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PRAIRIE BELT SAUSAGE BOY

Aberdeen, Washington, März 1982 bis März 1983

Hab keine Angst davor, ordentlich zuzuhauen, streng dich ruhig ein bisschen an.

– Aus dem Cartoon Meet Jimmy, the Prairie Belt Sausage Boy.

Auf sein eigenes Betreiben verließ Kurt im März das Haus in der Fleet Street 413 und die Obhut seines Vaters und seiner Stiefmutter, um die nächsten paar Jahre in der „Wildnis“ von Grays Harbor herumzutreiben. Obwohl er zwei längere Stopps von je knapp einem Jahr einlegte, lebte er während der nächsten vier Jahre in zehn verschiedenen Häusern, bei zehn verschiedenen Familien. Zuhause fühlte er sich in keiner von ihnen.

Zunächst mal versuchte er es mit vertrautem Terrain und zog zu seinen Großeltern väterlicherseits in deren Trailer. Da dieser außerhalb der Stadt stand, nahm Kurt, um nicht die Schule wechseln zu müssen, jeden Morgen den Bus nach Monte. Aber selbst seine Klassenkameraden merkten, wie hart diese Umstellung für ihn war. Immerhin fand er bei seinen Großeltern das offene Ohr seiner geliebten Iris, und auch mit Leland hatte er den einen oder anderen intimen Augenblick; die meiste Zeit jedoch blieb er allein. Es war ein weiterer Schritt in Richtung einer weitaus umfassenderen, tieferen Einsamkeit.

Eines Tages ging er seinem Großvater beim Bau eines Puppenhauses zu Iris’ Geburtstag zur Hand. Methodisch tackerte Kurt die winzigen Zedernschindeln aufs Dach. Aus dem Holz, das übrig blieb, bastelte er ein primitives Schachspiel. Erst zeichnete er die Umrisse der Figuren aufs Holz, dann schnitzte er mühsam jede einzelne mit dem Messer zurecht. Sein Großvater brachte ihm bei, mit der Stichsäge umzugehen, dann überließ er den Fünfzehnjährigen sich selbst und sah ihm von der Tür aus zu. Immer wieder hob der Junge den Kopf, um die Anerkennung seines Großvaters einzuholen. „Du machst das ganz prima, Kurt“, sagte der.

Leider hatte Leland nicht immer nur freundliche Worte für ihn, und bald sah sich Kurt in derselben Vater-Sohn-Dynamik, die ihm schon von Don her vertraut war. Leland war mit Kritik nicht weniger rasch bei der Hand als mit Lob, wobei zu seiner Verteidigung gesagt sei, dass Kurt einem auch arg auf die Nerven fallen konnte. Seit seinen frühen Teenagerjahren war er ständig dabei, die Grenzen auszutesten, wie weit er gehen konnte, und so viele Elternfiguren – von denen keine letztendliche Autorität über ihn hatte – er auch über die Jahre hatte, er rieb sie schließlich alle auf. Seine Familie zeichnete das Bild eines eigensinnigen, aufmüpfigen Jungen, der weder auf Erwachsene hören noch arbeiten wollte. Diese Faulheit schien ebenso zu seinem Wesen zu gehören wie seine Verdrießlichkeit, ganz im Gegensatz zu allen anderen in der Familie – sogar seine kleine Schwester Kim steuerte mit Zeitungsaustragen zur Haushaltskasse bei. „Kurt war faul“, erinnerte sich sein Onkel Jim Cobain. „Ob das nun daran lag, dass er ein typischer Teenager war, oder daran, dass er depressiv war, wer wollte das schon beurteilen können.“

Im Sommer 1982 verließ Kurt Montesano und zog zu seinem Onkel Jim nach South Aberdeen. Jim war überrascht, dass ihm diese Verantwortung übertragen wurde. „Mit ist echt die Luft weggeblieben, dass die ihn zu mir ziehen lassen wollten“, erinnerte sich Jim Cobain. „Ich rauchte doch Pot zu der Zeit. Ich hatte keine Ahnung, was der Junge brauchte, geschweige denn, was ich da tat.“ Immerhin war Jim bei all seinem Mangel an Erfahrung kein plumper Zuchtmeister. Nur zwei Jahre jünger als sein Bruder Don, war er viel hipper als dieser – und er hatte eine große Plattensammlung: „Ich hatte eine ziemlich gute Stereoanlage und einen Haufen Platten von den Grateful Dead, Led Zeppelin, den Beatles. Und ich hab das Teil schon auch ordentlich aufgedreht.“ Seine größte Freude in diesen Monaten bei Jim hatte Kurt daran, mit diesem einen Verstärker umzubauen.

Jim und seine Frau hatten eine Tochter im Säuglingsalter, sodass Kurt schon aus Platzgründen bald wieder gehen musste. Er fing an, bei Wendys Brüdern und Schwestern ein- und auszuziehen. „Kurt wurde von Verwandten zu Verwandten gereicht“, erinnert sich Jim. Kurt war der Archetyp eines Schlüssel­kindes. Er kam mit seinen Onkeln und Tanten besser aus als mit seinen Eltern, aber seine Prob­leme mit Autorität nahm er mit. Seine Onkel und Tanten waren weniger streng, aber in den Haushalten, in denen es lockerer zuging, gab man sich auch weniger Mühe, das familiäre Beisammensein zu strukturieren. Seine Verwandten hatten ihre eigenen Probleme, ihren eigenen Existenzkampf – nirgendwo hatte man wirklich Platz für ihn, weder physisch noch emotionell, und Kurt wusste das.

Er verbrachte einige Monate bei seinem Onkel Chuck, wo er anfing, Gitarrenstunden zu nehmen. Chuck spielte in einer Band mit einem Kumpel namens Warren Mason, einem der heißesten Gitarristen der Bucht. Wenn sie – mit viel Pot und einer Flasche Jack Daniel’s – bei Chuck zuhause probten, saß Kurt in einer Ecke und hörte zu und starrte Warren dabei an wie ein Verhungernder ein Frikadellensandwich. Eines Tages fragte Chuck Warren, ob er dem Jungen nicht Unterricht geben wolle, und so begann Kurts formelle Musikausbildung.

Laut Kurt selbst nahm er nur zwei, drei Stunden und lernte in dieser kurzen Zeit alles, was er wissen musste. Warren jedoch erinnert sich, ihm monatelang Unterricht gegeben zu haben und dass Kurt die Stunden ausgesprochen ernst nahm und sich wirklich bemühte. Das Erste, worum Warren sich dabei kümmern musste, war Kurts Gitarre – sie mochte wohl gut genug sein, um sie in der Schule herumzuzeigen, aber zum Spielen taugte sie kaum. Warren besorgte für Kurt eine Ibanez für einhundertfünfundzwanzig Dollar. Der Unterricht selbst kostete fünf Dollar die halbe Stunde. Wie alle seine Schüler fragte Warren Kurt, welche Songs der denn gern lernen würde. „‚Stairway To Heaven‘“, antwortete Kurt. Eine krude Version von „Louie, Louie“ hatte er bereits drauf. Die beiden erarbeiteten sich also „Stairway To Heaven“, dann ging es weiter mit AC/DCs „Back In Black“. Der Unterricht endete, als Kurts lausige Noten seinen Onkel irgendwann auf den Gedanken brachten, dass Kurt seine Nachmittage auch besser nutzen könnte.

Von seinem zweiten Highschooljahr absolvierte Kurt noch zwei Monate in Montesano, dann wechselte er an die Weatherwax High in Aberdeen. Es war die Schule, an der auch seine Eltern ihren Abschluss gemacht hatten, aber trotz dieser Wurzeln und der Nähe zum Haus seiner Mutter war er dort ein Außen­seiter. Die 1906 erbaute Weatherwax High School erstreckte sich über drei Blocks und umfasste fünf separate Gebäude; in Kurts Jahrgang waren dreihundert Schüler, dreimal so viele wie in Montesano. In Aberdeen fand Kurt sich an einer Schule mit vier Fraktionen: Kiffer, Sportler, Preppies und Streber – und er passte in keine davon. „In Aberdeen gab’s lauter Cliquen“, bemerkte Rick Gates, ein anderer Junge, der nach Weatherwax übergewechselt war. „Keiner von uns kannte dort wirklich jemanden. Obwohl Aberdeen im Vergleich zu Seattle ein Provinz­kaff war, war es von Monte aus ein ziemlicher Schritt. Wir kamen nie so recht dahinter, wo wir reinpassten.“ Die Highschool im zweiten Jahr zu wechseln wäre schon für die meisten angepassten Teenager problematisch gewesen, für Kurt war es eine Tortur.

War er in Monte noch beliebt gewesen – immerhin war er Sportler und ging seiner Izod-Hemden wegen als Preppy durch –, so war er hier in Aberdeen ein Außenseiter. Er hielt den Kontakt zu seinen Freunden in Monte aufrecht, aber obwohl er sie fast jedes Wochenende traf, fühlte er sich einsamer denn je. Sein Talent als Sportler reichte nicht aus, um ihn an einer so großen Schule bekannt zu machen, also gab er Sport ganz auf. Beladen mit den Selbstzweifeln aufgrund seiner kaputten Familie und seines nomadischen Lebensstils, zog sich Kurt immer weiter von der Welt zurück. Später erzählte er immer wieder, man habe ihn in Aberdeen verprügelt, ständig hätten ihm irgendwelche Rednecks – wie er die Leute dort nannte – zugesetzt. Doch seine Klassenkameraden in Weatherwax erinnern sich an nichts dergleichen – Kurt übertrieb nur die emotionelle Isolation, in der er sich sah, und machte daraus Geschichten über physische Gewalt.

Etwas Gutes hatte Weatherwax immerhin, und das war der Kunstunterricht, ein Gebiet, auf dem Kurt weiterhin Beachtliches leistete. Sein Lehrer Bob Hunter hielt ihn für einen außergewöhnlichen Schüler: „Er hatte Talent fürs Zeichnen, gepaart mit viel Fantasie.“ Hunter erlaubte seinen Schülern, während des Unterrichts Radio zu hören, da er selbst Maler und Musiker war, und ermutigte seine Schüler, ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Für Kurt war er der ideale Lehrer, und wie schon Mr. Kanno vor ihm erwies er sich als eins der wenigen erwachsenen Vorbilder, zu denen der Junge aufsehen konnte.

In diesem ersten Jahr in Weatherwax belegte Kurt die Kurse für Werbegrafik und Grundlagen der Kunst, die nacheinander in der fünften und sechsten Stunde stattfanden. Diese beiden Fünfzig-Minuten-Stunden gleich nach der Mittagspause waren die einzigen, in die er auch tatsächlich jeden Tag ging. Sein Talent beeindruckte Hunter und schockte seine Klassenkameraden zuweilen richtiggehend. Für eine Karikatur-Aufgabe zeichnete Kurt Michael Jackson, eine behandschuhte Hand in der Luft, die andere im Schritt. In einer anderen Stunde sollten die Schüler einen Gegenstand in seiner Entwicklung zeigen – Kurt zeichnete die Entwicklung einer Samenzelle zum Embryo. Seine Fertigkeit mit dem Zeichenstift war mustergültig, aber es war seine verkorkste Fantasie, mit der er die Aufmerksamkeit seiner Mitschüler gewann. „Das mit dem Sperma hat uns alle geschockt“, erinnerte sich die Klassenkameradin Theresa Van Camp. „Er tickte geistig einfach anders als wir. Die Leute fingen an, über ihn zu reden, alle überlegten: Was geht in dem wohl vor?“ Als Hunter Kurt erklärte, dass man die Michael-Jackson-Karikatur womöglich nicht auf dem Flur der Schule würde aushängen können, zeichnete dieser stattdessen ein wenig schmeichelhaftes Porträt von Ronald Reagan mit einem faltigen Rosinengesicht.

Kurt hatte schon immer wie ein Besessener gezeichnet, jetzt jedoch, unter Hunters Zuspruch, begann er sich selbst als Künstler zu sehen. Seine Skizzen und Kritzeleien wurden Teil seiner Ausbildung. Er war ein außerordentlich geschick­ter Cartoonist, und über dieses Medium kam er auf die Kunst des Erzählens. Ein Cartoon, von dem er in dieser Zeit immer wieder Fortsetzungen zeichnete, waren die Abenteuer von Jimmy, the Prairie Belt Sausage Boy, benannt nach einer Fleischkonserve. Diese Geschichten dokumentierten die schmerzliche Kindheit eines Jungen namens Jimmy – ein kaum verschleierter Kurt –, der unter seinen strengen Eltern zu leiden hatte. Eine der kolorierten Bildserien erzählte – und das nicht etwa durch die Blume – die Geschichte von Kurts Konflikten mit seinem Vater. Im ersten Bild liest der Vater Jimmy gerade die Leviten: „Das Öl ist ja völlig verdreckt! Man riecht ja das Benzin drin. Gib mir mal den Neunerschlüssel, du kleiner Mistkäfer. Solange du deine Beine unter meinen Tisch stellst, hältst du dich gefälligst an meine Regeln, und damit ist es mir ernst: Ehrlichkeit, Loyalität, Ehre, Tapferkeit, Disziplin, Gott und Vaterland haben Amerika zur Nummer eins gemacht.“ In einem anderen Bild schreit eine Mutter: „Ich schenke dir einen Sohn, aber deine Tochter treib ich ab. Um sieben Elternabend, Töpferkurs um halb drei, Bœuf Stroganoff, um halb vier den Hund zum Tierarzt, die Wäsche, ja, ja, mmmh, Schatz, in den Arsch tut’s besonders gut, mmm. Ich liebe dich.“

Es ist unklar, ob die Mutter in dem Comic Jenny oder Wendy sein soll, jedenfalls bedeutete für Kurt die Entscheidung, nach Weatherwax zu wechseln, dass er wieder bei seiner Mutter in der East First Street einzog. Das Haus mit der Nummer 1210 kam einem festen Zuhause am nächsten, da sein Zimmer im Obergeschoss nicht angerührt worden war und fast wie ein Schrein zur Erinne­rung an die alten Tage wirkte, in denen die kleine Familie noch intakt gewesen war. Er hatte dort hin und wieder Wochenenden verbracht, hatte die Wände weiter mit Rockpostern geschmückt, von denen mittlerweile viele selbst gemalt waren. Natürlich war das Beste in dem Zimmer – wie in seinem Leben überhaupt – die Gitarre. Bei Wendy zuhause war weniger los als bei den Leuten, bei denen er in diesen Jahren sonst so wohnte, und er konnte entsprechend ungestört üben. Die Verhältnisse im Haus hatten sich freilich nur geringfügig gebessert. Kurts Mutter hatte es zwar endlich geschafft, sich von Frank Franich zu befreien, aber Mutter und Sohn stritten sich nach wie vor.

Wendy hatte sich verändert, sie war nicht mehr die Mama von vor sechs Jahren. Sie war jetzt fünfunddreißig, ging aber mit jüngeren Männern und machte eine Phase durch, die man nur als die Art Midlifecrisis beschreiben kann, wie man sie sonst eher mit kürzlich geschiedenen Männern assoziiert. Sie trank viel und war Stammgast in vielen Bars von Aberdeen – mit ein Hauptgrund, weshalb Kurt nicht sofort bei ihr untergebracht worden war, nachdem er bei Don ausgezogen war. In diesem Jahr hatte sie eine lockere Beziehung mit dem zweiundzwanzigjährigen Mike Medak am Laufen. Während der Zeit ihrer Bekanntschaft sagte sie Medak noch nicht einmal, dass sie Kinder hatte; in der Regel gingen sie zu ihm nachhause, erst nach ein paar Monaten lernte er ihre Kinder kennen. „Ich hatte den Eindruck, sie sei allein stehend“, erinnerte sich Medak. „Es war nicht so, dass wir Freitagabend herumstanden und auf den Babysitter warten mussten – es war einfach, als hätte sie keine Kinder.“ Seine Beziehung zu Wendy unterschied sich nicht unbedingt von der Beziehung mit einer Gleichaltrigen. „Wir gingen in die Kneipe oder zum Tanzen. Und dann machten wir einen drauf.“ Wendy jammerte darüber, wie Franich ihr den Arm gebrochen hatte und wie schlecht es ihr finanziell ging – und darüber, dass Don Distanz hielt. Eine der wenigen Geschichten, die sie von Kurt erzählte, war die, wie er als Fünfjähriger einmal mit einer Erektion ins Wohnzimmer gekommen war, als Don gerade mit einigen Freunden beisammensaß. Don war das so peinlich gewesen, dass er seinen Sohn aus dem Zimmer trug. Der Vorfall ging in die Familiengeschichte ein; Wendy musste noch immer lachen, wenn sie die Anekdote erzählte.

Als Zweiundzwanzigjähriger, der etwas mit einer Fünfunddreißigjährigen hatte, ging es Medak hauptsächlich um Sex; für ihn war Wendy eine attraktive ältere Frau, eine ideale Partnerin, wenn einem nicht nach einer festen Beziehung war. Selbst der fünfzehnjährige Kurt spürte dies und war mit seinem Urteil schnell bei der Hand. Er diskutierte die Affären seiner Mutter mit seinen Freunden, und seine Kommentare fielen sehr hart aus. Über die psychologischen Probleme, die er dabei gehabt haben musste, seine Mutter mit einem Liebhaber zu sehen, der gerade mal sieben Jahre älter war als er selbst, sprachen sie dabei freilich nicht. „Er sagte immer, er hasse seine Mutter, dass sie seiner Ansicht nach eine Schlampe sei“, erinnerte sich John Fields. „Er konnte der Art, wie sie lebte, nichts abgewinnen. Er mochte sie überhaupt nicht mehr und sprach immer davon, einfach abzuhauen. Wenn sie zuhause war, verdrückte Kurt sich normalerweise, weil sie ihn ständig nur anschrie.“

Wendys Geschwister erinnern sich, dass sie sich wegen ihres Alkohol­konsums Sorgen machten, aber da man in der Familie grundsätzlich niemanden direkt mit etwas konfrontierte, wurde das Thema letztlich kaum diskutiert.

Für Kurt war die Attraktivität seiner Mutter ein zusätzliches Problem, da alle seine Freunde in sie verknallt waren, und wenn sie sich mal wieder hinter dem Haus im Bikini sonnte, spähten sie durch den Zaun. Wenn Freunde bei ihm übernachteten, witzelten sie, sie würden auch jederzeit bei Wendy schlafen, falls in Kurts Zimmer kein Platz für sie sein sollte. Kurt schlug zu, wenn ein solcher Scherz gemacht wurde, und er musste eine Menge Schläge verteilen. Wendy schien den halbwüchsigen Jungs doppelt attraktiv, weil sie ihnen gelegentlich Alkohol kaufte. „Kurts Mom hat uns ein paar Mal Sprit mitgebracht“, erinnert sich Mike Bartlett. „Unter der Bedingung, dass wir ihn im Haus tranken.“ Einmal spendierte Wendy den Jungs Bier und ließ sie ihr Video von Pink Floyds Film The Wall sehen. „Einmal, als ein paar von uns über Nacht blieben“, erzählt Trevor Briggs, „haben wir seine Mutter überredet, uns eine Flasche Tequila zu kaufen. Wir haben uns betrunken und sind dann spazieren gegangen. Als wir zurückkamen, knutschte sie auf dem Sofa mit einem Typ rum.“ Kurts Reaktion war typisch für einen Fünfzehnjährigen im Suff: „Gib’s auf, Mann!“, rief er dem Lover seiner Mutter zu. „Die lässt dich ja doch nicht drüber. Geh lieber nachhause!“ Es war ein Witz, aber an Kurts Sehnsucht nach einer normalen Familie war überhaupt nichts Komisches.

Zu Weihnachten wünschte Kurt sich in diesem Jahr, mehr als alles andere, die Oingo-Boingo-LP Nothing To Fear. Auf der Weihnachtsfeier bei den Fraden­burgs fotografierte ihn seine Tante damit. Mit seinem nach wie vor kurzen Haar und dem knabenhaften Äußeren schien er jünger als die fünfzehn Jahre, die er tatsächlich war. Tante Mari schenkte ihm das Album Tadpoles von der Bonzo Dog Band. Der Blödelsong „Hunting Tigers Out In Indiah“ wurde zu Kurts Lieblingslied dieses Winters, er brachte es sich auf der Gitarre bei. Seine Tante Mari war mittlerweile nach Seattle gezogen, und Kurt hatte sie direkt vor Weih­nachten dort besucht, um sich nach Plattenläden umzusehen. Eines der Alben auf Kurts Wunschliste war der Soundtrack zu der Fernsehserie H. R. Pufnstuf, einer Live-Action-Comedy-Serie aus den Jahren 1969 bis 1977 mit vielen musikalischen Einlagen, die er liebte. Von einem anderen Album auf der Liste, Hi-Infidelity von REO Speedwagon, hatte Mari noch nie gehört.

Im Februar wurde er sechzehn und bestand die Fahrprüfung. Das größte Ereignis für Kurt in jenem Frühjahr stellte den Anfängerführerschein jedoch in den Schatten – es war für ihn ein Meilenstein, über den er den Rest seiner Jugendzeit sprach, um ihn als Erwachsener dann nie mehr zu erwähnen. Am 29. März 1983 fuhr Kurt nach Seattle, um sich im Center Coliseum Sammy Hagar und Quarterflash anzusehen – sein erstes Konzert. Als großer Fan von KISW, einer Radiostation in Seattle, die besonders nachts klar zu empfangen war, hatte Kurt Hagars Hardrock ins Herz geschlossen, und auch Quarterflashs Hit „Harden My Heart“ gefiel ihm. Zu dem Konzert ging er zusammen mit Darrin Neathery, dessen ältere Schwester die beiden chauffierte. „Es war eine Riesensache für uns, weil es unser erstes Konzert war“, weiß Neathery zu erzählen. „Irgendwie waren wir zu einem Sixpack Schmidt gekommen. Auf der Hinfahrt saßen Kurt und ich auf dem Rücksitz und hatten einen Mordsspaß. Vom Konzert weiß ich dann noch, dass wir nach Quarterflash irgendwo weit hinten standen, beim Schaltpult für die Scheinwerfer. Wir haben bloß so gestaunt: die Scheinwerfer, die Produktion. Und irgendwann kam eine Whiskeyflasche aus den Rängen geflogen und zerplatzte direkt neben uns auf dem Boden. Wir hätten uns beinahe in die Hosen geschissen. Also haben wir uns verdrückt und uns einen Platz im Gebälk gesucht, von wo aus wir uns dann Sammy ansahen. Ich habe mir ein T-Shirt gekauft, Kurt auch.“

Kurt sollte später die Geschichte umschreiben und behaupten, die Punkband Black Flag sei sein erstes Konzert gewesen. Aber jeder seiner Klassenkame­raden in Weatherwax erinnerte sich noch genau, wie der sechzehnjährige Kurt am nächsten Tag mit einem übergroßen Sammy-Hagar-T-Shirt in die Schule kam und erzählte wie ein Pilger nach einem Besuch im Heiligen Land.

Gegen Ende des Schuljahrs 1983 entdeckte Kurt Punk. Das Sammy-Hagar-T-Shirt landete in der untersten Schublade und ward nie wieder gesehen. In diesem Sommer sah er zum ersten Mal die Melvins, und dieses Ereignis veränderte sein Leben. In sein Tagebuch schrieb er:

Im Sommer 1983 … erinnere ich mich, dass ich in Montesano in einer Washington-Thriftway-Supermarktfiliale rumhing, als mir dieser kurzhaarige Angestellte, ein Boxboy, der ein bisschen wie der Typ von Air Supply aussah, einen Flyer in die Hand drückte. „The Them Festival. Morgen Abend auf dem Parkplatz hinter Thriftway. Free Live Rock Music.“ Monte war keine Stadt, in der man Livekonzerte von Rock-Acts gewöhnt war, es war ein Dorf, die Bevölkerung bestand aus ein paar tausend Holzarbeitern und ihren unterwürfigen Frauen. Ich fuhr mit einigen von meinen Kifferkumpeln im Van hin. Und da stand dieser Air-Supply-Boxboy mit einer Les Paul mit einer Anzeige für Kool-Zigaretten aus einem Magazin draufge­klebt. Sie spielten schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte, und mit mehr Energie, als meine Iron-Maiden-Platten leisten konnten. Das war genau das, wonach ich gesucht hatte. Ah, Punkrock. Die anderen Kiffer langweilten sich und riefen: „Spielt was von Def Leppard.“ Gott, ich hasste diese Arschgeigen mehr denn je. Der Parkplatz hinter einem Lebensmittelmarkt war das Gelobte Land, in dem mein Leben einen Sinn bekam.“

Den Satz „Das war genau das, wonach ich gesucht hatte“ hatte Kurt zweimal unterstrichen.

Das Konzert war seine Epiphanie – der Augenblick, in dem seine kleine Welt sich plötzlich öffnete. Der „Air-Supply-Boxboy“ war Roger „Buzz“ Osborne, den Kurt als zurückhaltenden älteren Jungen von der Montesano High in Erinnerung hatte. Dass Kurt Buzz nach dem Auftritt gratulieren kam, schmeichelte Osborne, und bald wurde Buzz zu einer Art Mentor, indem er Kurt Punkplatten, ein Buch über die Sex Pistols und einige abgegriffene Ausgaben des Creem-Magazins lieh. Aber auch wenn sich das in Kurts Tagebuch so anhören mag, es war keine totale Konversion – Kurt ging sich trotzdem im Sommer noch Judas Priest im Tacoma Dome anschauen. Wie die meisten anderen Kids in Aberdeen mischte er seinen Punk mit Heavy Metal, auch wenn er das nicht gerade Buzz auf die Nase binden wollte und auf jeden Fall ein für alle Mal auf Punk-T-Shirts umstellte.

The Melvins – spöttisch benannt nach einem anderen Angestellten bei Thriftway – gab es seit einem Jahr. Buzz behauptete, sich das Gitarrenspielen anhand der ersten beiden Clash-LPs selbst beigebracht zu haben. 1983 hatten die Melvins noch keine wirkliche Fangemeinde, im Gegenteil, die meisten Metalheads in Grays Harbor machten sich über sie lustig und buhten sie aus. Trotzdem fand sich regelmäßig ein Dutzend empfänglicher Jungs im Übungsraum hinter Drummer Dale Crovers Haus in der West Second Street 609 in Aberdeen ein. Dieses bunte Häuflein Fans nannten sie die „Klingonen“ – „Cling-Ons“, „Klammerer“ –, ein Name, den Buzz geprägt hatte, weil sie ihn an rührige Trekkies erinnerten und an seinen Lippen hingen, wann immer er den Mund aufmachte. Buzz selbst sah mit seinem „weißen“ Afro eher wie Richard Simmons aus als der Typ von Air Supply.

Buzz stand den „Klingonen“ mit Rat zur Seite, nahm ihnen Cassetten auf und gab den Sokrates von Montesano, den Elder Statesman, der seinem Fähnlein von Fans salbadernd seine Ansichten über Gott und die Welt kundtat. Er entschied, wer in den Übungsraum durfte und wer nicht, und gab allen Spitznamen. Greg Hokanson wurde „Cokenson“. Jesse Reed, den Kurt auf der Weatherwax High School kennen gelernt und mit dem er sich rasch angefreundet hatte, wurde „Black Reed“ nach der Band Black Flag, obwohl er – wie alle aus der Clique – weiß war. Kurt hatte nie einen Spitznamen, jedenfalls keinen, der sich gehalten hätte. Seine Freunde zu der Zeit nannten ihn einfach „Cobain“. Dass er keinen Spitznamen hatte, hieß jedoch nicht, dass er einen besonderen Status genossen hätte. Im Gegenteil war es so, dass er keinen Spitznamen hatte, weil man der Ansicht war, ein Pinscher wie er hätte eine derartige Anerkennung schlicht nicht verdient.

Wie Kurt selbst gehörten die Melvins geografisch sowohl nach Monte (wo Buzz bei seinen Eltern wohnte) als auch nach Aberdeen (wo Crovers Übungsraum war). Der Bassist der Melvins war Matt Lukin, ebenfalls aus Monte, den Kurt vom Ringen und von der Baseball Little League her kannte; auch mit ihm freundete er sich schnell an. Wenn Kurt nach Monte kam, schaute er eher bei Buzz oder Lukin vorbei als bei seinem Vater.

Hinter einer speziellen Fahrt nach Monte steckte jedoch etwas ganz anderes als seine neue Liebe zum Punk – diesmal ging es um ein Mädchen. Andrea Vance war die kleine Schwester von Kurts Freund Darrin Neathery. Eines Nachmittags war sie zum Babysitten in Monte, als Kurt unerwartet auftauchte. „Er war richtig lieb“, erinnerte sie sich. „Er hatte tolle blaue Augen und ein umwerfendes Lächeln. Sein Haar war richtig hübsch und ganz weich. Er trug es damals mittellang. Gesagt hat er nicht viel, und wenn, dann leise und freundlich.“ Sie sahen sich zusammen im Fernsehen Drei Mädchen und drei Jungen – The Brady Bunch an, und Kurt spielte mit den Kindern. Pünktlich auf die Minute war er am nächs­ten Tag wieder da, und Andrea belohnte ihn mit einem Kuss. Eine ganze Woche lang kam er jeden Tag, aber über etwas Geknutsche ging ihr Techtelmechtel nicht hinaus. „Er war wirklich lieb und sehr respektvoll“, erinnerte sich Vance. „Ich hatte nicht den Eindruck, er sei eines dieser Hormone auf zwei Beinen.“

Trotzdem, unter der Oberfläche tobten die Hormone. Im selben Sommer hatte Kurt seine „erste sexuelle Begegnung“, wie er es später nannte, und zwar mit einem entwicklungsbehinderten Mädchen. Wie er in seinem Tagebuch berichtet, bemühte er sich nur um sie, weil ihn sein Leben so deprimierte, dass er an Selbstmord dachte. „Dieser Monat war der Höhepunkt des geistigen Missbrauchs durch meine Mutter“, schrieb er. „Wie sich herausstellte, half Pot mir nicht mehr so recht aus meinem Elend, und ich hatte richtig Spaß an kleinen rebellischen Akten wie Alkohol zu klauen oder Schaufenster einzuschlagen. … Ich beschloss, mich im Lauf des nächsten Monats nicht mehr nur aufs Dach zu hocken und ans Runterspringen zu denken, sondern mich tatsächlich umzubringen. Und ich wollte die Welt nicht verlassen, ohne zu wissen, wie es ist, flachgelegt zu werden.“

Seine einzige Möglichkeit schien dieses „halb zurückgebliebene Mädchen“. Eines Tages folgten Trevor Briggs, John Fields und Kurt ihr nachhause und klauten ihrem Vater den Schnaps. Sie hatten das schon oft gemacht, aber diesmal blieb Kurt noch, nachdem seine Freunde wieder gegangen waren. Er setzte sich auf den Schoß des Mädchens und berührte ihre Brüste. Die beiden gingen in ihr Zimmer, und sie zog sich vor ihm aus, aber er war angewidert, sowohl von sich selbst als auch von ihr. „Ich versuchte sie zu ficken, wusste aber nicht, wie“, schrieb er. „Ich ekelte mich vor ihr, wie ihre Vagina roch und wie sie nach Schweiß stank, also ging ich.“ Obwohl Kurt den Rückzug angetreten hatte, sollte er sich wegen dieses Vorfalls für den Rest seines Lebens schämen. Er hasste sich dafür, das Mädchen ausgenutzt zu haben, auf der anderen Seite hasste er sich dafür, die Geschichte nicht bis zum Verkehr durchgezogen zu haben – eine fast noch größere Schande für einen noch jungfräulichen Jungen von sechzehn Jahren. Der Vater des Mädchens beschwerte sich bei der Schule, seine Tochter sei sexuell belästigt worden, und Kurt wurde als Verdächtiger genannt. Wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist, verdankte er es nur einem Zufall, dass er nicht vor dem Jugendrichter landete: „Sie zeigten ihr ein Jahrbuch, damit sie den betreffenden Jungen identifizierte, was natürlich nicht ging, weil ich dieses Jahr nicht zum Gruppenfoto gegangen war.“ Er behauptet darüber hinaus, man habe ihn in Montesano auf die Wache zitiert und vernommen, er sei der Verurteilung aber entgangen, weil das Mädchen über achtzehn und vom rechtlichen Standpunkt aus auch „nicht geistig zurückgeblieben“ gewesen sei.

Mit seinem dritten Highschooljahr an der Weatherwax High in Aberdeen begann Kurt ein romantisches Verhältnis zu der fünfzehnjährigen Jackie Hagara. Sie wohnte zwei Blocks von ihm entfernt, und er richtete sich zeitlich so ein, dass sie zusammen zur Schule gehen konnten. Er hinkte in Mathematik derart hinterher, dass er sich gezwungen sah, sich noch einmal in den Mathe-Unterricht des ersten Jahrgangs zu setzen, und da hatten sich die beiden kennen gelernt. Die meisten der Kinder in dieser Klasse fanden Kurt merkwürdig, wie er da als älterer Schüler bei ihnen nachsitzen musste, aber Jackie mochte sein Lächeln. Eines Tages nach der Schule zeigte er ihr eine seiner Zeichnungen, einen Rockstar auf einer einsamen Insel. Der Mann hatte eine Les Paul umgeschnallt und das Kabel seines Marshall-Verstärkers in eine Palme gestöpselt. Für den sechzehnjährigen Kurt war das eine Vision vom Paradies.

Jackie sagte, ihr gefiele die Zeichnung. Zwei Tage später machte er ihr ein Geschenk: Er hatte dasselbe Bild noch einmal mit einem Airbrush und in Postergröße nachgezeichnet. „Hier, ist für dich“, sagte er und blickte dabei zu Boden. „Für mich?“, fragte sie. „Ich würd gern mal mit dir ausgehen“, erklärte er. Kurt war nur leicht geknickt, als sie ihm sagte, sie habe schon einen Freund. Sie gingen weiter zusammen zur Schule, hielten gelegentlich sogar Händchen dabei, und eines Nachmittags, vor ihrem Haus, zog er sie schließlich an sich und gab ihr einen Kuss. „Ich fand ihn so süß“, sagte Vance später.

Während dieses entscheidenden dritten Highschooljahrs wandelte sich Kurt auch äußerlich von einem, der allgemein als „süß“ beschrieben wurde, hin zu einem Erscheinungsbild, das einige seiner Weatherwax-Klassenkameraden als „unheimlich“ bezeichneten. Er ließ sich die Haare wachsen und wusch sie kaum noch. Seine Izod-Shirts und die Rugbypullis waren verschwunden, er trug nur noch selbst designte T-Shirts, auf die er die Namen von Punkbands geschrie­ben hatte. Auf einem, das er oft trug, stand „Organized Confusion“, ein Slogan, den sich Kurt als Name für seine erste Band vorstellte. Obendrüber trug er einen Trenchcoat, und zwar das ganze Jahr über, an verregneten Wintertagen ebenso wie im Hochsommer bei dreiunddreißig Grad. In diesem Herbst traf ihn Andrea Vance, seine Freundin aus Monte vom Sommer, zufällig auf einer Party und erkannte ihn zunächst gar nicht. „Er hatte seinen schwarzen Trenchcoat an, hohe Tennisschuhe, und sein Haar war dunkelrot gefärbt“, erinnerte sie sich. „Er sah völlig anders aus.“

Kurts Freundeskreis verlagerte sich langsam von den Kumpeln in Monte zu denen in Aberdeen, aber in beiden Cliquen ging es in der Hauptsache darum, sich auf die eine oder andere Weise die Birne zuzuknallen. Wenn sich nicht gerade eine elterliche Hausbar plündern ließ, heuerten sie einen der unzähligen Penner von Aberdeen an, ihnen Bier zu kaufen. Kurt, Jesse Reed, Greg Hokanson sowie Eric und Steve Shillinger kamen mit einem von ihnen regelrecht ins Geschäft, einem Original, dem sie den Spitznamen The Fat Man gaben, ein hoffnungsloser Alkoholiker, der mit seinem zurückgebliebenen Sohn Bobby im Morck Hotel, einer heruntergekommenen Pension, lebte. Der Fat Man war bereit, sie mit Alkohol zu versorgen, solange sie ihn dafür bezahlten – und solange sie ihm zum Laden halfen. Das war ein mühsames Unterfangen, das sich in der Praxis oft wie ein Buster-Keaton-Sketch ausnahm und den ganzen Tag dauern konnte. „Zuerst“, erzählte Jesse Reed, „mussten wir mal mit einem Einkaufswagen zum Morck. Dann ging’s rauf in sein Zimmer, wo wir ihn zum Aufstehen bringen mussten. Er lag da in seiner verkrusteten Unterwäsche rum, die zum Himmel stank, und alles war voller Fliegen, es war grauenhaft. Dann muss­ten wir ihm die Treppe runterhelfen, und der Typ wog wohl an die fünf Zentner! Er war viel zu fett, um zur Spirituosenhandlung laufen zu können, also hievten wir ihn auf den Wagen und schoben ihn hin. Wenn wir bloß Bier wollten, schoben wir ihn zum nächsten Lebensmittelladen, der Gott sei Dank näher war. Alles, was er dafür verlangte, war ein Liter vom billigsten Malzwhiskey.“

Der Fat Man und Bobby, die nun wirklich das merkwürdigste Paar waren, das man sich vorstellen kann, wurden, ohne es zu wissen, zum Thema von Kurts ersten Geschichten. Er schrieb Kurzgeschichten über die beiden, verarbeitete ihre Abenteuer zu imaginären Songs und machte Zeichnungen von ihnen in sein Tagebuch. Seine Bleistiftzeichnungen von Fat Man sahen aus wie Ignaz J. Reilly, der Antiheld aus John Kennedy Tooles Ignaz oder Die Verschwörung der Idioten. Kurt hatte Spaß dran, Bobbys piepsige Stimme zu imitieren, und erntete damit bei seinen Freunden schallendes Gelächter. Seine Beziehung zum Fat Man und zu Bobby war jedoch nicht ohne eine gewisse Zuneigung; er hatte durchaus Mitgefühl für die beiden und ihre scheinbar hoffnungslose Situation. Zu Weihnachten kaufte Kurt dem Fat Man bei Goodwill einen gebrauchten Toaster und ein John-Denver-Album aus zweiter Hand. „Für mich?“, fragte der Fat Man fassungslos, als er die Geschenke in seinen Pranken hielt. Dann begann er zu weinen. Die nächsten Jahre erzählte er in ganz Aberdeen herum, was für ein prima Kerl dieser Kurt Cobain doch sei. Diese Episode ist ein kleines Beispiel dafür, wie zuweilen selbst in Kurts Schattenwelt Liebenswürdigkeit gedieh.

Vom Fat Man regelmäßig mit Nachschub versorgt, soff Kurt in diesem Frühjahr immer mehr Alkohol, was nicht zuletzt den Konflikt mit seiner Mutter verschärfte. Ihre Auseinandersetzungen waren umso schlimmer, wenn Kurt bekifft oder auf LSD war, was ihm fast schon zur Gewohnheit geworden war. Greg Hokanson erinnerte sich, wie er mit Jesse Reed zu Kurt nachhause kam, wo sie Wendy dann eine Stunde auf Kurt einschreien hörten, der derart auf Trip war, dass ihr Gezeter gar nicht zu ihm durchdrang. „Wendy war furchtbar zu ihm“, sagte Hokanson. „Er hat sie gehasst.“ Sobald es ihnen irgendwie möglich war, verdrückten sie sich und kletterten auf den Wasserturm am Think of Me Hill. Jesse und Hokanson stiegen die Leiter bis ganz nach oben, aber Kurt konnte auf halber Strecke nicht mehr weiter. „Er hatte Angst“, erinnerte sich Hokanson. Kurt schaffte es nie bis ganz hinauf.

Trevor Briggs erinnerte sich an einen Besuch bei den Cobains, bei dem sich die Schlacht zwischen Kurt und Wendy über den ganzen Abend hinzog: „Ich glaube, sie war angetrunken, jedenfalls kam sie irgendwann rauf in sein Zimmer. Sie wollte einen draufmachen und mit uns Party machen, was ihm gewaltig stank, er wurde sauer. Und sie: ‚Kurt, wenn du nicht aufpasst, dann sag ich deinen Freunden hier, was du mir erzählt hast.‘ Er schrie zurück: ‚Wovon redest du eigentlich?‘ Irgendwann ging sie dann wieder. Ich fragte ihn, was sie gemeint hatte. Er sagte: ‚Na ja, ich hab mal eine Bemerkung gemacht von wegen bloß weil einem Typ ein paar Haare auf dem Sack wachsen, heißt das noch lange nicht, dass er ein Mann ist oder erwachsen.‘“ Dieses Thema, Haare am Hodensack, war für den jungen Kurt eine Angelegenheit von höchster Peinlichkeit, weil bei ihm die Schambehaarung erst viel später zu wachsen begann als bei den meisten anderen Jungs. Wie besessen inspizierte er jeden Tag sein kahles Skrotum nach sprießenden Haaren, alle seine Freunde waren ihm weit voraus. Schamhaare waren denn auch ein immer wiederkehrendes Thema in seinem Tagebuch. „Noch immer nicht genug Schamhaare“, schrieb er. „Jahre verloren, Ideale gewonnen. Noch immer unterentwickelt. Weit über die Zeit hinaus, in denen man mit den Schamhaaren zu spät dran ist.“ Zum Sportunterricht zog er sich lieber in einer Duschkabine um, als sich in der Garderobe den inspizierenden Blicken der anderen Jungs auszusetzen. Mit sechzehn schließlich begannen ihm Schamhaare zu wachsen, aber da sie fast blond waren, waren sie trotzdem nicht so deutlich zu sehen wie bei den anderen Jungs.

Um die Zeit, als Kurt siebzehn wurde, begann Wendy ein Verhältnis mit Pat O’Connor. O’Connor war in ihrem Alter und verdiente als Hafenarbeiter zweiundfünfzigtausend Dollar im Jahr. Über sein Einkommen wusste man deshalb Bescheid, weil er in Washington einer der ersten Männer war, die von einer ehemaligen Lebensgefährtin auf Unterhalt verklagt wurden, ohne mit ihr verheiratet gewesen zu sein. Seine Ex reichte die Klage ein, kurz nachdem er sich mit Wendy eingelassen hatte. Er habe sie, so warf sie ihm vor, dazu überredet, ihren Job in einem nahe gelegenen Atomkraftwerk zu kündigen, und sie dann wegen Wendy sitzen lassen. Es war ein unappetitlicher Prozess, der sich über zwei Jahre hinzog. Die gerichtlich bestellte Auflistung seiner Habe umfasste ein kleines Haus, einige tausend Dollar Ersparnisse und einen Waffenschrank mit drei Gewehren – die auf merkwürdige Weise noch eine Rolle in Kurts Karriere spielen sollten. Pats Ex gewann den Prozess und bekam zweitausendfünfhundert Dollar in bar, ein Auto und die Anwaltskosten zugesprochen, die Pat übernehmen musste.

In diesem Winter zog er bei Wendy ein. Keines der Kinder konnte mit O’Connor etwas anfangen, Kurt entwickelte eine tiefe Abneigung gegen den Mann. Wie schon seinen leiblichen Vater und Frank Franich zog Kurt Pat in vielen seiner Songs und Cartoons durch den Kakao. Und fast vom ersten Tag an stritt sich Wendy mit Pat mit einer Heftigkeit, gegen die sich ihr Krieg mit Don harmlos ausnahm.

Eine dieser Auseinandersetzungen lieferte einen Eckpfeiler von Kurts ganz persönlicher musikalischer Mythologie. Nach einem lautstarken Streit zog Wendy los, um nach Pat zu suchen, und erwischte ihn laut Kim dabei, wie „er sie betrog. Er war betrunken, wie üblich.“ Wendy stürmte wutschnaubend nachhause und murmelte etwas davon, sie werde Pat noch umbringen. Da ihr diese Vorstellung Angst machte, ließ sie Kim die Waffen ihres Liebhabers in eine große Plastik­tasche packen. Als Pat nachhause kam, erklärte Wendy, sie werde ihn umbringen. Kurt behauptete in seiner Version der Geschichte, Wendy habe Pat erschießen wollen, sei aber nicht dahinter gekommen, wie man die Gewehre lud. Seine Schwester erinnert sich daran nicht. Als Pat wieder weg war, schleppten Wendy und Kim die Tasche mit den Waffen die zwei Blocks zum Ufer des Wishkah River, wobei Wendy immer wieder vor sich hin murmelte: „Ich muss die Dinger loswerden, sonst knall ich ihn eines Tages noch ab.“ Sie warf sie ins Wasser.

Während Pat und Wendy sich am nächsten Morgen wieder versöhnten, quetschte Kurt Kim über die Stelle aus, wo sie die Waffen versenkt hatten. Nachdem seine dreizehnjährige Schwester ihm gezeigt hatte, wo, fischten Kurt und zwei Freunde die Gewehre heraus. Kurt erzählte später, er habe die Gewehre gegen seine erste Gitarre eingetauscht, obwohl er natürlich bereits seit seinem vierzehnten Geburtstag eine hatte. Aber Kurt war der Letzte, der sich eine gute Story durch die Wahrheit verderben ließ; dass er die Gewehre seines Stief­vaters versetzt haben sollte, um sich von dem Geld seine erste Gitarre zu kaufen, klang für den Geschichtenerzähler in ihm einfach viel zu gut, um es nicht weiterzuerzählen. In dieser einen Geschichte finden sich alle Elemente dessen, wie er als Künstler gesehen werden wollte: als einer, der Redneck-Schwerter zu Punkrock-Pflugscharen umschmiedete. In Wahrheit versetzte er die Gewehre zwar tatsäch­lich, kaufte sich von dem Erlös aber keine Gitarre, sondern einen Fender-„Deluxe“-Verstärker.

Die „Waffen im Fluss“-Episode war nur eine von vielen im Kleinkrieg zwischen Wendy und Pat. Kurts Methode, diesen Streitereien aus dem Weg zu gehen – oder gar deren Anlass zu sein, denn nichts tat Pat lieber, als Wendy Vorträge über die Erziehung ihres missratenen Sohnes zu halten –, bestand darin, sich von der Haustür aus auf direktem Weg sofort auf sein Zimmer zu begeben. Das war zwar relativ normal für einen Teenager, nur betrat und verließ Kurt das Haus regelrecht im Laufschritt. Wenn er wirklich einmal für einen Überfall auf den Kühlschrank oder um zu telefonieren aus seinem Reich auftauchen ­musste, timte er diese Ausfälle so, dass er dabei Pat nicht über den Weg lief. Sein Zimmer wurde seine Zufluchtsstätte, und seine Tagebuchbeschreibung eines Kurzbesuchs zuhause Jahre später ist aufgeladen mit starken sowohl emotionalen als auch physischen Eindrücken:

Jedes Mal, wenn ich nachhause komme, habe ich dasselbe Déjà-vu-Erlebnis, Erinnerungen, bei denen es mir kalt über den Rücken läuft, totale Depression, totaler Hass, Vorwürfe, die einem monatelang nachgetragen wurden, alte Ordner voller Zeichnungen von Rocktypen mit Gitarren, Monstern und Sprüchen auf dem Umschlag wie „This Bud’s for you“ oder „Get high“, ausgefeilte Skizzen von Bongs, Variationen der schweinischen Wortspiele über die fröhliche kleine Tennisspielerin. Sehe mich um, sehe ich die Iron-Maiden-Poster mit den zerrissenen, durchlöcherten Ecken, die Nägel in den Wänden, an denen noch immer die Caps mit den Traktoren drauf hängen. Die Scharten im Tisch kommen von fünf Jahren „Quarter Bounce“-Trinkspiel. Der Teppich fleckig von all den dösig umgestoßenen Bongs und Spucknäpfen. Ich sehe mich um und sehe diesen ganzen verdammten Scheißkram, und nichts erinnert mich mehr an meine nichtsnutzige Jugend, als jedes Mal beim Reingehen mit dem Finger über die Decke zu fahren und die klebrigen Ablagerungen von Pot- und Zigarettenrauch zu spüren.

Im Frühjahr 1984 erreichten Kurts Konflikte mit den Erwachsenen im Haus den Siedepunkt. Genauso, wie er sich an dem Wunsch seines Vaters gestoßen hatte, noch einmal zu heiraten, verachtete er Wendy wegen ihrer Schwäche Männern gegenüber. Pat hasste er noch mehr, weil jeder seiner Ratschläge nur darauf abzielte, Kurts Unzulänglichkeiten herauszustellen. Außerdem unterschieden sich die beiden Männer in ihren Ansichten über den Umgang mit Frauen. „Pat war ein Schürzenjäger“, sagte Kim, „und Kurt eben nicht. Kurt war Frauen gegenüber ausgesprochen respektvoll, auch wenn er nicht viele Freundinnen hatte. Er suchte jemanden, in den er sich verlieben konnte.“ Endlos belehrte Pat Kurt, ein Mann müsse ein Mann sein und sich auch wie ein Mann verhalten. Wenn Kurt Pats Maßstäben nicht gerecht wurde, beschimpfte der ihn als „Schwuchtel“. Eines Sonntags im April 1984 hackte er besonders vehement auf dem Sohn seiner Freundin herum: „Warum bringst du eigentlich nie ein Mädchen mit nachhause?“, fragte er Kurt. „Als ich in deinem Alter war, gaben sich die Mädels bei mir den Bettzipfel in die Hand.“

Mit dieser Perle männlichen Rats im Hinterkopf ging Kurt auf eine Party. Dort traf er zufällig Jackie Hagara. Als sie und ihre Freundin Shannon sich zu gehen anschickten, schlug Kurt vor, sie könnten doch zu ihm nachhause mitkommen – vielleicht sah er hier eine Möglichkeit, Pat etwas zu beweisen. Jedenfalls lotste er sie heimlich und leise nach oben, ohne die Erwachsenen zu stören. Shannon war ziemlich betrunken, kippte auf dem Bett im Spielzimmer, durch das man in Kurts Zimmer kam, zur Seite und schlief sofort ein. Da ihre Freundin nicht mehr in der Lage war, nachhause zu gehen, sagte Kurt zu ­Jackie: „Du kannst hier pennen.“

Und mit einem Mal war der Augenblick gekommen, auf den Kurt gewartet hatte. So lange schon hatte er sich danach gesehnt, seine halbwüchsigen Sexfantasien hinter sich zu lassen und seinen Klassenkameraden an der Highschool ohne Flunkern verkünden zu können, dass er keine Jungfrau mehr war (wie die meisten Jungs in seinem Alter log er seinen Freunden in dieser Angelegenheit bereits seit einigen Jahren etwas vor). Aufgewachsen in einer Welt, in der Männer sich – abgesehen von dem gelegentlichen Klaps auf die Schulter – nur selten berührt sahen, hungerte er danach, die Haut eines anderen Menschen an der seinen zu spüren. In Jackie hatte er dafür nun eine mehr als willige Partnerin gefunden. Obwohl erst fünfzehn, hatte sie bereits Erfahrungen gesammelt, und an dem Abend, an dem sie in Kurts Zimmer landete, befand sich ihr fester Freund gerade in Polizeigewahrsam. Sie wusste, was als Nächstes passieren würde, als sie mit Kurt in dessen Zimmer ging. Jackie erinnerte sich später an einen Augenblick, als ihre Blicke sich trafen und das Verlangen zwischen ihnen anschwoll wie ein auf Touren kommender Motor.

Kurt machte das Licht aus, die beiden zogen sich aus, sprangen aufgeregt ins Bett und hielten einander fest. Es war das erste Mal, dass Kurt eine ganz und gar nackte Frau in den Armen hatte – ein Augenblick, von dem er lange geträumt hatte, ein Augenblick, den er sich als halbwüchsiger Onan in eben diesem Bett ausgemalt hatte. Jackie begann ihn zu küssen. Und in dem Augenblick, als ihre Zungen sich berührten, flog die Tür auf, und Kurts Mutter platzte herein.

Wendy war alles andere als begeistert darüber, ihren Sohn mit einem nack­ten Mädchen im Bett zu sehen, ganz zu schweigen davon, dass nebenan ein offenbar ohnmächtiges zweites Mädchen lag. „Mach, dass du rauskommst!“, schrie sie. Sie war nach oben gekommen, um Kurt auf das Blitzen aufmerksam zu machen – dass draußen ein gewaltiges Gewitter tobte, war dem jungen Liebespaar völlig entgangen –, und fand ihren Jungen mit einem Mädchen im Bett. „Scher dich verdammt noch mal aus dem Haus!“, schrie sie, als sie die Treppe wieder hinunterpolterte. Pat hielt die ganze Zeit über den Mund, weil er wohl wusste, dass jede Bemerkung seinerseits Wendy nur noch mehr auf die Palme bringen würde. Kurts Schwester Kim hörte den Radau und kam aus ihrem Zimmer. Sie sah Kurt und Jackie einem bewusstlosen Mädchen Schuhe anziehen. „Was ist denn hier los?“, fragte sie. „Wir gehen“, sagte Kurt. Er und Jackie schleppten Shannon die Treppe hinunter und traten hinaus in einen der schwersten Gewitterstürme des ganzen Jahres.

Als Kurt und seine beiden Begleiterinnen sich auf den Weg die First Street hinunter machten – die frische Luft hatte die betrunkene Freundin wieder auf die Beine gebracht –, begann es zu regnen, und obwohl das nach einem schlechten Omen aussah, sollte Kurt seine Jungfräulichkeit noch vor Sonnenaufgang verlieren. Er zitterte sichtlich, seine tobenden Hormone brodelten in einem Gemisch aus Zorn, Scham und Angst. Es war erniedrigend gewesen, sich vor Jackies Augen wieder anziehen zu müssen, noch dazu mit seiner Erektion. Wie schon bei seiner Begegnung mit dem zurückgebliebenen Mädchen prallten in ihm Lust und Scham aufeinander – ein hoffnungslos verworrenes Knäuel von Emotionen.

Sie gingen zum Haus von Jackies Freundin, und kaum waren sie durch die Tür, kam auch schon Jackies Freund hinterdrein, den die Polizei gerade hatte laufen lassen. Jackie hatte Kurt vor der Gewalttätigkeit ihres Lovers gewarnt, und um eine Konfrontation zu vermeiden, gab Kurt sich als der Freund des anderen Mädchens aus. Als Jackie und ihr Freund weg waren, verbrachten Kurt und das andere Mädchen, Shannon, schließlich die Nacht zusammen. Es war nicht gerade der tollste Sex, so jedenfalls erzählte sie es später Jackie, aber es war Verkehr, und das war alles, was Kurt gewollt hatte. Er war endlich durch die Tür getreten, die große vaginale Pforte, und brauchte in sexueller Hinsicht nicht länger eine Lüge zu leben.

Kurt verließ das Haus früh am nächsten Morgen, um im ersten blassen Tageslicht durch Aberdeen zu spazieren. Der Sturm hatte sich verzogen, die Vögel zwitscherten, die ganze Welt erschien ihm lebendiger als zuvor. Stundenlang lief er durch die Stadt, ließ sich alles durch den Kopf gehen, wartete, dass die Schule anfing. Er beobachtete den Sonnenaufgang und fragte sich, in welche Richtung sein Leben wohl gehen würde.

Der Himmel über Nirvana

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