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KNALLER DES MONATS

Montesano, Washington, Juli 1979 bis März 1982

Seine Lieblingsspeise ist Pizza und Coke. Sein Lieblingsspruch ist „excuse you“.

– Aus einem Profil in Puppy Press.

Im September 1979 kam Kurt in die siebte Klasse der Montesano Junior High School, für ihn ein wichtiger Meilenstein, von nun an begann die Schule eine größere Rolle in seinem Leben zu spielen. In der fünften Klasse hatte er zum ersten Mal Musikunterricht gehabt, in der siebten spielte er Schlagzeug in der Highschoolband – eine Leistung, die er seinen Freunden gegenüber herunterzuspielen versuchte, obwohl er sie auf der anderen Seite genoss. Er lernte mit der Marschkapelle und in kleinen Ensembles zu spielen und übte Snare- und Bassdrum für Songs wie „Louie, Louie“ und „Tequila“. Wirklich marschiert wurde bei der Monte Band nur selten, meist spielte sie bei Schulveranstaltungen und Basketballspielen – egal, wo: Kurt war dabei.

Tim Nelson, der Leiter der Kapelle, hat ihn als „ganz normalen, durchschnittlichen Musikschüler“ in Erinnerung. „Er war weder außergewöhnlich noch auffallend schlecht.“ Kurts Foto erschien in jenem Jahr in Montesano im „Sylvan“-Jahrbuch: Man sieht ihn bei irgendeiner Versammlung Schlagzeug spielen. Er trägt einen Pagenschnitt und sieht ein bisschen aus wie der junge Brad Pitt.

Seine Kleidung tendierte zum typischen Mittelstufenschülerstil: Hash-Jeans mit Schlag, ein gestreiftes Izod-Rugbyshirt und Nike-Sportschuhe. Er kleidete sich wie ein typischer Zwölfjähriger, nur dass er für sein Alter etwas klein und schmächtig war.

Beliebt, wie er an der Schule war, wurde er für ein kleines Porträt in der Schülerzeitung Puppy Press ausgewählt. Am 26. Oktober 1979 war dort unter der Überschrift „Meatball of the Month“ – „Knaller des Monats“ zu lesen:

„Kurt geht in die siebte Klasse unserer Schule. Er hat blondes Haar und blaue Augen. Schule findet er okay. Kurts Lieblingsfach ist die Schulband, und sein Lieblingslehrer ist Mr. Hepp. Seine Leibspeise ist Pizza und Coke. Sein Lieblingsspruch ist ‚excuse you‘. Sein Lieblingssong ist ‚Don’t Bring Me Down‘ von E.L.O., und seine Lieblingsrockgruppe ist Meatloaf. Seine Lieblings-TV-Serie ist Taxi, und sein Lieblingsschauspieler ist Burt Reynolds.“

Der Spruch „excuse you“ ist Kurts Wortspiel auf Steve Martins Saturday Night Live-Standardspruch „excuse me“ und illustriert Kurts verschrobenen, sarkastischen Humor. Er liebte es, Sätze zu verdrehen, oder stellte absurde rhetorische Fragen – man stelle sich einen halbwüchsigen Andy Rooney vor (dieser ist ein altgedienter amerikanischer Korrespondent, TV-Kommentator und Autor zahlreicher Bücher und Kolumnen und für seine trockenen Sprüche berühmt). Typisch war etwa, als Kurt angesichts eines lodernden Sonnwendfeuers rief: „Wie kann man bloß ein so einwandfreies Feuer durch Rauch ruinieren?“ Klein, wie er war, hielt er sich in seinem Umfeld von halbwüchsigen Jungs über Wasser, indem er sich Konflikten mit Witzeleien entzog und seinen Quälgeistern gegenüber seine überlegene Intelligenz ausspielte und sie durch den Kakao zog.

Zahllose Stunden saß Kurt vor dem Fernseher, und andauernd lag er deswegen mit Don und Jenny im Clinch. Sie wollten ihm die Zeit vor der Glotze einschränken, aber er schrie und bettelte ständig nach mehr. Wenn er nicht mehr fernsehen durfte, besuchte er einfach seinen besten Freund, Rod Marsh, der einen Block weiter wohnte, und setzte sich dort vor den Kasten. Obwohl Saturday Night Live eigentlich nach seinem Zapfenstreich lief, versäumte er kaum eine Sendung, am Montag darauf spielte er dann in der Schule die besten Sketche nach. Außerdem konnte er täuschend echt Latka imitieren, die Rolle, die der Komiker Andy Kaufman in der Serie Taxi spielte.

Im Sommer zuvor hatte Kurt in der Little League aufgehört, im Winter jedoch trat er in die Ringer-Juniorenriege der Schule ein, zur ganz besonderen Freude seines Vaters, der keinen Kampf verpasste und ihn endlos über seine Fortschritte ausfragte. Kurts Trainer war Kinichi Kanno, der Kunsterzieher der Schule, Kurt hatte nicht zuletzt mit dem Ringen angefangen, um mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. In Kanno fand Kurt ein Vorbild, das ihn in seiner Kreativität unterstützte, und bald war er Kannos Lieblingsschüler. Eine von Kurts Zeichnungen erschien zu Halloween auf dem Titelblatt der Puppy Press. Sie zeigte eine Bulldogge, das Maskottchen der Schule, die eine Tüte mit Süßigkeiten über einer Hundehütte ausleert. Der typische Cobain-Touch war, dass Kurt zwischen all den Schleckereien eine Bierdose versteckt hatte. Als Weih­nachtskarte zeichnete Kurt in diesem Jahr mit Tusche ein Bild von einem kleinen Jungen, der zu angeln versuchte, dessen Haken sich aber in seinem Hintern verfangen hatte – die Karte war mindestens so gut wie die meisten Karten, die man von Hallmark kaufen konnte. Wie Nikki Clark aus seiner Klasse sich erinnerte, waren Kurts Zeichnungen „immer sehr gut. Kanno brauchte ihm nie zu helfen, weil er den anderen immer weit voraus war.“ Auch außerhalb des Kunstunterrichts hatte Kurt seinen Zeichenstift immer griffbereit: „Im Unterricht war er ständig am Kritzeln, in jedem Fach.“

Bei diesen „Kritzeleien“ handelte es sich meist um Autos, Laster und Gitarren, zunehmend versuchte er sich auch an kruden pornografischen Zeichnungen. „Einmal zeigte er mir eine Skizze, die er gemacht hatte“, erzählte Klassenkamerad Bill Burghardt, „ein völlig realistisches Bild einer Vagina. Ich habe ihn gefragt, was das sei, und er lachte.“ Nicht dass Kurt damals bereits eine Vagina aus der Nähe gesehen hätte – außer in Büchern und den Pornoheften, die die Jungs untereinander herumreichten. Eine weitere Spezialität von ihm war Satan, eine Figur, die er während der Unterrichtsstunden immer und immer wieder zeichnete.

Roni Toyra war in der siebten Klasse Kurts Freundin, aber es war eine unschuldige erste Verknalltheit, aus der nie etwas Ernstes wurde. Er schenkte ihr eine Zeichnung, um das Band zwischen ihnen zu besiegeln. „Es gab Kinder an der Schule, die ganz eindeutig gestört oder Außenseiter waren, aber er war bestimmt keins davon“, sagte sie. „So ziemlich das Einzige, worin er sich unterschied, war, dass er stiller war als die meisten anderen. Nicht ungesellig, nur eben still.“

Zuhause war Kurt alles andere als das. Ständig beschwerte er sich lautstark über die seiner Ansicht nach unfaire Behandlung durch Jenny oder Don. Wenn Kinder in eine Ehe mitgebracht werden, geht es in den seltensten Fällen problemfrei ab, aber hier war die Situation besonders heikel. Ständig und aufreibend wurde in der Familie über Bevorzugung und Fairness diskutiert. Kurts Klagen führten für gewöhnlich zu Streit zwischen Don und Jenny oder fachten den Hass zwischen Don und Wendy an, deren Streitereien um Besuchsrechte und Unterhaltszahlungen ständig am Köcheln waren. Don schimpfte darüber, dass Wendy immer sofort Kim anrufen ließ, wenn er mit seinem Unterhaltsscheck mal auch nur einen Tag zu spät dran war.

Gegen Ende der siebten Klasse rief die Krankenschwester der Schule zuhause an und teilte mit, Kurts Körperproportionen ließen auf eine Skoliose schließen, eine krankhafte Seitenverbiegung der Wirbelsäule. Don und Jenny gingen daraufhin mit ihm zum Arzt, der nach einer gründlichen Untersuchung zu dem Schluss kam, Kurt leide nicht an Skoliose, er habe nur einfach längere Arme als die meisten Kinder seiner Größe, weshalb seine Maße nicht so recht zusammenzupassen schienen. Wendy jedoch überzeugte das ganz und gar nicht. Über die Kommunikationswege zwischen den beiden Familienhälften, die mit einer lausigen Runde „Stille Post“ vergleichbar waren, hatte Wendy erfahren, Kurt leide an Skoliose. Sie war entsetzt darüber, wie gelassen Don das hinnahm und dass Kurt nicht schon im Ganzkörpergips steckte. Kurt schloss sich der Diagnose seiner Mutter an und gab Jahre später an „im ersten Highschooljahr eine kleine Skoliose“ gehabt zu haben. Obwohl diese Behauptung im Widerspruch zu den Fakten steht, führte Kurt sie als weiteres Beispiel dafür an, wie sein Vater ihn im Stich gelassen hatte.

Wie viele Scheidungskinder war Kurt ein Meister darin, seine Eltern gegeneinander auszuspielen. Als etwa Wendy 1980 als Bürokraft beim County Commissioner in der Kreisverwaltung von Montesano arbeitete, besuchte Kurt sie des Öfteren nach der Schule, nur um zu petzen, wie Don und Jenny ihm wieder zugesetzt hätten. Je unerträglicher Kurts Situation in Monte wurde, desto mehr hoffte er, Wendy würde ihn wieder bei sich aufnehmen. Seine Mutter aber hatte ihre eigenen Probleme, und zwar mit Frank. Kim gegenüber erwähnte sie einmal, sie habe Angst, wenn Kurt mitbekäme, wie ungut es bei ihnen zuhause zugeht, würde er womöglich schwul werden. Jahre später, als Kurt das Thema Wendy und Kim gegenüber zur Sprache brachte, sagte seine Mutter ihm: „Kurt, du hast ja keine Ahnung, wie das damals war. Du wärst doch nur in einer Erziehungsanstalt, wenn nicht gar im Gefängnis gelandet.“

Wiederholt beklagte sich Kurt Wendy gegenüber, Jennys Kinder würden in der Familie bevorzugt. Wenn Jennys Ex-Mann Mindy und James etwas schenkte, war Kurt eifersüchtig. Jede Disziplinarmaßnahme gegen ihn sah er vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er nicht Jennys leibliches Kind war. Seinen Freunden erzählte er, dass er Jenny nicht mochte; er maulte über ihr Essen und behauptete sogar, sie würde ihm die Limonade rationieren. Jenny, so sagte er, höre „das Zischen einer Pepsi-Dose noch drei Zimmer weiter“, und aufs Pausenbrot gebe es „nur zwei Scheiben Carl-Buddig-Schinken pro Sandwich und zwei Grandma’s Cookies dazu“.

Leland Cobain machte Don Vorhaltungen über die Ungerechtigkeit Kurt gegenüber: „Die hatten Obst auf dem Tisch stehen, und Mindy und James konnten jederzeit hergehen und sich einen Apfel nehmen. Wenn Kurt sich einen nahm, dann machte Donnie ihm die Hölle deswegen heiß.“ Lelands Ansicht nach hatte Don derartige Angst davor, Jenny könnte ihn verlassen, dass er sich auf die Seite ihrer Kinder stellte. Don gab zu, dass es in Sachen Disziplin mit Kurt mehr Probleme gab als mit Jennys Kindern, aber das hatte seiner Meinung zufolge nichts mit Bevorzugung, sondern nur mit Kurts Charakter zu tun. Aber es stimmte schon: Don machte sich tatsächlich Sorgen, Jenny würde ihn sitzen lassen, wenn Kurt zu viele Scherereien machte: „Ich hatte Angst, es könnte so weit kommen, dass es hieß: ‚Entweder er oder ich.‘ Und ich wollte sie nicht verlieren.“

Kurts Beziehung zu seinen Geschwistern und Stiefgeschwistern wurde ausgeglichener, je älter er wurde. Seinen Halbbruder Chad vergötterte er, weil er Babys einfach von Haus aus gern hatte. Mindy bekam dann und wann einen Boxhieb ab, aber wenn keine Schule war, spielte er auch mal den ganzen Tag mit ihr. Schulkameraden, die auf seine Familie zu sprechen kamen – einige seiner Kumpel fanden Mindy süß –, beeilte er sich zu korrigieren, wenn sie Mindy seine „Schwester“ nannten. Seinen Freunden gegenüber bezeichnete er Mindy als „nicht meine Schwester, sondern die Tochter der neuen Frau von meinem Dad“ und sprach diese Worte aus, als wäre Mindy eine Art Folter, die er täglich zu ertragen verdammt sei.

Mit James kam er besser aus, weil er bei ihm nicht Gefahr lief, von ihm in den Schatten gestellt zu werden. James war der batboy in einem von Kurts Baseballteams und hatte sich da um die Schläger der batters, der Schlagleute, zu kümmern, und wenn andere Jungs auf James herumhackten, ging Kurt dazwischen und drohte den Angreifern. Außerdem interessierten sie sich beide fürs Kino. Im Sommer fuhr die Familie oft in ein Autokino mit zwei Leinwänden – mit zwei Autos. Das mit den Kindern wurde dann vor der Leinwand mit dem jugendfreien Film geparkt, während die Eltern sich im anderen Wagen den Streifen für Erwachsene ansahen. Kurt brachte James bei, dass sie sich nicht unbedingt die x-te Don-Knotts-Komödie reinziehen mussten, sie brauchten nur aufs Klo zu gehen und konnten sich dann von draußen etwas für Ältere anschauen, wie zum Beispiel Heavy Metal, der Kurt besonders gefiel. Kurt liebte es, seinem jüngeren Stiefbruder Filme zu erzählen, die er gesehen hatte. Im Jahr zuvor hatte er Die unheimliche Begegnung der dritten Art gesehen, die Dialoge daraus konnte er so gut wie auswendig hersagen. „Beim Essen spielte er immer mit seinem Kartoffel­brei und formte daraus diesen Berg aus dem Film“, erinnerte sich James.

1981, mit vierzehn, begann Kurt mit der Super-Acht-Kamera seiner Eltern eigene Kurzfilme zu drehen. Eine seiner ersten Produktionen war eine aufwändige Film-„Hommage“ an Orson Welles’ Hörspiel Krieg der Welten mit selbst modellierten Ton-Außerirdischen, die im Hinterhof der Cobains landeten. Er zeigte den Film James und redete ihm – mit Erfolg – ein, Außerirdische hätten ihr Haus besetzt. Ein Film von 1982 offenbarte eine weitaus dunklere Seite von Kurts Psyche. Der Film heißt Kurt begeht blutigen Selbstmord und zeigt Kurt, der – mit James hinter der Kamera – so tut, als schneide er sich mit den Scharten einer aufgeschnittenen Limonadendose die Pulsadern auf. Kurt benutzte Spezialeffekte und Kinoblut und spielte seine Todesszene auf eine überdramatische Art und Weise aus, die er sich wohl in alten Stummfilmen abgeguckt hatte.

Der grausige Streifen nährte nur die Sorgen der Eltern über die dunkle Seite, die sie an ihrem Sohn immer mehr wahrzunehmen glaubten. „Irgendetwas stimmte da einfach nicht“, meinte Jenny, „irgendetwas stimmte nicht mit seinen Denkprozessen, von Anfang an. Da schien etwas aus dem Gleichgewicht zu sein.“ Kurt konnte seelenruhig über Dinge reden, die den meisten Jungs in seinem Alter Albträume bereitet hätten: Mord, Vergewaltigung, Selbstmord. Er war nicht der erste Teenager der Weltgeschichte, der je das Thema Selbstmord aufs Tapet gebracht hätte, aber die lässige Art, wie er darüber witzelte, kam seinen Freunden doch merkwürdig vor. Einmal auf dem Heimweg von der Schule schlug sein Freund John Fields Kurt vor, er solle doch Maler werden, und Kurt antwortete ganz beiläufig, er habe da andere Pläne: „Ich werde ein Rocksuperstar, bringe mich um und mache einen flammenden Abgang“, sagte er. „Das ist ja wohl das Dümmste, was ich je gehört habe“, entgegnete Fields, „Red nicht so einen Blödsinn.“ Aber Kurt blieb dabei: „Nein, ich möchte reich und berühmt werden und mich dann umbringen wie Jimi Hendrix.“ Dass Jimi Hendrix’ Tod kein Selbstmord gewesen war, wussten die Jungs damals nicht. Fields ist nicht der einzige Freund aus Kurts Zeit in Monte, der so eine Geschichte auf Lager hat – ein halbes Dutzend anderer Bekannter erzählt ihre eigenen Versionen dieser Unterhaltung, die immer dieselbe finstere Richtung nahm.

Innerhalb der Familie selbst überraschte es niemanden, dass Kurt mit seinen vierzehn so beiläufig über Selbstmord sprach. Zwei Jahre zuvor hatte sich Lelands Bruder, Kurts Großonkel Burle Cobain, im Alter von sechsundsechzig Jahren mit einem kurzläufigen Revolver, Kaliber achtunddreißig, erst in den Bauch und dann in den Kopf geschossen. Leland hatte die Leiche entdeckt. Man munkelte, Burle habe eine Anklage wegen sexueller Belästigung ins Haus gestanden. Er hatte der Familie nicht so nahe gestanden wie Kurts andere Onkel, aber sein Tod war für Kurt ein ständiges Thema. Beiläufig witzelte er, sein Onkel habe sich „wegen des Todes von Jim Morrison“ das Leben genommen, und das, obwohl Morrison bereits zehn Jahre vorher gestorben war.

Worüber Kurt seine Witze machte, war für seinen Großvater Leland ein niederschmetternder Schlag. 1978, ein Jahr vor Burles Selbstmord, war Lelands Bruder Ernest an einer Gehirnblutung gestorben. Ernests Tod im Alter von siebenundfünfzig Jahren galt zwar offiziell nicht als Selbstmord, aber später kam heraus, dass er von seinem Arzt ultimativ gewarnt worden war, er würde sterben, wenn er nicht zu trinken aufhöre. Er trank weiter und stürzte schließlich eine Treppe hinunter, was zu der inneren Blutung führte.

Dies waren nicht die einzigen Todesfälle, die auf Kurt einwirkten. Als er in der achten Klasse war, erhängte sich ein Junge aus Montesano außerhalb einer Grundschule im Ort. Kurt kannte den Jungen: Es war Bill Burghardts Bruder. Kurt, Burghardt und Rod Marsh entdeckten die an einem Ast baumelnde Leiche auf dem Weg zur Schule und starrten sie gut eine halbe Stunde lang an, bis sie schließlich von Schulpersonal verscheucht wurden. „Es war das Groteskeste, was ich je gesehen habe“, erinnerte sich Marsh. Nach diesem Vorfall und den Tragödien in seiner eigenen Familie waren das Wort und das Konzept Selbstmord für Kurt nicht mehr tabu. Es gehörte ganz einfach zu seiner Umgebung, genau wie Alkoholismus, Armut und Drogen. Kurt sagte Marsh einmal, er habe „Selbstmord-Gene“.

Kurts Experimente mit Drogen begannen in der achten Klasse, als er anfing, Marihuana zu rauchen und LSD zu nehmen. Zuerst rauchte er Pot auf Partys, dann zusammen mit Freunden, und schließlich rauchte er täglich allein. In der neunten Klasse war er bereits ein ausgewachsener Kiffer. Marihuana war in Monte billig und in rauen Mengen zu haben, meist zuhause selbst gezogen, und es half Kurt dabei, die Zustände zuhause zu vergessen. Was als geselliges Ritual begonnen hatte, wurde für Kurt zum Anästhetikum seiner Wahl.

Zu der Zeit, als er mit den Drogen anfing, begann er auch regelmäßig die Schule zu schwänzen. Wenn er zusammen mit seinen Freunde blaumachte, kauften sie sich Gras oder jemand ließ aus der Hausbar seiner Eltern eine Flasche Sprit mitgehen. Bald begann Kurt aber auch allein blauzumachen, oder er ging in die Schule und verdrückte sich nach der ersten Stunde wieder. Er traf seine Freunde immer seltener und schien sich überhaupt von allem zu entfremden – außer seinem Zorn. In der Silvesternacht 1980 begegnete Trevor Briggs Kurt, der mutterseelenallein in einem Park von Montesano auf einer Schaukel saß und vor sich hin pfiff. Trevor lud Kurt zu sich nachhause ein, die beiden sahen sich im Fernsehen die Dick Clark Show an und rauchten sich zu. Das alte Jahr endete für sie mit dem Gesicht über der Kloschüssel, so viel „Home-grown“ hatten sie geraucht.

Was ein paar Jahre zuvor noch geradezu wie ein Idyll geschienen hatte, der ideale Ort, um dort zur Schule zu gehen, wurde für Kurt bald zu einer Art Gefängnis. Im Gespräch mit Freunden zog er neben seinen Eltern auch über Montesano her. Er hatte Harper Lees Wer die Nachtigall stört gelesen und erklärte, das Buch schildere bis aufs i-Tüpfelchen Montesano. Anfang 1981 begann sich mehr und mehr ein anderer Kurt zu zeigen – oder eben gerade nicht zu zeigen: Er verbrachte immer mehr Zeit in Isolation. Im Haus in der Fleet Street hatte er ein ausgebautes Kellerzimmer bezogen. Seinen Freunden erzählte er, der Umzug komme ihm wie eine Verbannung vor. In seinem Kellerzimmer vertrieb er sich die Zeit mit einem Flipperautomaten aus dem Versandhaus, den er zu Weihnachten bekommen hatte, einer gebrauchten Stereoanlage von Don und Jenny und einem Stapel Platten. In seiner Plattensammlung hatte er Grand Funk Railroad, Boston und Elton John. Kurts Lieblingsplatte in diesem Jahr war Evolution von Journey.

Seine Konflikte mit Don und Jenny hatten einen kritischen Punkt erreicht. All ihre Bemühungen, Kurt wieder in die Familie einzubinden, waren fehlgeschlagen. Er fing an, den Familienabend zu boykottieren, und weil er sich innerlich verlassen fühlte, entschloss er sich, im Gegenzug seine Familie äußerlich zu verlassen. „Er hatte im Haushalt ein paar Aufgaben, ganz normale kleine Pflichten, aber er hörte einfach auf und machte keinen Finger mehr krumm“, erinnert sich Don. „Wir versuchten, ihn mit Taschengeld zu bestechen, und wenn er gewisse Hausarbeiten nicht machen wollte, dann zogen wir ihm etwas ab. Aber er wollte einfach gar nichts mehr machen. Das ging dann so weit, dass er uns Geld schuldete. Da rastete er dann immer aus, knallte die Türen und rannte in seinen Keller.“ Kurt schien auch nicht mehr so viele Freunde zu haben. „Mir fiel damals auf, dass einige von seinen Freunden nicht mehr kamen“, sagte Jenny. „Er verbrachte viel mehr Zeit zuhause, aber dass er da war, hieß noch lange nicht, dass er bei uns war. Er schien mir immer introvertierter zu werden. Er war still und brummelig.“ Rod Marsh erinnerte sich, wie Kurt in diesem Jahr die Katze eines Nachbarn umbrachte. In einem Anfall von Halbwüchsigen-Sadis­mus – der in auffallendem Kontrast zu seinem späteren Charakter als Erwachsener steht – warf er die lebendige Katze in den Kamin des elterlichen Hauses und lachte, als sie starb und es im ganzen Haus zu stinken begann.

Im September 1981 begann Kurt sein erstes Highschooljahr. In einem Versuch, sich anzupassen, bewarb er sich im Herbst für das Footballteam. Trotz seiner kleinen Statur kam er durch das Auswahlverfahren – ein deutliches Zeichen dafür, wie klein die Schule in Montesano war. Er trainierte zwei Wochen lang mit, stieg dann aber wieder aus, weil es ihm angeblich zu viel Arbeit war. In selben Jahr hatte er sich auch bei den Leichtathleten eingeschrieben, Diskuswerfen – eine erstaunliche Leistung bei seiner Statur – und Zweihundert-Yards-Lauf. Er war sicher nicht der beste Sportler, schon allein weil er viel zu oft das Training schwänzte, aber er gehörte zu den Schnelleren unter den Jungs. Auf dem Gruppenfoto der Sportler im Jahrbuch sieht man ihn mit verkniffenen Augen in die Sonne blinzeln.

Im Februar dieses Jahres – wie durch eine glückliche Fügung – verkündete Onkel Chuck Kurt, er könne sich von ihm zum vierzehnten Geburtstag entweder ein Fahrrad oder eine E-Gitarre wünschen. Ein Junge, der seine Schulhefte mit Bildern von Rockstars voll malte, brauchte da nicht lange zu überlegen. Kurt hatte bereits Dons Lapsteel-Hawaiigitarre auf dem Gewissen; er hatte sie zerlegt, um ihr Innenleben zu untersuchen. Die Gitarre, die er von Chuck bekam, war nicht viel besser: ein billiges Ding aus Japan, auch noch aus zweiter Hand. Immer wieder ging sie kaputt, aber für Kurt war sie sein Ein und Alles. Weil er nicht ­wusste, wie man die Saiten aufzog, rief er Tante Mari an und fragte, ob man dabei alphabetisch vorging. Nachdem er die Gitarre aber erst einmal startklar hatte, schien er regelrecht mit ihr zu verwachsen, er nahm sie sogar mit in die Schule, um damit anzugeben. „Alle fragten ihn danach“, erinnert sich Trevor Briggs. „Ich habe ihn damit auf der Straße getroffen, und er meinte: ‚Brauchst mich gar nicht erst zu fragen, ob ich was spiele, die ist kaputt.‘“ Aber das spielte keine Rolle – die Gitarre war für Kurt weniger ein Instrument als eine Identität.

Zu dieser Identität gehörte auch der Sport. Er hatte mit dem Ringen weitergemacht und stieg nach dem Eintritt in die Highschool in die dortige Ringerriege auf. Die Montesano Bulldogs holten sich in diesem Jahr mit zwölf Siegen und nur drei Niederlagen den Meistertitel, allerdings ohne dass Kurt daran wesentlich beteiligt gewesen wäre: Immer öfter kam er nicht zum Training, ließ sogar Matches sausen, und bei einer ersten Mannschaft erwies sich seine Größe nun denn doch als gewaltiger Nachteil. In der zweiten Mannschaft zwei Jahre zuvor war Ringen noch eine lustige Methode zum Abreagieren gewesen, in der ersten ging es jetzt todernst zur Sache, und beim Training musste Kurt ständig gegen Jungs antreten, die ihn in null Komma nichts auf die Schultern nagelten. Zum Ende der Saison posierte Kurt für das Mannschaftsfoto in gestreiften Kniestrümpfen, und zwischen seinen Ungetümen von Mannschaftskameraden sah er eher aus wie ein Trainer als ein Mitglied der Riege.

Auf der Ringermatte inszenierte Kurt eine seiner größten Schlachten mit seinem Vater. Am Tag der Meisterschaftskämpfe, so jedenfalls erzählte Kurt die Geschichte später selbst, ging er in den Ring, um es Don, der auf der Tribüne saß, zu zeigen. Michael Azerrad gegenüber schilderte Kurt das Ganze später folgendermaßen: „Ich war auf meinen Händen und Knien und schaute zu meinem Vater hinüber, lächelte und wartete auf den Anpfiff. Ich starrte ihm ins Gesicht und tat dann gar nichts mehr. Ich verschränkte meine Arme und ließ mich einfach auf die Schultern legen.“ Kurt behauptete, das viermal hintereinander gemacht zu haben, jedes Mal drehte man ihn sofort auf den Rücken, bis Don angewidert die Halle verließ. Don Cobain versicherte, die Geschichte sei erfunden; auch Kurts Klassenkameraden erinnern sich nicht daran, vermuten vielmehr, das Team hätte jemandem, der absichtlich verlor, die Hucke voll gehauen. Leland Cobain jedoch erinnerte sich daran, dass Don ihm die Geschichte nach dem Match erzählte: „Einfach dagelegen hat er, der kleine Scheißkerl“, habe Don geschimpft. „Er wollte sich einfach nicht wehren.“

Kurt war ein Meister darin, bei seinen Erzählungen zu übertreiben – er erzählte lieber seine emotionale Wahrheit als die eigentliche. Höchstwahrscheinlich war es einfach so, dass Kurt einen überlegenen Gegner abbekommen und beschlossen hatte, sich erst gar nicht zu wehren, was natürlich vollends ausreichte, um einen Perfektionisten wie seinen Vater auf die Palme zu bringen. Aber die Art, wie Kurt die Geschichte erzählte, die Schilderung des kurzen Blicks zwischen seinem Vater und ihm zeigt, wie sehr sich ihre Beziehung in den sechs Jahren seit der Scheidung verschlechtert hatte. Immerhin hatten sie früher einmal jede freie Minute zusammen verbracht, und an dem Tag, an dem Don Kurt das Minimotorrad gekauft hatte, war er für seinen Sohn der Größte gewesen. Bei der Highschool die Straße runter gab es ein Restaurant, wo die beiden immer gemeinsam hingegangen waren; da saßen sie dann, allein, eine kleine Familie, und aßen schweigsam, verbunden in ihrer Einsamkeit: ein kleiner Junge, der sich nichts mehr wünschte, als den Rest seines Lebens mit seinem Dad zu verbringen, und ein Vater, der gern jemanden gehabt hätte, dessen Liebe für ihn niemals verging. Sechs Jahre später jedoch lagen die beiden in einem Ringkampf der Willenskraft gegeneinander, und wie bei allen großen Tragödien waren beide Kontrahenten überzeugt, es sich nicht leisten zu können zu verlieren. Kurt brauchte ganz verzweifelt einen Vater, und Don brauchte die Liebe seines Sohns, aber keiner von beiden hätte das eingestehen können.

Es war eine Tragödie von Shakespeare’schen Ausmaßen. Wie weit Kurt sich auch von der Matte entfernte, aus dem Augenwinkel sah er immer den Vater oder genauer gesagt – da die Beziehung mit seinem Vater nun praktisch tot war – ­dessen Geist. Fast ein Jahrzehnt nach jener Niederlage im ersten Highschooljahr ­feuerte Kurt in dem Song „Serve The Servants“ eine bittere Textzeile ab, eine weitere Runde in dem endlosen Kampf mit seinem größten Gegner: „Ich habe mir alle Mühe gegeben, einen Vater zu haben, aber stattdessen hatte ich einen Dad.“

Der Himmel über Nirvana

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