sorgfalt studiert und seinen ganzen Geist darauf verwandt, alle Mittel zu suchen, die sie überzeugen würden. Darin hatte all sein Tun bestanden; und in seinem letzten Arbeitsjahr ist er ganz damit beschäftigt gewesen, mannigfaltige Gedanken zu diesem Thema zu sammeln. Aber Gott, der ihm diesen Plan und alle diese Gedanken eingegeben hatte, hat aus uns unbekannten Gründen nicht erlaubt, dass er sie zur Vollkommenheit führe.

[41] Allein die Weltabkehr, die er so sorgsam praktizierte, hinderte ihn nicht daran, häufig Leute von großem Geist und hohem Stand zu sehen, die sich mit dem Gedanken an einen Rückzug trugen, ihn nach seinen Ansichten fragten und diese genau befolgten; und andere, die von Zweifeln über Glaubensdinge geplagt wurden und wussten, dass sein Wissen hierüber groß war, kamen, um ihn zu Rate zu ziehen, und kehrten stets befriedigt zurück; sodass alle diese Personen, die gegenwärtig sehr christlich leben, noch heute bezeugen, dass all das Gute, das sie tun, seinen Auffassungen, seinen Ratschlägen und den erhellenden Einsichten, die er ihnen geschenkt hatte, geschuldet ist.

[42] Obwohl diese Gespräche, in die er sich oft eingebunden fand, allesamt der Nächstenliebe entsprangen, hinterließen sie in ihm doch eine gewisse Furcht, dass in ihnen eine Gefahr zu finden sei. Da er aber glaubte, die Hilfe, um die diese Personen ihn baten, nach bestem Gewissen nicht ablehnen zu können, hatte er hierfür ein Heilmittel ausfindig gemacht. Er nahm bei diesen Gelegenheiten einen mit Stacheln bewehrten Eisengürtel, legte ihn sich aufs nackte Fleisch, und sobald ihm irgendein eitler Gedanke kam oder er irgendein Gefallen an dem Ort fand, an dem er sich aufhielt, oder dergleichen mehr, brachte er sich Stöße mit dem Ellenbogen bei, um die Heftigkeit der Stiche zu verdoppeln, und rief sich solchermaßen seine Pflicht selbst in Erinnerung. Diese Praxis erschien ihm so nützlich, dass er sie bis zum Tode beibehielt, selbst in den letzten Tagen seines Lebens, als er unaufhörlich litt, weil er weder schreiben noch lesen konnte und dazu gezwungen war, untätig zu bleiben und gelegentlich spazieren zu gehen. Er fürchtete ständig, dass dieser Mangel an Beschäftigung ihn von seinen Zielen ablenke. Wir haben von all diesen Dingen erst nach seinem Tod durch eine Person von sehr großer Tugendhaftigkeit erfahren, die sehr viel Vertrauen in ihn hatte, und der er aus Gründen, die sie selbst betrafen, aufgetragen hatte, dies zu sagen.

[43] Die Strenge, die er an sich selbst verübte, wurde aus der großen Maxime gezogen, auf die er die gesamte Ordnung seines Lebens seit Beginn seines Rückzugs gegründet hatte: jeglichem Vergnügen zu entsagen. Auch verfehlte er nicht die genaue Praxis jener anderen, die ihn dazu verpflichtete, allem Überflüssigen zu entsagen; denn er entledigte sich so sorgsam aller unnützen Dinge, dass er sich nach und nach damit begnügte, keinen Wandbehang mehr in seinem Zimmer zu haben, weil er einen solchen nicht für notwendig erachtete, und überdies war er hierzu nicht um der Wohlanständigkeit willen verpflichtet, weil ohnehin nur Leute hereinkamen, denen er ständig empfahl, sich einzuschränken; somit waren sie nicht überrascht, dass er die Lebensweise führte, die er anderen riet.

[44] So verbrachte er fünf Jahre seines Lebens, vom dreißigsten bis zum fünfunddreißigsten, in steter Arbeit für Gott oder seinen Nächsten oder in dem Versuch, sich selbst zu vervollkommnen; und man könnte in gewisser Weise sagen, dass dies alles an Lebenszeit war, denn die vier Jahre, die Gott ihm danach geschenkt hat, waren nur noch ein fortwährendes Schmachten. Es war nicht eigentlich eine Krankheit, die neu aufgetreten wäre, sondern eine Verdoppelung jener großen Unpässlichkeiten, für die er seit seiner Jugend anfällig war. Nun aber wurde er so heftig von ihnen befallen, dass er ihnen letztlich unterlag; und während dieser ganzen Zeit konnte er nicht einen Augenblick an dem großen Werk arbeiten, das er sich für die Religion vorgenommen hatte, noch den Personen beistehen, die sich mit der Bitte um Rat an ihn wandten, weder schriftlich noch mündlich; denn seine Leiden waren so groß, dass er sie nicht zufriedenstellen konnte, obwohl er sich dies sehr wünschte.

[45] Diese Erneuerung seiner Leiden begann mit einem Zahnschmerz, der ihm völlig den Schlaf raubte. In den langen Stunden des Wachens kam ihm eines Nachts unabsichtlich ein Gedanke über den Entwurf der Rollkurve in den Sinn. Diesem Gedanken folgte ein anderer, und diesem wieder ein anderer, und schließlich eine Vielzahl sich aneinanderreihender Gedanken, die ihm gleichsam gegen seinen Willen die Beweisführung all dieser Dinge offenbarten, von denen er selbst überrascht war. Da er aber seit Langem all diesen Erkenntnissen entsagt hatte, verfiel er gar nicht erst darauf, sie aufzuschreiben. Nichtsdestoweniger erzählte er gelegentlich einer Person davon, der er allen erdenklichen Respekt zollte und der gegenüber er sich für die Zuneigung, mit der diese ihn beehrte, erkenntlich zeigen wollte, und diese Person9, die aufgrund ihres Mitleids, ihrer besonderen geistigen Vorzüge und der Vornehmheit ihrer Geburt so schätzenswert ist, und die hinsichtlich des Erzählten einen Plan allein zu Gottes Ehren gefasst hatte, hielt es für ratsam, dass er davon tunlich Gebrauch mache und es anschließend drucken lasse.

[46] Nun erst, wenn auch in der wundersamen Eile von achtzehn Tagen10, schrieb er es auf; denn dies entsprach der Arbeitsweise der Drucker, die gleichzeitig zwei verschiedene Abhandlungen besorgten, ohne dass es je eine andere Kopie als die für den Druck verfasste gegeben hätte; und so wurde es erst sechs Monate, nachdem es ihm eingefallen war, gedruckt.11

[47] Indes seine Beschwernisse, die noch immer andauerten, ohne ihm eine Ruhepause zu gönnen, beeinträchtigten ihn wie gesagt so sehr, dass er nicht mehr arbeiten und so gut wie niemanden sehen konnte. Aber wenn sie ihn auch daran hinderten, der Öffentlichkeit und den Einzelnen zu dienen, waren sie für ihn selbst doch nicht unnütz; er hat sie so friedvoll und geduldig ertragen, dass es Anlass gibt zu glauben, Gott habe auf diesem Wege erreichen wollen, ihn so zu formen, wie er ihn haben wollte, wenn er vor ihm erscheine; denn während dieser langen Krankheit hat er sich nie von seinem Ziel abgewandt und stets die zwei großen Maximen im Sinn gehabt, allen Vergnügungen und jeglicher Überflüssigkeit zu entsagen. Er praktizierte sie noch im stärksten Leiden mit kontinuierlicher Wachsamkeit über seine Sinne, denen er absolut alles versagte, was ihnen angenehm war; und als die Notwendigkeit ihn zwang, etwas zu tun, das ihnen Befriedigung verschaffen konnte, verfügte er über eine wunderbare Geschicklichkeit, seinen Geist davon abzuwenden, damit er daran keinen Anteil habe.

[48] Ein Beispiel. Seine andauernden Krankheiten zwangen ihn zu leichter Kost, und er bemühte sich sehr, nichts von dem, was er aß, zu genießen. Wir wurden gewahr, dass er, ganz gleich welche Sorgfalt man darauf verwandte, ein schmackhaftes Stück Fleisch für ihn zu finden, aufgrund des Ekels, dem er unterworfen war, niemals gesagt hat: »Das schmeckt gut.« Und selbst dann, wenn man ihm ein Gericht der Saison servierte und ihn nach dem Essen fragte, ob es ihm geschmeckt habe, sagte er einfach: »Man hätte mich rechtzeitig davon in Kenntnis setzen sollen, denn gegenwärtig kann ich mich nicht daran erinnern, und ich gestehe Ihnen, dass ich darauf nicht geachtet habe.« Und wenn es vorkam, dass jemand die Güte eines Stücks Fleisch in seiner Gegenwart lobte, konnte er das nicht ertragen und nannte das »sinnlich sein«, und sogar dann noch, wenn es sich um die gewöhnlichsten Dinge handelte, denn er sagte, es sei ein Fehler, zu essen, um den Geschmack zufriedenzustellen, der stets ein Übel sei.

[49] Um zu verhindern, diesem Übel zu verfallen, hat er nie erlauben wollen, dass man ihm irgendeine Soße oder ein Ragout zubereitete, ja nicht einmal Orangen- oder Traubensaft, noch sonst irgendetwas, das den Appetit anregt, obwohl er alle diese Dinge natürlich liebte. Und um sich in diesen festen Grenzen zu halten, hatte er seit dem Beginn seines Rückzugs auf die Bedürfnisse seines Magens geachtet und sich von da an darauf eingestellt, zu essen, was er essen musste, sodass er, welchen Appetit er auch hatte, diesem nie nachgab; und welchen Ekel er auch empfand, so musste er doch essen, und wenn man ihn nach dem Grund fragte, warum er sich so einschränkte, antwortete er, dass es das Bedürfnis des Magens sei, welches man befriedigen müsse, und nicht den Appetit.

[50] Die Kasteiung seiner Sinne ging nicht nur dahin, sich in allem zu beschneiden, was ihnen angenehm sein konnte, sondern weiterhin, ihnen aus eben diesem Grund nichts zu versagen, was ihnen missfallen könnte, seien es Nahrungsmittel, seien es Heilmittel. Er hat vier Jahre lang Kraftbrühen zu sich genommen, ohne den geringsten Überdruss zu bezeigen; er schluckte völlig sorglos alle Dinge, die man ihm für seine Gesundheit verordnete, wie heikel diese auch sein mochten; und als ich darüber erstaunte, dass er nicht den geringsten Widerwillen bezeugte, wenn er sie einnahm, lachte er mich aus und sagte, er könne nicht verstehen, wie man Widerwillen bezeugen könne, wenn man eine Medizin freiwillig einnahm, nachdem man davor gewarnt worden war, dass sie schlecht schmecke, und dass es nur Gewalt oder Überraschung seien, die diese Wirkung erzielten. Auf diese Weise arbeitete er ununterbrochen daran, seine Sinne zu kasteien.

[51] Er hegte eine so große Liebe für die Armut, dass sie ihm stets gegenwärtig war, und folglich war, wenn er etwas unternehmen wollte oder jemand ihn um Rat fragte, der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam, der, ob man sich dabei in Armut üben könne. Eine Sache, über die er sich am meisten befragte, war die Grille, sich in allem hervorzutun, wie etwa, sich der besten Handwerker zu bedienen und dergleichen mehr. Er konnte es noch immer nicht ertragen, dass man fürsorglich nach allen Arten von Bequemlichkeit strebte, wie etwa, alle Gegenstände in Reichweite zu haben und Tausend andere Dinge, die man ohne Gewissensbisse tut, weil man nicht glaubt, dass daran etwas Schlechtes sei. Auch hierüber urteilte er nicht, sagte uns aber oft, es gebe nichts, was fähiger wäre, den Geist der Armut auszulöschen als jene seltsame Suche nach Bequemlichkeit und jene Schicklichkeit, immer in allem das Beste und am besten Gemachte zu wollen, und sagte uns, dass man unter den Handwerkern die ärmsten und ehrlichsten Leute wählen müsse, nicht jene Vortrefflichkeit, die nie notwendig sei und nie zu etwas nütze sein könne. Manchmal rief er aus: »Wenn mein Herz so arm wäre wie mein Geist, wäre ich wohl glücklich; denn ich bin auf wunderbare Weise überzeugt, dass die Armut ein großartiges Mittel ist, um sein Heil zu erlangen.«

[52] Diese Liebe, die er für die Armut hegte, bewegte ihn dazu, die Armen so innig zu lieben, dass er nie ein Almosen hat versagen können, obwohl er es vom Nötigsten nahm, denn er besaß kaum Vermögen und musste eine Ausgabe tätigen, die seine aufgrund seiner Gebrechen schmalen Einkünfte überstieg. Wollte man ihm dies aber vor Augen führen, wenn er ein beträchtliches Almosen gab, wurde er ärgerlich und sagte: »Eine Sache ist mir aufgefallen: Wie arm man auch sein mag, im Sterben hinterlässt man immer noch etwas.« Dann schwieg er; und manchmal ist er so stürmisch gewesen, dass er sich damit begnügte, einen schlechten Tausch zu machen, um den Armen alles gegeben zu haben, was er besaß, ohne dass er hernach seinen Freunden zur Last fallen wollte.

[53] Sobald das Kutschwagen-Unternehmen gegründet war, sagte er zu mir, er wolle von den Grundpächtern auf seinen Anteil einen Abschlag von 1000 Francs ausbitten, um das Geld den Armen von Blois zu schicken, und weil sie seine Bekannten waren, verhandelte man, ob man mit ihnen einig bleiben könne; als ich ihm sagte, dass das Unternehmen dafür nicht sicher genug sei und man noch ein Jahr zuwarten solle, gab er mir unverzüglich zur Antwort, dass er keinen so großen Nachteil darin sehe, denn wenn sie dabei Verluste machten, so werde er sie ihnen von seinem Guthaben zurückerstatten, und dass er sich davor hüte, ein weiteres Jahr zu warten, weil die Not zu erdrückend sei, um die Mildtätigkeit hinauszuzögern. Da man sich aber mit diesen Personen nicht einig wurde, konnte er den Entschluss nicht umsetzen, mit dem er uns doch die Wahrheit dessen zeigte, was er uns so oft gesagt hatte: dass er ein Guthaben nur wünschte, um damit den Armen zu helfen, da er ja zur selben Zeit, in der Gott ihm Hoffnung darauf machte, es zu besitzen, anfing, es im Voraus zu verteilen, und dies noch bevor er dessen sicher war.

[54] Seine Mildtätigkeit gegenüber den Armen war schon immer sehr groß gewesen, hatte sich aber gegen Ende seines Lebens so sehr gesteigert, dass ich ihn nicht mehr zufrieden stellen konnte, außer dadurch, mich mit ihm darüber zu unterhalten. Mit großer Sorgfalt redete er mir seit vier Jahren zu, mich dem Armendienst zu widmen und auch meine Kinder dazu zu bewegen. Wenn ich ihm aber sagte, ich fürchte, dies lenke mich von meinen familiären Pflichten ab, sagte er mir, dass dies lediglich ein Mangel an gutem Willen sei, und dass man, da es verschiedene Grade der Ausübung dieser Tugend gebe, sehr wohl dafür sorgen könne, sie so zu praktizieren, dass sie den häuslichen Beschäftigungen nicht schade. Er sagte, dass dies die allgemeine Berufung der Christen sei und man keines besonderen Zeichens bedürfe, um zu wissen, ob man hierzu berufen sei, weil gewiss sei, dass Jesus danach die Welt richten werde; und wenn man bedenke, dass allein die Unterlassung dieser Tugend ein Grund zur Verdammnis sei, so sei dieser eine Gedanke fähig, uns dazu zu bewegen, uns von allem zu entledigen, sofern wir Glauben besäßen. Er sagte uns weiterhin, dass der Umgang mit den Armen extrem nützlich sei, denn wenn man beständig das Elend sehe, von dem sie befallen sind, und sehe, dass ihnen selbst im Endstadium ihrer Krankheiten das Nötigste fehlt, so müsse man daraufhin schon recht gefühllos sein, wollte man nicht freiwillig auf unnötige Annehmlichkeiten und überflüssige Anpassungen verzichten.

[55] Alle diese Reden spornten uns an und verleiteten uns bisweilen zu Vorschlägen, wie man Mittel für allgemeine Verordnungen finden könne, die sich um alle Erfordernisse kümmerten; aber er fand das nicht gut und sagte, dass wir nicht zum Allgemeinen, sondern zum Besonderen berufen seien und er glaube, dass die gottgefälligste Art die sei, den Armen arm zu dienen, das heißt jeder nach seinen Kräften, ohne den Geist mit diesen großen Plänen vollzustopfen, die jener Vortrefflichkeit gleichen, der er Ausgesuchtheit in allen Dingen vorwarf. Es ist nicht so, dass er die Einrichtung allgemein zugänglicher Krankenhäuser schlecht fand; im Gegenteil war er sehr von ihr angetan, wie er durch sein Testament wohl bezeugte; aber er sagte, dass diese großen Unternehmungen bestimmten Personen vorbehalten seien, die Gott dazu ausersah, und die er gleichsam sichtbar dorthin führte; dass aber dies nicht die allgemeine Berufung aller Welt sei, wie es etwa der besondere, tägliche Beistand der Armen war.

[56] Das war ein Teil der Instruktionen, die er uns gab, um uns zur Ausübung der Tugend zu bewegen, die einen so großen Platz in seinem Herzen einnahm; es ist eine kleine Probe, die uns die Größe seiner Mildtätigkeit erkennen lässt.

[57] Seine Reinheit fiel nicht geringer aus, und er hatte so große Achtung vor dieser Tugend, dass er beständig auf der Hut war, um zu verhindern, dass sie verletzt werde, sei es in ihm selbst, sei es in anderen; es ist nicht zu glauben, wie genau er in diesem Punkt war. Sogar ich fühlte mich dazu verpflichtet; denn er beanstandete häufig meine Reden, und wenn ich sie auch für sehr unschuldig hielt, so veranschaulichte er mir anschließend deren Fehler, die ich ohne seine Ansichten nie erkannt hätte. Wenn ich gelegentlich sagte, ich hätte eine schöne Frau gesehen, wurde er wütend und sagte mir, ich dürfe solche Reden niemals vor Lakaien oder jungen Leuten führen, weil ich nie wissen könne, welchen Gedanken ich dadurch in ihnen erwecke. Auch konnte er die Liebkosungen nicht ertragen, die ich von meinen Kindern empfing, und er sagte mir, man müsse ihnen dies abgewöhnen, dies könne ihnen nur schaden; und dass man ihnen Zärtlichkeit auf Tausend andere Arten bezeigen könne. Das waren die Instruktionen, die er mir hierüber erteilte, und solcherart war die Wachsamkeit in Bezug auf den Erhalt der Reinheit in ihm und in anderen.

[58] Etwa drei Monate vor seinem Tod hatte er eine Begegnung, die davon ein fühlbares Zeugnis ablegt und gleichzeitig die Größe seiner Mildtätigkeit erkennen lässt. Als er eines Tages aus der Messe in Saint-Sulpice kam, trat ein junges, sehr schönes Mädchen von ungefähr fünfzehn Jahren auf ihn zu und bat ihn um ein Almosen. Es rührte ihn, diese Person einer so offenkundigen Gefahr ausgesetzt zu sehen. Er fragte sie, wer sie sei und was sie dazu zwinge, auf diese Weise um Almosen zu bitten; und als er erfuhr, dass sie vom Land stammte, dass ihr Vater tot war und ihre Mutter erkrankt – man hatte sie am selben Tag ins Hôtel-Dieu eingeliefert –, glaubte er, Gott habe sie zu ihm gesandt, sobald sie in Not gekommen war. Folglich brachte er sie noch in derselben Stunde ins Seminar und vertraute sie dort einem Priester an, dem er Geld gab, und den er bat, dafür Sorge zu tragen, in Anbetracht ihrer Jugend Bedingungen für sie zu schaffen, unter denen sie Benehmen und Selbstsicherheit erlernen könne. Um ihn bei dieser Mühe zu entlasten, sagte er ihm, er werde ihr am kommenden Tag eine Frau schicken, die ihr Kleidung kaufe und alles, was nötig sei, damit sie in der Lage wäre, einer Herrin zu dienen. Am andern Tag schickte er ihr eine Frau, die so tüchtig mit dem guten Priester zusammenarbeitete, dass sie sie, nachdem sie angekleidet worden war, in einer sehr guten Verfassung sahen. Und als dieser gute Geistliche die Frau nach dem Namen desjenigen fragte, der eine so große Mildtätigkeit walten ließ, sagte sie ihm, sie habe nicht die Befugnis, ihm diesen zu nennen, jedoch sehe sie ihn von Zeit zu Zeit, um sich mit ihm der Bedürfnisse dieses jungen Mädchens anzunehmen. Er sagte ihr diesbezüglich: »Ich bitte Sie inständig darum, von ihm die Erlaubnis zu erwirken, dass Sie mir seinen Namen nennen. Ich verspreche Ihnen, dass ich Zeit seines Lebens nicht darüber sprechen werde; wenn aber Gott wollte, dass er vor mir stürbe, wäre es mir ein großer Trost, diese Tat öffentlich bekannt zu machen, denn ich finde sie so schön, dass ich es nicht ertragen könnte, wenn sie vergessen bliebe.« So beurteilte nach einer einzigen Begegnung dieser gute Priester, ohne ihn zu kennen, die Größe seiner Mildtätigkeit und Liebe zur Reinheit.

[59] Er hegte für uns äußerste Zärtlichkeit, aber diese Zuneigung ging nicht bis zur Anhänglichkeit. Davon gab er beim Tode meiner Schwester, die sechs Monate vor ihm starb, einen fühlbaren Beweis. Denn als er diese Nachricht erhielt, sagte er lediglich: »Gott möge uns die Gnade erteilen, genauso gut zu sterben!«, und er hat sich seither in bewundernswerter Weise den Befehlen der göttlichen Vorsehung unterworfen, ohne jemals an etwas anderes zu denken als an die großen Gnaden, die Gott meiner Schwester zu Lebzeiten hatte zuteilwerden lassen, und an die Umstände zum Zeitpunkt ihres Todes; dies bewog ihn dazu, ununterbrochen zu sagen: »Glücklich sind jene, die sterben, vorausgesetzt, sie sterben im Herrn!« Und als er mich in beständiger Trübsal ob dieses so stark empfundenen Verlustes sah, wurde er zornig und sagte zu mir, dass dies nicht gut sei und man angesichts des Todes der Gerechten nicht solche Gefühle haben dürfe, sondern im Gegenteil Gott für das preisen müsse, womit er sie für die kleinen Dienste, die sie an ihm getan, so früh belohnt habe.

[60] Solchermaßen ließ er erkennen, dass er keinerlei Bindung an die hatte, die er liebte; denn wenn er zu einer solchen fähig gewesen wäre, dann zweifellos bei meiner Schwester, weil sie mit Sicherheit die Person war, die er auf der Welt am meisten liebte.

[61] Aber dabei ließ er es nicht bewenden; denn nicht nur hatte er keinerlei Bindung an andere, sondern er wollte auch auf keinen Fall, dass die anderen an ihm hingen. Ich spreche nicht von jenen verbrecherischen und gefährlichen Bindungen, denn das ist derb und aller Welt ersichtlich, sondern ich spreche von den unschuldigsten Freundschaften: Sie gehörten zu den Dingen, über die er sich mit größter Regelmäßigkeit prüfte, um keinen Gegenstand für sie zu bilden, und sogar, um sie zu verhindern. Und da ich dies nicht wusste, war ich ganz überrascht über die Zurückweisungen, die er mir manchmal erteilte, und erzählte dies meiner Schwester, indem ich mich bei ihr darüber beklagte, dass mein Bruder mich nicht liebe, und dass es scheine, als bereite ich ihm Schmerzen, sogar dann, wenn ich ihm während seiner Krankheiten auf liebevollste Art behilflich war. Meine Schwester sagte mir, hierüber würde ich mich irren, sie wisse im Gegenteil, dass er eine so große Zuneigung für mich empfand, wie ich sie mir nur wünschen könne.

[62] Mit diesen Worten richtete meine Schwester meinen Geist wieder auf, und bald sah ich hierfür Beweise; denn sobald sich irgendeine Gelegenheit ergab, wo ich der Hilfe meines Bruders bedurfte, nahm er sie so fürsorglich und unter so vielen Zärtlichkeitsbezeugungen wahr, dass ich keinen Anlass hatte zu bezweifeln, dass er mich sehr liebte; folglich führte ich die kühle Art, mit der er die Anstrengungen aufnahm, die ich unternahm, um ihm die Langeweile zu vertreiben, auf den Kummer über seine Krankheit zurück; und dieses Rätsel ist mir erst an seinem Todestag erklärt worden, als eine der aufgrund ihrer Geistesgröße und ihres Mitleids schätzenswertesten Personen, mit der er ausführliche Gespräche über die Ausübung der Tugend geführt hatte, mir sagte, er habe sie unter anderem davon in Kenntnis gesetzt, dass er es nie ertragen habe, von wem auch immer anhänglich geliebt zu werden; es sei dies ein Fehler, bezüglich dessen man sich nicht genug überprüfe, weil man sein Ausmaß nicht genügend kenne und nicht bedenke, dass man, indem man diese Anhänglichkeiten schüre und sie dulde, ein Herz einnehme, das nur Gott allein gehören sollte, und dass man damit einen kleinen Diebstahl an der Sache beging, die ihm die kostbarste auf der Welt war.

[63] Wir haben anschließend recht gut gesehen, dass diese Grundregel wohl schon zuvor in seinem Herzen war; denn um sie stets gegenwärtig zu haben, hatte er sie eigenhändig auf ein gesondertes Blättchen geschrieben. Darauf stand: »Es ist ungerecht, dass man sich an mich bindet, und ist es auch dann noch, wenn man es mit Vergnügen und freiwillig tut. Ich würde diejenigen enttäuschen, in denen ich das Verlangen danach entstehen ließe, denn ich bin niemandes Ziel und habe nichts von dem, was sie zufrieden stellt. Bin ich nicht bereit zu sterben? Folglich wird der Gegenstand ihrer Anhänglichkeit sterben. Da ich schuldig wäre, wenn ich etwas Falsches glauben machte, und sei es, indem ich auf sanfte Art vom Falschen überzeugte und sie es mit Vergnügen glaubten und mir damit ein Vergnügen bereiteten, bin ich folglich ebenso schuldig, wenn ich mich lieben lasse und die Leute anziehe, damit sie sich an mich binden. Ich muss diejenigen, die bereit wären, die Lüge zu billigen, warnen, dass sie sie nicht glauben dürfen, welcher Vorteil auch immer daraus auf mich entfiele, und ebenso, dass sie sich nicht an mich binden dürfen, denn sie müssen ihr Leben und ihre Bemühungen darauf verwenden, Gott gefällig zu sein oder ihn zu suchen.«

[64] Man sieht, auf welche Weise er sich selbst unterwies, und wie gut er seine Anweisungen ausführte, sodass ich selbst mich darin getäuscht hatte. An diesen Zeichen, die wir von seinen Praktiken haben, und von denen wir nur durch Zufall Kenntnis erhielten, kann man einen Teil der Erleuchtung erkennen, die Gott ihm zur Vervollkommnung des christlichen Lebens schenkte.

[65] Er war mit so großem Eifer auf den Befehl Gottes bedacht, dass er es nicht ertragen konnte, wenn dieser wodurch auch immer verletzt wurde; darum entbrannte er so sehr für den Dienst am König, dass er sich seit den Unruhen in Paris jedermann widersetzte, zumal er alle Gründe, die man zur Entschuldigung dieser Rebellion vorgab, Vorwände nannte; und er sagte, in einem als Republik begründeten Staat wie Venedig sei es ein sehr großes Übel, zu veranlassen, dass man dort einen König einsetze und die Freiheit von Völkern unterdrücke, die Gott ihnen gegeben hatte; in einem Staat aber, in dem die königliche Gewalt etabliert ist, sei die Verletzung der Achtung, die man ihm schulde, eine Art Sakrileg, weil es sich nicht nur um ein Ebenbild Gottes, sondern um eine Teilhabe an eben dieser Gewalt handle, der man sich nicht widersetzen könne, ohne dem Befehl Gottes ersichtlich Widerstand zu leisten; und dass man folglich das Ausmaß dieses Fehlers nicht genug betonen könne, zumal mit ihm immer ein Bürgerkrieg einhergehe, der die größte Sünde sei, die man gegen die Nächstenliebe begehen könne. Und er befolgte diese Grundregel mit solchem Ernst, dass er seinerzeit sehr beträchtliche Vorteile ablehnte, um sie nicht zu verfehlen. Für gewöhnlich sagte er, er sei so weit von dieser Sünde entfernt wie davon, Leute umzubringen oder Straßenraub zu begehen; und schließlich gebe es nichts, was seinem Naturell mehr widerspreche, und was ihn weniger in Versuchung führe.

[66] Das war die Gefühlslage, in der er sich hinsichtlich des Dienstes am König befand. Auch war er unversöhnlich gegenüber all jenen, die sich der Sache widersetzten. Dass dies nicht aufgrund einer Gemütsanlage oder aus einer persönlichen Gefühlsbindung heraus geschah, wird aus der Tatsache ersichtlich, dass er eine bewundernswerte Milde gegenüber jenen walten ließ, die ihn persönlich beleidigten; somit hat er nie von dem einen auf das andere geschlossen, und er vergaß das, was allein seine Person anging, so vollständig, dass man Mühe hatte, ihn daran zu erinnern, und die Dinge zu diesem Zwecke ausführlich begründen musste. Und da dies zuweilen auf Bewunderung stieß, sagte er: »Erstaunt nicht darüber, es geschieht nicht aus Tugend, sondern aus wirklichem Vergessen heraus; ich erinnere mich überhaupt nicht daran.« Indes lässt sich daraus sicher ablesen, dass die Kränkungen, die nur seine Person betrafen, keinen großen Eindruck auf ihn machten, da er sie ja so leicht vergaß; denn er hatte ein so ausgezeichnetes Gedächtnis, dass er oft sagte, er habe niemals Dinge vergessen, die er sich habe merken wollen.

[67] In dieser Sanftheit im Erdulden der ungefälligsten Dinge hat er sich bis zum Schluss geübt; denn kurze Zeit vor seinem Tod, als er von einer Person, die ihm sehr verpflichtet war, auf einem Gebiet beleidigt worden war, das für ihn einen wunden Punkt darstellte, und gleichzeitig von dieser Person einen Dienst erwiesen bekommen hatte, dankte er ihr überschwänglich mit vielen Komplimenten und Höflichkeiten dafür. Indes geschah dies nicht aus Vergesslichkeit, denn beides ereignete sich gleichzeitig, sondern es war tatsächlich so, dass er keinen Groll gegen die Beleidigungen verspürte, die allein seiner Person galten.

[68] Alle diese Neigungen, deren Besonderheiten ich wahrgenommen habe, werden in der Dichte eines Bildes ersichtlicher werden, das er dergestalt in einer kleinen Handschrift von sich selbst zeichnete: »Ich liebe die Armut, weil Jesus Christus12 sie geliebt hat. Ich liebe die Güter, weil sie die Mittel bereitstellen, um den Elenden beizustehen. Ich wahre Treue gegenüber aller Welt. Ich vergelte denen nicht das Böse, die mir solches angetan, sondern wünsche ihnen eine der meinen vergleichbare Verfassung, in der man weder Böses noch Gutes seitens der Menschen empfängt. Ich versuche, gerecht, wahrhaftig, aufrichtig und treu gegenüber allen Menschen zu sein. Ich hege eine herzliche Zärtlichkeit für diejenigen, mit denen Gott mich enger vereint hat. Und ob ich nun allein bin oder Menschen angesichtig werde, unterstehen alle meine Handlungen dem Blick Gottes, der sie beurteilen soll, und dem ich sie allesamt gewidmet habe.

[69] Das sind meine Gefühle. Und alle Tage meines Lebens preise ich meinen Erlöser, der sie mir eingegeben hat und der aus einem Mann voller Schwäche, Elend, Begierde, Stolz und Ehrgeiz einen von all diesen Übeln befreiten Menschen gemacht hat, kraft seiner Gnade, der aller Ruhm für das gebührt, was durch mein Zutun nur Elend und Irrtum war.«

[70] So hatte er sich selbst beschrieben, und indem er den Weg, auf dem Gott ihn lenkte, beständig vor Augen hatte, konnte er nie von diesem abkommen.

[71] Das außerordentliche Wissen, das sich seiner Geistesgröße zugesellte, unterband nicht eine wunderbare Einfachheit, die sich im gesamten Verlauf seines weiteren Lebens zeigte und ihn alle religiösen Praktiken genau ausüben ließ.

[72] Er hegte eine fühlbare Liebe für den gesamten Gottesdienst, vor allem aber für die kleinen Horen, weil sie aus Psalm 118 zusammengestellt sind, in dem er so viele bewundernswerte Dinge fand, dass er Erquickung dabei verspürte, ihn zu rezitieren.13 Wenn er sich mit seinen Freunden über die Schönheit dieses Psalms unterhielt, geriet er in einen solchen Freudentaumel, dass er ganz außer sich zu sein schien; und diese Meditation hatte ihn so feinfühlig für all die Dinge werden lassen, mit denen man versucht, Gott zu ehren, dass er nicht eines davon vernachlässigte. Als man ihm allmonatlich Billets zusandte, wie man es vielerorts tut, empfing er sie mit bewundernswerter Achtung und rezitierte täglich die Sentenz daraus; und in den letzten vier Jahren seines Lebens, da er nicht arbeiten konnte, bestand seine vornehmliche Vergnügung darin, Kirchen zu besuchen, in denen Reliquien ausgestellt waren oder wo es ein Hochfest gab; und er hatte zu diesem Zwecke einen Almanach, der ihn über die Orte unterrichtete, an denen er besondere Andachtsübungen finden werde; und er führte all dies so fromm und einfach aus, dass jene, die ihn sahen, darüber erstaunt waren, was Anlass zu dem schönen Wort einer sehr tugendhaften und sehr erleuchteten Person gegeben hat: dass die Gnade Gottes sich in den großen Geistern durch die kleinen Dinge und in den gewöhnlichen Geistern durch die großen Dinge zu erkennen gibt.

[73] Diese große Einfachheit zeigte sich zuerst, wenn man mit ihm über Gott sprach, oder über ihn selbst; sodass am Vorabend seines Todes ein Geistlicher, der ein Mann von sehr großer Gelehrsamkeit und sehr großer Tugend ist14 und gekommen war, um ihn zu sehen, wie er es sich gewünscht hatte, und eine Stunde bei ihm geblieben war, so erbaut von ihm ging, dass er zu mir sagte: »Kommen Sie, trösten Sie sich; wenn Gott ihn zu sich ruft, haben Sie allen Grund, ihn für die Gnaden zu preisen, die er ihm angedeihen lässt. Ich habe stets viele große Dinge an ihm bewundert, aber ich habe nie die große Einfachheit bemerkt, die ich soeben sah. Das ist unvergleichlich bei einem Geist wie dem seinen, und ich wünschte von ganzem Herzen, ich wäre an seiner Stelle.«

[74] Der Herr Pfarrer von Saint-Étienne15, der ihn während seiner ganzen Krankheit gesehen hat, sah dies genauso und sagte stündlich: »Er ist ein Kind, er ist bescheiden, ist ergeben wie ein Kind.« Aufgrund eben dieser Einfachheit hatte man völlige Freiheit, ihn über seine Schwächen in Kenntnis zu setzen, und er hielt sich widerstandslos an die Ratschläge, die man ihm gab. Die außerordentliche Lebendigkeit seines Geistes machte ihn manchmal so ungeduldig, dass man Mühe hatte, ihn zufriedenzustellen; aber wenn man ihn darüber aufklärte, oder wenn er selbst merkte, dass er jemanden in seiner Ungeduld verstimmt hatte, machte er dies unverzüglich durch ein so sanftes Benehmen und durch so viele Wohltaten wieder gut, dass er dadurch nie jemandes Freundschaft verloren hat.

[75] Ich gebe mir Mühe, mich so kurz wie möglich zu fassen; ansonsten hätte ich wohl viele Besonderheiten über jedes einzelne dieser Dinge zu sagen, die ich bemerkt habe; aber weil ich mich nicht darüber verbreiten will, komme ich zu seiner letzten Krankheit.

[76] Sie begann mit einem sonderbaren Ekel, der ihn zwei Monate vor seinem Tod ergriff. Sein Arzt riet ihm, sich fester Speisen zu enthalten und auf Abführmittel zu verzichten. In diesem Zustand vollbrachte er eine ziemlich bemerkenswerte mildtätige Handlung.

[77] Er hatte einen guten Mann mit seiner Frau und seinem ganzen Haushalt bei sich aufgenommen, ihnen ein Zimmer gegeben und sie mit Holz versorgt; all dies geschah aus Mildtätigkeit, denn er zog daraus keinen anderen Nutzen als den, nicht allein im Haus zu sein. Dieser gute Mann hatte einen Sohn, der damals an den Pocken erkrankt war, und mein Bruder, der meiner Hilfe bedurfte, hatte Angst, wegen meiner Kinder würde ich befürchten, zu ihm zu gehen. Diese Angst nötigte ihn zu dem Gedanken, sich von dem Kranken zu trennen; da er aber fürchtete, dass ein Transport außer Haus in diesem Zustand gefährlich für ihn sei, ging er, obwohl er schon sehr krank war, lieber selbst. Er sagte: »Für mich ist es weniger gefährlich die Unterkunft zu wechseln, von daher muss ich es sein, der sie verlässt.« So verließ er am 29. Juni sein Haus und kam zu uns und kehrte nie wieder nach Hause zurück; denn drei Tage später wurde er von einer sehr heftigen Kolik befallen, die ihm völlig den Schlaf raubte. Da er aber über eine große Geisteskraft und großen Mut verfügte, ertrug er seine Schmerzen mit bewundernswerter Geduld. Er ließ es sich nicht nehmen, jeden Tag aufzustehen und seine Arzneimittel selbst einzunehmen, ohne dulden zu wollen, dass man ihm den geringsten Dienst erwies. Die ihn behandelnden Ärzte sahen wohl, dass seine Schmerzen beträchtlich waren; weil sein Puls aber sehr stabil war, sein Zustand sich nicht verschlechterte und er nicht zu fiebern schien, versicherten sie, es bestünde keinerlei Gefahr, und bedienten sich gar dieser Worte: »Es besteht nicht die leiseste Gefahr.«

[78] Ungeachtet dieser Reden schickte er in Anbetracht der Tatsache, dass seine Schmerzen und die Schlaflosigkeit anhielten und ihn schwächten, am vierten Tag seiner Kolik, sogar noch bevor er das Bett hüten musste, nach dem Herrn Pfarrer und legte die Beichte ab. Das sorgte für Unruhe unter seinen Freunden und bewog einige von ihnen, ihn zu besuchen; sie waren ganz entsetzt vor Angst; und selbst die Ärzte waren davon so überrascht, dass sie sich der Bemerkung nicht enthalten konnten, dies sei ein Zeichen der Angst, das sie von seiner Seite nicht erwartet hätten. Mein Bruder wurde wütend, als er die Aufregung sah, die das verursachte hatte, und sagte zu mir: »Ich hätte die Kommunion empfangen wollen; weil ich aber sehe, dass man so überrascht auf meine Beichte reagiert, fürchte ich, dass sich das noch verstärkt; deshalb ist es besser, damit zu warten.« Und der Herr Pfarrer, der derselben Ansicht war, spendete die Kommunion nicht.

[79] Indes sein Leiden hielt an; und da der Herr Pfarrer ihn von Zeit zu Zeit besuchen kam, ließ er nicht eine dieser Gelegenheiten verstreichen, ohne zu beichten, und sagte nichts darüber, aus Angst, die Welt zu erschrecken, zumal die Ärzte immerzu versicherten, es bestehe bei seiner Krankheit keinerlei Gefahr. Tatsächlich trat eine Verminderung seiner Schmerzen ein, sodass er sich mitunter in seinem Zimmer erhob. Nichtsdestoweniger wichen sie nie ganz von ihm, sondern kehrten gleich wieder, und er magerte auch stark ab, was die Ärzte jedoch nicht erschreckte; aber was sie auch erzählen mochten, er sagte stets, dass er in Gefahr sei, und versäumte es nicht, jedes Mal, wenn der Herr Pfarrer ihn besuchen kam, zu beichten.

[80] Er schrieb während dieser Zeit sogar sein Testament, in dem die Armen nicht vergessen wurden, und tat sich Gewalt an, um ihnen nicht noch mehr zu geben, denn er sagte mir, dass er, wenn Herr Périer in Paris gewesen wäre und darin eingestimmt hätte, über sein ganzes Vermögen zugunsten der Armen verfügt hätte. Schließlich lag ihm nichts anderes im Sinn und am Herzen als die Armen, und er fragte mich manchmal: »Wie kommt es, dass ich nie etwas für die Armen getan habe, wo ich doch immer eine so große Liebe für sie empfunden habe?« Ich sagte zu ihm: »Es liegt daran, dass Sie nie ausreichend Güter besaßen, um ihnen große Hilfestellungen zu geben.« Er antwortete: »Da ich keine Güter besessen habe, die ich ihnen hätte geben können, hätte ich ihnen meine Zeit und meine Bemühung geben sollen; darin habe ich versagt, und wenn die Ärzte die Wahrheit sagen und Gott erlaubt, dass ich mich von dieser Krankheit erhole, bin ich entschlossen, für den Rest meines Lebens keine andere Arbeit, keine andere Beschäftigung zu haben als den Dienst an den Armen.« Das ist die Gefühlslage, in der Gott ihn zu sich genommen hat.

[81] Diese Sehnsucht nach Mildtätigkeit verband er während seiner Krankheit mit einer so bewundernswerten Geduld, dass er alle Personen, die ihn umgaben, erbaute und überraschte. Er sagte zu denen, die bezeugten, den Zustand, in dem er sich befand, schmerzlich zu empfinden, dass er damit überhaupt keine Mühe habe und sogar fürchte, zu genesen; und als man ihn diesbezüglich nach dem Grund fragte, sagte er: »Es ist, weil ich die Gefahren der Gesundheit und die Vorteile der Krankheit kenne.« Er sagte auch dann noch, als seine Schmerzen ein Höchstmaß erreicht hatten, sobald man sich grämte, ihn diese ertragen zu sehen: »Beklagt mich nicht; die Krankheit ist der natürliche Zustand der Christen, weil man darin so ist, wie man immer sein sollte: die Übel erduldend, aller Güter und aller Sinnesfreuden beraubt, frei von allen Leidenschaften, die einen im Laufe des Lebens durchweg plagen, ohne Ehrgeiz, ohne Geiz und in andauernder Erwartung des Todes. Ist dies nicht die Art, wie Christen ihr Leben zubringen sollten? Und ist es nicht ein großes Glück, wenn man sich notgedrungen in dem Zustand befindet, zu dem man verpflichtet ist, und nichts anderes zu tun hat, als sich bescheiden und friedlich zu unterwerfen? Deshalb bitte ich euch um nichts anderes als darum, Gott zu bitten, mir diese Gnade zu erteilen.« Das ist der Geist, in dem er all seine Leiden auf sich nahm.

[82] Er wünschte sich sehr, die Kommunion zu empfangen, aber die Ärzte widersetzten sich diesem Wunsch, indem sie sagten, er könne dies nicht auf nüchternen Magen tun, zumindest nicht vor Anbruch der Nacht, was sie, wenn es nicht unbedingt nötig war, für unangebracht hielten, und um die letzte Kommunion, das Viatikum, zu empfangen, müsse man in Lebensgefahr schweben; eine solche aber sahen sie bei ihm nicht gegeben und konnten ihm das somit nicht anraten. Dieser Widerstand machte ihn wütend, aber er war entschlossen, sich in ihn zu fügen.

[83] Da die Kolik noch immer anhielt, verordnete man ihm, Wasser zu trinken, was ihn in der Tat sehr erleichterte; aber am sechsten Tag der Trinkkur, der auf den 14. August fiel, fühlte er einen heftigen Schwindel in Verbindung mit starkem Kopfschmerz; und obwohl die Ärzte darüber nicht erstaunt waren und ihm versicherten, dass dies nur von den Aufgüssen herrühre, unterließ er es nicht, zu beichten, und bat mit unglaublicher Beharrlichkeit darum, dass man ihm die Kommunion spende und in Gottes Namen Wege finde, all die Nachteile aufzuheben, die man ihm gegenüber bis dahin vorgebracht hatte; und er drängte so sehr darauf, dass eine Person, die gerade zugegen war, ihm vorwarf, er sei ungeduldig und müsse die Gefühle seiner Freunde berücksichtigen; dass er sich besser befinde, dass er fast keine Koliken mehr habe, und dass es nun, da ihm nur noch ein Aufguss verbleibe, nicht gerecht sei, sich das heilige Altarsakrament bringen zu lassen, vielmehr sei es besser, damit zu warten, bis diese Handlung in der Kirche vollzogen werde. Darauf antwortete er: »Man fühlt mein Leiden nicht; man wird sich darin getäuscht haben; mein Kopfschmerz hat etwas außergewöhnlich Starkes an sich.«

[84] Dennoch wagte er, da er einen so großen Widerstand gegen seinen Wunsch sah, nicht mehr, davon zu sprechen; zu mir aber sagte er: »Weil man mir diese Gnade nicht gewähren möchte, würde ich sie gern durch irgendein gutes Werk aufwiegen, und da ich nicht im Haupt kommunizieren kann, würde ich gern in den Gliedern kommunizieren, und zu diesem Zwecke habe ich daran gedacht, einen armen Kranken hier zu haben, dem man die gleichen Dienste erweise wie mir, und für den man eigens eine Wärterin nehme, auf dass schließlich kein Unterschied zwischen ihm und mir bestehe, damit ich in dem Wissen, dass da ein Armer ist, der genauso gut behandelt wird wie ich, einen Trost inmitten der Verwirrung finde, die ich angesichts der Fülle an Dingen erleide, deren ich bedarf. Denn wenn ich daran denke, dass es zu der gleichen Zeit, in der ich mich wohl befinde, unendlich viele Arme gibt, die kränker sind als ich und denen das Nötigste fehlt, bereitet mir dies einen unerträglichen Schmerz; und folglich bitte ich Sie, für den Wunsch, den ich hege, den Herrn Pfarrer um einen Kranken zu ersuchen.«

[85] Ich schickte noch in dieser Stunde jemanden zum Herrn Pfarrer, der mitteilen ließ, dass es niemanden gebe, der in transportfähigem Zustand sei, dass er meinem Bruder aber unmittelbar nach seiner Genesung die Möglichkeit geben werde, seine Mildtätigkeit auszuüben, indem er ihm einen alten Mann anvertraue, um den er sich für den Rest seines Lebens kümmern könne. Denn der Herr Pfarrer zweifelte damals nicht daran, dass er geheilt werde.

[86] Als er sah, dass er keinen Armen bei sich im Haus aufnehmen konnte, bat er mich, ihm die Gnade zu erweisen, ihn ins Hospital für unheilbar Kranke bringen zu lassen, weil er den großen Wunsch verspürte, in Gesellschaft der Armen zu sterben. Ich sagte ihm, dass die Ärzte es nicht für angebracht hielten, ihn in seinem Zustand zu transportieren, was ihn sehr wütend machte; und er nahm mir das Versprechen ab, dass ich ihm, wenn ihm eine Ruhepause vergönnt sei, diese Befriedigung verschaffen würde.

[87] Indes ertrug er den immer stärker werdenden Kopfschmerz wie alle seine anderen Leiden auch, das heißt, ohne sich zu beklagen; einmal, am 17. August, auf dem Höhepunkt des Schmerzes, bat er mich, ärztlichen Rat einzuholen, aber gleichzeitig bekam er Gewissensbisse und sagte zu mir: »Ich fürchte, in dieser Bitte könnte zu viel Bestreben liegen.« Ich versäumte es trotzdem nicht, ihr nachzukommen; und die Ärzte, die beständig versicherten, dass keine Gefahr gegeben sei und es sich nur um die Wechselwirkung seiner Migräne mit den Aufgüssen handle, wiesen ihn an, Molke zu trinken. Doch was auch immer sie sagen mochten, er glaubte ihnen nicht und bat mich um einen Geistlichen, der die Nacht über bei ihm sei; und ich fand selbst, er sei so schlecht beieinander, dass ich, ohne dies zu erklären, anordnete, Kerzen und alles Nötige vorzubereiten, damit ihm am Morgen des kommenden Tages die Kommunion gespendet werden könne.

[88] Diese Vorkehrungen waren nicht umsonst, sondern viel früher dienlich, als wir gedacht hatten: denn gegen Mitternacht befiel ihn ein so heftiger Krampf, dass wir, als er vorüber war, glaubten, er sei tot, und wir zu allem anderen mit dem außerordentlichen Verdruss zu leben hätten, ihn ohne das Sakrament sterben sehen zu müssen, um das er so oft und so inständig gebeten hatte. Aber Gott, der ein so inbrünstiges und gerechtes Verlangen belohnen wollte, setzte diesen Krampf wie durch ein Wunder aus und gab ihm, wie zu Zeiten vollständiger Gesundheit, das ganze Urteilsvermögen zurück, sodass der Herr Pfarrer, der mit dem heiligen Altarsakrament ins Zimmer trat, ausrief: »Das ist unser Herr, den ich Euch bringe, das ist der, den Ihr so sehnlich begehrt habt.« Diese Worte bewirkten sein Erwachen; und wie sich der Herr Pfarrer näherte, um ihm die Kommunion zu spenden, machte er eine Anstrengung und richtete sich zur Hälfte auf, um sie mit größerer Ehrerbietung zu empfangen; und nachdem der Herr Pfarrer ihn, wie es Brauch war, über die wichtigsten Geheimnisse des Glaubens befragt hatte, antwortete er deutlich vernehmbar: »Ja, mein Herr, ich glaube all dies, und zwar von ganzem Herzen.« Und anschließend empfing er das heilige Viatikum und die Krankensalbung so sanftmütig, dass er darüber Tränen vergoss. Er antwortete auf alles und dankte dem Herrn Pfarrer; und als er von ihm mit dem heiligen Ziborium gesegnet wurde, sagte er: »Möge Gott mich nie verlassen!«, und das waren gleichsam seine letzten Worte. Denn einen Augenblick, nachdem er seine letzten Danksagungen gemacht hatte, wurde er erneut von Krämpfen befallen, die nicht mehr von ihm wichen und ihm nicht einen Moment geistiger Freiheit ließen. Sie dauerten bis zu seinem Tod, der ihn vierundzwanzig Stunden später, am 19. August um ein Uhr morgens, im Alter von neununddreißig Jahren und zwei Monaten ereilte.

1 »Die Summe der Winkel eines Dreiecks ist gleich der von zwei rechten Winkeln.«

2 Supputation: »Kalkulation, Zahlenprüfung […]. Es bedarf der Geduld und Genauigkeit, um die Berechnungen von Tabellen, Ephemeriden, Logarithmen, Sinussen, Tangenten usw. anzustellen.« (Dictionnaire de Furetière, 1690).

3 A. d. Ü.: Als Rechenhilfen wurden häufig Münzmarken (jetons), Zählsteinchen (cailloux) oder Kugeln (boules) verwendet.

4 In Anschauung der gesamten Lebenskurve ist Gilberte von der Wichtigkeit der »Bekehrung« im Jahre 1646 überwältigt. Pascals Arbeiten über die Leere sind jedoch kurz nach diesem Herzenswandel entstanden. Desweiteren vernachlässigt sie, so sehr sie die Tiefe der theologischen Werke ihres Bruders bedenkt, seine Rückkehr zu den Wissenschaften, welche die erste Hälfte des Jahres 1654 prägte.

5 dass der Körper der Jungfrau Maria ist in der Druckfassung ausgelassen worden, steht aber in den fünf Kopien; und wirklich lautet eine der Thesen von Jacques Forton, Sieur de Saint-Ange, der Körper der Jungfrau sei nicht aus dem Blut ihrer Eltern gebildet worden etc.

6 Es handelt sich um den berühmten Jean-Pierre Camus (1584–1652), den früheren Bischof von Belley, der damals den Erzbischof von Rouen, François de Harlay, vertrat.

7 möglicherweise: das alte frz. Adverb possible im Sinne von peut-être ist in vier Handschriften bewahrt worden; das Manuskript Haumont hat es durch peut-être ersetzt, und die Druckfassung hat es ganz einfach getilgt. Da sein Gebrauch Gilberte geläufig war, erhielt Philippe Sellier es in seiner Edition.

8 Port-Royal.

9 Der Herzog von Roannez.

10 Die Druckfassung gibt acht Tage an; das Manuskript Haumont, das zunächst achtzehn Tage verzeichnet hatte, strich die zehn; die vier anderen Kopien transkribierten achtzehn. Die Handschrift hatte wahrscheinlich 18 notiert, und die erste Ziffer war wenig leserlich geschrieben.

11 A. d. Ü.: Offenbar hatte Pascal zu dieser Zeit noch eine andere Schrift in Druck geben lassen, die Gilberte jedoch nicht namentlich erwähnt.

12 In der Handschrift steht: »… weil er sie geliebt hat«. Ganz selbstverständlich hat Gilberte an die Stelle des vielsagenden Pronomens die notwendige Erhellung treten lassen. Nach »Das sind meine Gefühle« fängt die Handschrift eine neue Zeile an. Sie ist auch im Manuskript von Louis Périer verzeichnet.

13 A. d. Ü.: Psaumes de David CXVIII. In der deutschen Einheitsübersetzung entspricht dies Psalm 119.

14 Es handelt sich um Herrn von Sainte-Marthe, wie Gilberte in einem Brief aus dem Jahre 1665 erklärt. Pascal hatte um diesen Besuch des Beichtvaters von Port-Royal gebeten.

15 Die Druckschrift von 1684 verzeichnet am Rande: »Das ist Herr Beurrier, seither Abbé von Sainte-Geneviève.« Beurrier wurde 1675 Generalkaplan der Genovever.

Pensées / Gedanken

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