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HABE IHN NICHT GENUNG GELIEBT

Aberdeen, Washington, September 1986 bis März 1987

Offensichtlich habe ich ihn nicht genug geliebt, nicht so wie jetzt.

– Tagebucheintrag von 1987.

Am 1. September 1986 lieh Wendy ihrem Sohn zweihundert Dollar für ­Kaution und erste Monatsmiete, und Kurt zog in sein erstes „Haus“. Das Gebäude Nummer 1000½ in der East Second Street in Aberdeen ein Haus zu nennen ist ausgesprochen schmeichelhaft. Es war eine Hütte, die in manch anderer Gemeinde für unbewohnbar erklärt worden wäre. Das Dach war am Verrotten, die Dielen auf der Veranda nach vorn hinaus durchgebrochen, es gab weder einen Kühlschrank noch einen Herd. Trotz seiner kleinen Wohnfläche war es bizarrerweise in fünf winzige Räume aufgeteilt: zwei Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, ein Klo. Das Häuschen stand im Hinterhof eines anderen Hauses, daher die merkwürdige Hausnummer.

Trotzdem, die Lage dieser Bude – zwei Blocks vom Haus seiner Mutter entfernt – war ideal für den Neunzehnjährigen, der sich noch immer nicht ganz von Wendys psychischer Fuchtel losgelöst hatte. Ihre Beziehung hatte sich während des letzten Jahres etwas gebessert. Seit Kurt aus dem Haus war, kamen sie einander gefühlsmäßig wieder etwas näher. Er brauchte nach wie vor Wendys Anerkennung und Aufmerksamkeit, ließ sie diese Schwäche aber nicht wissen. Sie brachte ihm gelegentlich etwas zu essen, und er konnte bei ihr seine Wäsche waschen, telefonieren oder auch mal an den Kühlschrank gehen, vorausgesetzt, sein Stiefvater war nicht im Haus. Kurts Hütte stand in der Nähe der Heils­armee und hinter einem Lebensmittelgeschäft. Da er im Haus keinen Kühlschrank hatte, verstaute Kurt sein Bier in einer Eisbox auf der hinteren Veranda – jedenfalls, bis die Nachbarskids dahinter kamen.

Als Mitbewohner suchte Kurt sich Matt Lukin von den Melvins. Kurt wäre immer gern Mitglied der Melvins gewesen – näher, als mit Lukin zusammenzuwohnen, kam er diesem Ziel nicht. Kurts wesentlicher Beitrag zur Gestaltung des Hauses war eine Badewanne voller Schildkröten mitten im Wohnzimmer, für die er ein Loch in den Fußboden bohrte, damit der Dreck, den sie produzieren, unter die Dielen abfließen konnte. Lukin dagegen nutzte seine handwerklichen Fähigkeiten wenigstens dazu, die Wände ein bisschen auf Vordermann zu bringen. Dazu brachte er den Bonus mit, dass er bereits einundzwanzig war und somit Bier kaufen konnte. Der Fat Man war bald nur noch eine ferne Erinnerung.

Das Haus war sowohl sturmfreie Partybude als letztlich auch schließlich ein Bandraum. Durch Lukin als Mitbewohner kamen Buzz Osborne und Dale Crover häufig zu Besuch, und da das Wohnzimmer ohnehin voller Musikgerät stand, kam es häufig zu spontanen Jams. Auch ein buntes Häuflein von „Klingonen“ ließ sich in der Hütte häuslich nieder. Auch wenn diese Freundschaften in der Hauptsache auf dem gemeinsamen Ziel bauten, sich zu besaufen, waren diese glücklichen Tage in der East Second Street 1000½ die geselligsten, die Kurt je erleben sollte. Sogar mit seinen Nachbarn freundete er sich an, zumindest mit deren Kindern, die selbst Teenager waren. Dass sie an einem fetalen Alkoholsyndrom litten, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft zu viel getrunken hatte, hielt ihn nicht davon ab, ihnen Bier zu spendieren. Ein anderer Nachbar, ein seniler alter Mann mit dem Spitznamen „Lynyrd Skynyrd Hippie“, kam jeden Tag vorbei, um sich Kurts Greatest Hits von Lynyrd Skynyrd anzuhören und dazu Schlagzeug zu spielen.

Um die Miete aufzubringen, nahm Kurt einen Job als Hauswart im Polynesian Condominium Resort, einem Ferienkomplex im fünfundzwanzig Meilen entfernten Ocean Shores, an. Es war ein leichter Job, da er hauptsächlich für Reparaturen verantwortlich war und in der Sechsundsechzig-Zimmer-Anlage so gut wie keine Reparaturen anfielen. Als ein Job als Zimmermädchen frei wurde, empfahl er Krists Freundin Shelli. „Kurt schlief immer im Bus auf dem Weg zur Arbeit“, erinnerte sie sich. „Das Lustige an dem Job war, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, wie man Sachen reparierte. Er hat in den leer stehenden Motelzimmern geschlafen oder sich über die Kühlschränke hergemacht, wenn die Leute weg waren.“ Abgesehen von dem Anfangsgehalt von vier Dollar die Stunde hatte der Job noch den Vorteil, dass er nur ein braunes Arbeitshemd zu tragen brauchte und nicht etwa eine Uniform, wovor ihm graute.

Seinen Freunden gegenüber prahlte er, wie kinderleicht sein Job als „Wartungsarsch“ war und dass er sich den ganzen Tag in irgendwelche Zimmer schleichen und fernsehen konnte; dass er in den Zimmern gelegentlich auch putzen musste, verschwieg er geflissentlich. Sie brauchten nicht zu wissen, dass Kurt Cobain, der so ein Weltklasseschlamper war, dass er eigentlich in eine entsprechende Hall of Fame hätte aufgenommen gehört, als Zimmermädchen arbeiten musste. Morgens im Bus zur Arbeit, für gewöhnlich gewaltig verkatert, träumte Kurt von einer Zukunft, in der keine Toiletten zu schrubben oder Betten zu machen waren.

Ein Gedanke, der ihn mittlerweile ständig beschäftigte, war die Gründung einer eigenen Band. Er drehte sich ein einem fort in seinem Kopf, und Kurt grübelte Stunden und Stunden darüber nach, wie er es anstellen sollte. Buzz hatte es getan – und wenn Buzz es hingekriegt hatte, dann konnte er das ja wohl auch. 1987 war er etwa ein Dutzend Mal mit den Melvins als Roadie zu Gigs in Olympia gefahren, einer Collegestadt eine Autostunde östlich von Aberdeen. Dort gab es, wie er beobachtet hatte, ein kleines, aber begeistertes Publikum für Punkrock. Einmal war er mit der Band sogar in Seattle, und obwohl er dabei Equipment schleppen und am nächsten Morgen ohne Schlaf an die Arbeit ­musste, hatte es doch den Geschmack einer größeren Welt. Roadie bei den Melvins zu sein war alles andere als ein glamouröser Job: Von Bezahlung oder Groupies konnte nicht wirklich die Rede sein, und Buzz war berüchtigt dafür, die Leute wie Dienstboten zu behandeln. Aber Kurt ließ sich das gern gefallen, solange sich etwas lernen ließ, und es entging ihm kaum etwas. Kurt arbeitete an sich und war darauf dann auch stolz, vor allem was sein Gitarrenspiel anbelangte. Wenn er Buzz seinen Verstärker auf die Bühne schleppte, stellte er sich die Szene mit vertauschten Rollen vor. Er übte jede freie Minute, und dass er immer besser wurde, gab ihm das Selbstvertrauen, das er sonst kaum irgendwo fand. Seine Hoffnungen wurden erhört, als Buzz und Dale ihn eines Tages aufforderten, mit ihnen bei der Abschiedsparty des Gessco zu jammen, eines Clubs in Olympia, der schließen musste. Obwohl nur etwa zwanzig Leute die Show sahen – auf dem Plakat wurden sie als Brown Towel angekündigt, obwohl sie sich eigentlich Brown Cow nannten –, war es für Kurt doch das erste Mal vor einem zahlenden Publikum. Kurt spielte aber nicht Gitarre, sondern las Gedichte vor, während Buzz und Dale ihre Instrumente bearbeiteten.

Viele der selbstzerstörerischen Gewohnheiten, die er schon im rosa Apartment an den Tag gelegt hatte, waren auch in der Hütte zu beobachten. Tracy Marander, die ihn in dieser Zeit kennen gelernt hatte, erzählte, dass er damals beträchtliche Mengen LSD nahm. „Kurt warf eine Menge Acid ein, manchmal fünf Trips die Woche“, erinnerte sie sich. Merkwürdigerweise war diese Zunahme seines Drogenkonsums – zumindest teilweise – eine Folge seiner Solidarität mit Aberdeens Gewerkschaftern. In der Stadt wurden nämlich gerade die Lebensmittelgeschäfte bestreikt, und um Bier zu kaufen, musste man entweder durch die Streikposten, oder man fuhr nach Olympia, sodass Kurt für gewöhnlich lieber Acid einwarf. Wenn er Bier kaufte, dann nahm er normalerweise „Animal Beer“, sprich Schmidt, auf dessen Dosen Tierbilder aufgedruckt waren. Wenn er es sich leisten konnte, gönnte er sich das teurere Rolling Rock, weil sich das „fast anhört wie Rock ’n’ Roll rückwärts“, wie er seinen Freunden sagte.

Das „Hüttenjahr“ stellte eine von Kurts längsten und extremsten Drogenperio­den dar. Früher hatte er nach Exzessen immer wieder drogenfreie Pausen eingelegt, in seiner Hütte jedoch machte er sich mit einem Eifer dicht, wie er ihn nur für wenig anderes aufbrachte. „Er musste immer bis an die Grenzen“, erinnerte sich Steve Shillinger, „immer nahm er mehr als die anderen, gerade mal so ein bisschen, und sobald er runterkam, legte er gleich wieder nach.“ Wenn er kein Geld für Pot, Acid oder Bier hatte, schnüffelte er wieder Aerosol. „Er stand wirklich drauf, sich komplett platt zu machen, Pot, Acid, egal, welche Drogen“, bemerkte Novoselic. „Oft war er schon mitten am Tag völlig hinüber. Er war ein totaler Kaputtnik.“

Kurt sprach auch immer noch ständig von Selbstmord und einem frühen Tod. Ryan Aigner wohnte nur einen Block weiter, und von dem Moment an, als er Kurt kennen lernte, erinnert er sich an tägliche Gespräche über den Tod. „Was willst du mit dreißig machen?“, fragte Ryan Kurt einmal. „Ich zerbrech mir nicht den Kopf darüber, was ich mit dreißig mache“, antwortete Kurt in demselben Tonfall, in dem man über eine kaputte Zündkerze sprach, „weil ich es eh nicht bis dreißig schaffe. Du weißt doch, wie das Leben nach dreißig aussieht – darauf kann ich verzichten.“ Ryan, der dem Leben und seinen Möglichkeiten mit aller Zuversicht eines jungen Mannes entgegenblickte, war eine solche Sichtweise so fremd, dass er im ersten Augenblick sprachlos war. Ryan sah, dass Kurt tief in sich drin Qualen litt: „Er war der wandelnde Selbstmord. Er sah aus wie Selbstmord, er ging wie Selbstmord, und er sprach über Selbstmord.“

Zum Ende des Frühjahrs hatte Kurt den Job im Ferienkomplex hingeschmissen. Da er verzweifelt Geld brauchte, arbeitete er gelegentlich mit Ryan als Teppichleger. Die Leute bei der Teppichfirma mochten Kurt, und Ryan richtete ihm aus, dass er dort auch einen richtigen Job haben könnte. Aber Kurt sträubte sich dagegen. Schon der Gedanke an einen ernsthaften Job war ihm ein Gräuel, außerdem hatte er eine Heidenangst davor, sich mit den scharfen Teppichmessern seine Gitarrenhand zu verletzen. „Meine Hände sind mir zu wichtig“, argumentierte Kurt. „Ich könnte mir meine Karriere als Gitarrist versauen.“ Wenn er sich in die Hand schnitte und nicht mehr spielen könnte, sagte Kurt, wäre sein Leben zu Ende.

Allein schon die Tatsache, dass Kurt von einer „Karriere“ sprach, um seine musikalischen Ambitionen zu beschreiben, zeigt, dass er wenigstens in diesem Bereich optimistisch war. Die endlosen Stunden des Übens machten sich langsam, aber sicher bezahlt. Beim Songschreiben war er geradezu sagenhaft produktiv geworden, kritzelte seitenweise Texte in sein Notizbuch. Er lernte so schnell, absorbierte so viel bei den Konzerten, die er besuchte, und den Platten, die er hörte, dass man fast hören konnte, wie sein Verstand an einem Plan arbeitete. Dabei hatte er noch nicht „die Band“ im Fokus, weil es eine feste Band ja noch gar nicht gab; stattdessen jonglierte er in seinem Überschwang, Musik zu machen, mit drei, vier Gruppen gleichzeitig. Eine der ersten Gruppierungen, die in der Hütte probten, bestand aus Kurt an der Gitarre, Krist am Bass und einem Drummer aus der Gegend namens Bob McFadden. Bei einer anderen saß Kurt hinter dem Schlagzeug, Krist spielte Gitarre und Steve „Instant“ Newman bediente den Bass. Hier überhaupt von Gruppen zu sprechen, wie Kurt das später machen sollte, war leicht übertrieben. Über die gelegentlichen Jam­sessions hinaus existierten sie lediglich in Kurts Kopf, und er stellte sie zusammen, wie Baseballfans in Gedanken ihre Traummannschaft zusammenstellen. Als er mitbekam, dass die Melvins sechzig Dollar pro Gig bekamen, gründeten Kurt und Krist kurzerhand eine Band namens The Sellouts, die ausschließlich Songs von Creedence Clearwater Revival probte, weil er wusste, wie gut die in Aberdeens Kneipen ankommen würden. Kurt sprach über diese Bands, als hätten sie schon alle längere Karrieren laufen, obwohl die meisten davon nur zum Jammen zusammenkamen. Nur eine dieser Truppen, The Stiff Woodies, trat einmal öffentlich auf, bei einem Besäufnis von Highschoolkids, die sie völlig ignorierten.

Sosehr die Jamsessions und Partys Kurt auf Trab hielten, ab Anfang 1987 fühlte er sich in Aberdeen immer weniger wohl, eine gewisse Rastlosigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Für die meisten seiner Freunde war das Musikmachen vor allem eine lustige Art, einen Freitagabend totzuschlagen, und sie waren zufrieden damit; Kurt hingegen saß auch am Samstagvormittag schon wieder da und übte ein Riff oder schrieb an einem Song. Ihm fehlte nur noch ein Vehikel für seine kreative Vision, aber das sollte sich bald ändern. Er und Krist begannen mit Aaron Burckhard, einem Drummer aus dem Viertel, zusammenzuspielen, in einer Gruppe, der sie zunächst gar keinen Namen gaben; Krist spielte Bass, Burckhard trommelte, und Kurt spielte Gitarre und sang. In dieser Vorstufe zu Nirvana zeigte Kurt erste Ansätze seiner Rolle als musikalisches Alphatier. Die ersten Monate des Jahres 1986 probten sie fast jeden Abend, sie hörten erst auf, wenn Kurt der Ansicht war, es sei genug für den Tag. Nach der Probe fuhren sie zu Kentucky Fried Chicken. „Kurt stand auf die Chicken Littles von KFC“, erinnerte sich Burckhard. „Einmal nahm Kurt eine Rolle Isolierband mit und klebte ein umgedrehtes Kreuz auf den Lautsprecher des Drive-in. Wir schauten vom Van aus zu und lachten uns einen Ast, als die Angestellten herauskommen mussten, um das Band wieder abzufitzeln.“

Im Frühjahr gab Buzz bekannt, er werde nach Kalifornien ziehen, und die Melvins würden sich auflösen. Das war für Aberdeens Musikszene ein einschneidendes Ereignis, und Kurt muss wohl gedacht haben, sie hätten einen Judas in ihrer Mitte. „Es war einfach so“, erinnerte sich Matt Lukin, „dass ich zurück­bleiben sollte. Die Band hatte sich angeblich aufgelöst, aber letztlich nur, um mich loszuwerden. Buzz sagte: ‚Ach was, ich hab noch nicht mal vor, in einer Band zu spielen. Ich zieh einfach nach Kalifornien.‘ Aber dann, einen Monat nachdem sie umgezogen waren, spielten sie wieder als Melvins zusammen. Das war hart, weil Buzz unseren letzten Drummer schon auf dieselbe Weise rausgetrickst hatte, und ich hatte mitgemacht.“

Der Ausschluss seines Mitbewohners aus den Melvins war ein Meilenstein in Kurts eigener Entwicklung: Jeder bezog in diesem Knatsch Stellung, und Kurt wagte zum ersten Mal, Buzz zur Rede zu stellen. „Kurt hat an diesem Tag künstlerisch und gefühlsmäßig Distanz zu den Melvins genommen“, erzählte Ryan. Kurt hatte längst eingesehen, dass er mit seinen Popeinflüssen Buzz’ Erwartungen ohnehin nie und nimmer gerecht würde. Obwohl er weiterhin davon sprach, wie er die Melvins liebte, war er längst dabei, sich über sein Vorbild Buzz hinauszuentwickeln. Es war ein Schritt, der einfach notwendig war, wenn er jemals eine eigene Stimme entwickeln wollte, und so schmerzhaft er auch war, er stellte eine kreative Befreiung dar, die künstlerisch für Spielraum sorgte.

Kurt und Lukin gingen einander ebenfalls schon länger auf den Geist – Kurt konnte einige von Lukins Freunden nicht ausstehen. Wie in einer Szene direkt aus einer doofen Sitcom nahm Kurt eine Rolle Isolierband, klebte einen Strich mitten durchs Haus und sagte Lukin und seinen Freunden, sie sollten auf ihrer Seite bleiben. Als einer von Lukins Kumpel meinte, er müsse ja schließlich über die Linie, um aufs Klo zu gehen, sagte Kurt nur: „Geh und piss in den Garten, das Klo ist auf meiner Seite.“ Lukin zog aus. Kurt lebte eine Weile ohne Mitbewohner, dann zog ein Freund aus Olympia, Dylan Carlson, bei ihm ein. Mit seinem langen braunen Haar und dem gammeligen Bart sah Dylan aus wie Beach Boy Brian Wilson in seinen „verlorenen Jahren“, aber er hatte ausgesprochen abgefahrene Ansichten über Religion, Rassenproblematik und ­Politik. Dylan war ein Original, und er war gescheit, talentiert und freundlich – alles Eigenschaften, die Kurt bewunderte. Sie hatten einander auf dem Konzert von Brown Cow kennen gelernt und schließlich angefreundet.

Dylan zog nach Aberdeen, angeblich, um mit Kurt als Teppichleger zu arbeiten. Der Job jedoch ließ einiges zu wünschen übrig: „Unser Boss war ein Vollalkoholiker“, erinnerte sich Dylan. „Wenn wir morgens zur Arbeit kamen, lag er manchmal schon bewusstlos in seinem Büro auf dem Boden. Einmal lag er vor der Tür, und wir konnten nicht rein, um ihm auf die Beine zu helfen.“ Mit ihren Jobs war es bald Essig, aber die Freundschaft zwischen Dylan und Kurt sollte halten. Mit einer Band, einem neuen besten Freund und einigen großartigen Songs ging Kurt 1987 sein zwanzigstes Lebensjahr positiv wie lange nicht an. Und bald sollte zu seiner Überraschung auch noch sein Sexleben aufblühen, als Tracy Marander seine Freundin wurde.

Die Verbindung zwischen Kurt und Tracy kam über Nagetiere zustande. Sowohl Kurt als auch Tracy hielten sich Ratten als Haustiere. Er hatte sie bereits zwei Jahre zuvor in einem Punkclub in Seattle kennen gelernt, kurz bevor er wegen Alkoholbesitzes festgenommen wurde. Er und Buzz hatten in einem Auto gesessen und getrunken, als Tracy vorbeikam, um hallo zu sagen. Kurt war so hingerissen von ihr, dass er gar nicht den Streifenwagen bemerkte, der sich über den Parkplatz näherte … Im Jahr darauf liefen sie einander wieder über den Weg, und Anfang 1987 machten sie die Bindung fest. „Ich hatte schon eine Weile mit ihm geflirtet“, sagte Tracy. „Ich glaube, er konnte nicht so recht glauben, dass ihn ein Mädchen tatsächlich gern haben konnte.“

Tracy war die ideale Freundin für den zwanzigjährigen Kurt, und die Beziehung mit ihr war ein Meilenstein auf seinem Weg zum Erwachsenwerden. Sie war ein Jahr älter als er, hatte schon hunderte von Punkkonzerten gesehen und wusste eine Menge über Musik, was Kurt ungemein auf- und anregend fand. Mit ihrem schwarzen Haar, ihren Kurven und den großen Augen, die so auffallend braun waren wie die seinen blau, war sie eine schlichte Schönheit, die mit beiden Beinen auf der Erde stand. Jeder, der sie kennen lernte, freundete sich mit ihr an; hierin – und beileibe nicht nur hierin – unterschied sie sich zu hundert Prozent von Kurt. Er war vom Fleck weg hingerissen von ihr, obwohl er von Anfang an das Gefühl hatte, sie gar nicht verdient zu haben. Gleich zu Beginn ihrer Beziehung offenbarten sich diese inneren Wunden ebenso wie Kurts übliches Schema, sich zurückziehen zu wollen. Sie hatten erst ein paarmal miteinander geschlafen, als sie einmal nach dem Sex nebeneinander im Bett lagen und sie sagte: „Gott, bist du dünn!“ Tracy konnte nicht wissen, dass sie gar nichts Verletzenderes zu Kurt hätte sagen können. Er reagierte darauf, indem er in seine Klamotten sprang und aus dem Haus rannte. Er kam aber wieder zurück.

Tracy beschloss, ihm so viel Liebe zu geben, dass seine Angst vergehen würde. Sie wollte ihm so viel Liebe geben, dass er sich womöglich endlich selbst würde lieben können. Aber bei Kurt begab sie sich da auf trügerisches Terrain; hinter jeder Ecke saß bei ihm ein Anlass zu Selbstzweifel und Angst.

Das Einzige, was er in diesem Frühjahr noch mehr liebte als Tracy, war seine Ratte Kitty. Er hatte den männlichen Nager von klein auf großgezogen, ihn die ersten Wochen über mithilfe einer Pipette ernährt. Die Ratte war für gewöhnlich in ihrem Käfig, aber zu besonderen Anlässen ließ Kurt sie im Haus herumlaufen; ein bisschen Rattendreck konnte den schmuddeligen Teppich auch nicht weiter verderben. Eines Tages, während Kitty frei in der Hütte herumlief, fand Kurt an der Decke eine Spinne und versuchte, die Ratte auf sie zu hetzen: „Ich sagte: ‚Siehst du das Mistvieh, Kitty? Schnapp sie dir, bring sie um, schnapp sie dir, bring sie um‘“, schrieb Kurt in sein Tagebuch. Aber Kitty ließ die Spinne in Ruhe, und als Kurt mit einer Sprühdose Deo wiederkam, um die Spinne damit zu töten, hörte er ein grauenhaftes Geräusch und blickte nach unten:

Mein linker Fuß … auf dem Kopf von Kitty. Er lief blutend, kreischend herum. Ich schrie: „Tut mir leid“, wohl an die dreißigmal. Mit einer schmutzigen Unterhose hob ich ihn auf. Ich steckte ihn in einen Sack, suchte mir eine Latte, nahm ihn mit nach draußen und schlug drauflos, drehte ihn um und trampelte dann auf dem Sack herum. Ich spürte, wie seine Knochen brachen, wie es ihm die Eingeweide herausdrückte. Es ­dauerte etwa zwei Minuten, ihn von seinem Elend zu befreien, und dann überfiel das Elend mich für den Rest der Nacht. Offensichtlich habe ich ihn nicht genug geliebt, nicht so wie jetzt. Ich ging wieder ins Schlafzimmer, sah die Blutflecken und die Spinne. „Fuck you!“, schrie ich und dachte schon daran, sie umzubringen, aber dann ließ ich sie in Ruhe, damit sie mir übers Gesicht krabbeln konnte, wenn ich die ganze Nacht wach lag.

Der Himmel über Nirvana

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