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Prolog

HEAVIER THAN HEAVEN

New York, New York , 12. Januar 1992

Heavier Than Heaven – Mit diesem Slogan bewarben britische Konzertveranstalter 1989 Nirvanas Tour mit der Band Tad. Er bezog sich sowohl auf Nirvanas „heavy“ Sound als auch auf den schwergewichtigen Tad-Sänger Tad Doyle.

Zum ersten Mal sah er den Himmel genau sechs Stunden und siebenundfünfzig Minuten nach dem Augenblick, in dem eine ganze Generation sich kollektiv in ihn verknallt hatte. Es war das erste Mal, dass er starb, und nur der erste von vielen kleinen Toden, die folgen sollten. Die leidenschaftliche und rück­haltlose Hingabe der Generation, die ihn ins Herz geschlossen hatte, war die Art Liebe, von der man von Anfang an weiß, dass sie einem das Herz brechen wird und nur wie eine griechische Tragödie enden kann.

Wir schreiben den 12. Januar 1992, ein klarer, aber frostiger Sonntagmorgen. Die Temperatur in New York sollte im Lauf des Tages auf ganze sechs Grad klettern, aber um sieben Uhr morgens, in der kleinen Suite des Omni-Hotels in Manhattan, stand das Quecksilber noch um die Null. Man hatte das Fenster offen gelassen, wegen des Zigarettengestanks, und der Morgen hatte dem Zimmer auch noch den letzten Rest von Wärme geraubt. Das Zimmer selbst sah aus wie nach einem Orkan: Überall lagen Klamotten verstreut, Kleider, Hemden, Schuhe, wie nach einem Schlussverkauf für Blinde. Vor der Flügeltür der Suite stapelte sich ein halbes Dutzend Tabletts mit den Resten der Mahlzeiten der letzten paar Tage: angebissene Brötchen und ranzige Käsescheiben, eine Hand voll winterträger Taufliegen schwebte über welkem Salat. Der Anblick war nicht eben typisch für ein Viersternehotel, aber das Hotelpersonal war nun einmal aus dem Zimmer verbannt worden. Auf dem Schild draußen vor der Tür hieß es nicht mehr nur „Do not disturb!“ – jemand hatte daraus „Do not EVER disturb! Wir ficken gerade!“ gemacht.

An diesem Morgen konnte davon keine Rede sein. Auf dem überdimensionalen Bett schlief die sechsundzwanzigjährige Courtney Love. Sie trug einen viktorianischen Unterrock, eine echte Antiquität, und ihr langes blondes Haar war über das Kissen drapiert wie das einer Märchenprinzessin. Die Falten im Laken neben ihr zeigten, dass dort kürzlich noch jemand gelegen hatte. Und wie in der Eingangsszene eines Film noir befand sich eine Leiche im Raum.

„Ich bin um sieben aufgewacht, und er war nicht im Bett“, erinnerte sich Love. „Ich hatte noch nie solche Angst.“

Die Person, die im Bett fehlte, war der vierundzwanzigjährige Kurt Cobain. Kaum sieben Stunden zuvor hatte Kurt mit seiner Band Nirvana bei Saturday Night Live gespielt. Ihr Auftritt in der Sendung sollte eine Wasserscheide in der Geschichte des Rock ’n’ Roll werden: Zum ersten Mal war eine Grunge-Band live im landesweiten Fernsehen zu sehen gewesen. Am selben Wochenende hatte Nirvanas Major-Label-Debütalbum Nevermind Michael Jackson vom ersten Platz der Billboard-Charts verdrängt und war damit Amerikas meistverkaufte LP. Der Erfolg war zwar nicht über Nacht gekommen, die Band war ja immerhin schon vier Jahre zusammen, die Art und Weise jedoch, wie Nirvana die Musikbranche überrascht hatten, war beispiellos. Praktisch als Unbekannte hatten sie im Vorjahr die Hitparaden gestürmt; „Smells Like Teen Spirit“ war 1991 der bekannteste Song überhaupt, mit einem Gitarrenriff, das den Beginn einer neuen Dekade im Rock ’n’ Roll einläutete.

Und noch nie hatte es einen Rockstar gegeben wie Kurt Cobain. Mehr Antistar als Prominenter, weigerte er sich sogar, sich in einer Limousine zu NBC chauffieren zu lassen, und was immer er tat, er verlieh ihm dieses gewisse Secondhandladen-Flair. Bei Saturday Night Live trug er dieselben Sachen wie die vergangen beiden Tage auch: Converse-Tennisschuhe, Großvaterstrickweste, das T-Shirt einer obskuren Band und Jeans mit zerfetzten Knien. Die Haare hatte er sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen und obendrein noch mit Erdbeer-Kool-Aid gefärbt, sodass die verfilzten Zotteln wirkten, als wären sie voll getrock­neten Blutes. Noch nie in der Geschichte des Live-Fernsehens, so wirkte es, hatte jemand so wenige Gedanken auf Erscheinungsbild und Hygiene verschwendet.

Kurt war ein komplizierter Misanthrop, voller Widersprüche, und was gelegentlich nach einer zufälligen Revolution aussehen mochte, wies allenthalben Spuren einer sorgfältigen Inszenierung auf. In Interviews betonte er immer wieder, wie sehr er es verabscheue, auf MTV rauf und runter gespielt zu werden, auf der anderen Seite rief er wiederholt seine Manager an und beschwerte sich, der Sender zeige seine Videos nicht ansatzweise oft genug. Besessen, um nicht zu sagen zwanghaft, plante er jeden Zug seiner Karriere, jeden musikalischen Schritt. Er notierte sich Ideen in seinen Tagebüchern schon Jahre, bevor er sie schließlich in die Tat umsetzte, aber wenn ihm dann die Ehren zuteil wurden, um die ihm gewesen war, tat er, als wäre es ihm schon zu unangenehm, dafür auch nur aus dem Bett zu steigen. Er war einer, der anderen seinen Willen aufzwang, gleichzeitig aber von einem schier übermächtigen Selbsthass zerfressen war. Sogar die, die ihn am besten kannten, hatten das Gefühl, ihn im Grunde überhaupt nicht zu kennen; die Ereignisse jenes Sonntagmorgens waren für dieses Gefühl die beste Bestätigung.

Nachdem Saturday Night Live im Kasten war – die Party danach schenkte er sich mit der Begründung, so etwas sei „nicht sein Stil“ –, gab Kurt einem Rundfunkjournalisten ein zweistündiges Interview. Erst um vier Uhr morgens war sein Arbeitstag schließlich beendet. Und es war nach allem Dafürhalten ein erfolgreicher Tag gewesen: Er war der musikalische Stargast von Saturday Night Live gewesen, sein Album stand auf Platz eins, und „Weird Al“ Yankovic hatte kurz vor der Sendung um die Erlaubnis gebeten, eine Parodie von „Teen Spirit“ aufnehmen zu dürfen. Zusammengenommen markierte das sicher den Höhepunkt von Kurts kurzer Karriere, die Art von Anerkennung, von der die meisten Künstler nur träumen und wie sie Kurt selbst als Teenager durch die Fantasie gegeistert war.

Während seiner Jugend im Südwesten von Washington hatte Kurt nicht eine einzige Folge von Saturday Night Live versäumt und gegenüber seinen Freunden an der Junior High School geprahlt, eines Tages werde er auch ein Star. Ein Jahrzehnt später war er der meistgefeierte Mann im Rock ’n’ Roll. Nach nur zwei Alben pries man ihn als den größten Songwriter seiner Generation. Noch zwei Jahre zuvor hatte er sich um einen Job als Hundezwingerreiniger beworben, und man hatte ihn nachhause geschickt.

In jenen Stunden vor Sonnenaufgang jedoch empfand er weder Genug­tuung, noch war ihm nach Feiern zumute; wenn überhaupt, hatte all die Aufmerksamkeit sein übliches Unbehagen nur noch verschärft. Er fühlte sich krank; er litt von Haus aus an einem, wie er sich ausdrückte, „periodischen brennenden Übelkeitsschmerz“ im Magen, und der Stress machte das alles noch schlimmer. Durch den Erfolg und den Ruhm schien es ihm nur noch schlechter zu gehen. Kurt und seine Verlobte Courtney Love waren das meistdiskutierte Paar im Rockgeschäft, und einige dieser Diskussionen drehten sich um Drogenmissbrauch. Kurt hatte immer gedacht, die Anerkennung seines Talents würde für die emotionalen Schmerzen, die sein frühes Leben gezeichnet hatten, heilsam sein; der Erfolg hatte diesen Glauben nicht nur Lügen gestraft, Kurt schämte sich mehr denn je seiner Drogensucht, die in nicht geringerem Maß am Eskalieren war als seine Popularität.

In jenen frühen Morgenstunden im Hotelzimmer hatte Kurt sich mit einem Tütchen „China White“-Heroin eine Spritze zurechtgemacht und sich einen Schuss gesetzt. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, schließlich ­drückte er sich seit einigen Monaten regelmäßig Heroin, in der letzten Zeit zusammen mit Courtney, die in den zwei Monaten, die sie nun mit ihm zusammen war, auch damit angefangen hatte. In jener Nacht jedoch, während Courtney schlief, hatte Kurt sich – aus purem Leichtsinn oder absichtlich – eine gefährlich hohe Dosis verabreicht. Die Überdosis verlieh seiner Haut eine aquagrüne Färbung, führte zum Atemstillstand und ließ seine Muskeln so hart wie Koaxialkabel werden. Er rutschte vom Bett, landete mit dem Gesicht in einem Haufen Klamotten und lag dann da wie von einem Serienkiller vergessen.

„Das waren nicht einfach nur die Folgen einer Überdosis“, erinnerte sich Love. „Er war wirklich tot! Wenn ich nicht um sieben aufgewacht wäre … Ich weiß nicht, vielleicht habe ich es einfach irgendwie gespürt. Die ganze Sache war so abgefuckt. So was von krank, total psycho.“ Völlig außer sich, machte sich Love an eine Reihe von Wiederbelebungsmaßnahmen, die ihr bald zur Gewohnheit werden sollten: Sie schüttete ihrem Verlobten kaltes Wasser ins Gesicht und schlug ihm in den Solarplexus, um seine Lungen wieder zum Pumpen zu bringen. Als diese ersten Versuche keinen Erfolg zeitigten, begann sie von vorn, wie ein entschlossener Sanitäter, der das Opfer eines Herzanfalls bearbeitet. Nach einigen Minuten hörte Courtney ein Japsen – Kurt hatte wieder zu atmen begonnen. Sie bearbeitete ihn weiter mit kaltem Wasser und bewegte seine Arme und Beine. Minuten später saß er da, sprach mit ihr, und obwohl er nach wie vor völlig zugeknallt war, trug er ein selbstzufriedenes Grinsen zur Schau, fast so, als erfüllte ihn seine Leistung mit Stolz. Es war seine erste beinahe tödliche Überdosis gewesen. Und das an dem Tag, an dem er zum Star geworden war.

Im Lauf eines einzigen Tages war Kurt in den Augen der Öffentlichkeit geboren, in seiner ganz privaten Finsternis gestorben und durch die Kraft der Liebe wieder zum Leben erweckt worden. Eine außergewöhnliche Leistung, unglaublich, ja fast unmöglich. Aber ebendies ließe sich von einem gut Teil von Kurt Cobains überdimensionalem Leben sagen, angefangen damit, woher er kam.

Der Himmel über Nirvana

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