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ICH HASSE MOM, ICH HASSE DAD

Aberdeen, Washington, Januar 1974 bis Juni 1979

Ich hasse Mom, ich hasse Dad.

– Aus einem Gedicht an der Wand von Kurts Zimmer.

Als Don sich 1974 entschloss, zu kündigen und sich doch nach einem Job in der Holzbranche umzutun, nahm der Druck auf die Familie zu. Don war kein großer Kerl und hatte von Haus aus kein gesteigertes Interesse daran, Achtzig-Meter-Riesen zu fällen, und so nahm er einen Bürojob bei Mayr Brothers an. Er wusste, dass sich in der Holzbranche letztlich mehr Geld verdienen ließ als an der Tankstelle; unglücklicherweise musste er aber auf der niedrigsten Lohnstufe anfangen und bekam mit vier Dollar und zehn Cent die Stunde sogar noch weniger als als Mechaniker. Er verdiente sich etwas dazu, indem er an den Wochen­enden im Sägewerk Inventur machte, und dahin nahm er oft Kurt mit. „Er fuhr mit seinem kleinen Fahrrad auf dem Hof herum“, erinnerte sich Don. Kurt machte sich später über den Job seines Vater lustig und behauptete, es sei für ihn die Hölle gewesen, seinen Vater begleiten zu müssen. Damals aber freute er sich darüber, dass dieser ihn einbezog. Obwohl er es als Erwachsener später ­hartnäckig bestritt: Die Anerkennung und die Aufmerksamkeit seines Vaters waren von entscheidender Wichtigkeit für Kurt, und er wollte mehr davon, nicht weniger. Immerhin gestand er später, an die ersten Jahre in der kleinen Familie glückliche Erinnerungen zu haben. „Ich hatte eine wirklich schöne Kindheit“, sagte er 1992 dem Magazin Spin, nicht ohne gleich hinzuzufügen: „Bis ich so neun Jahre alt war.“

Don und Wendy mussten sich immer wieder Geld borgen, um über die Runden zu kommen, was mit ein Hauptgrund für Streitereien war. Leland und Iris bewahrten in ihrer Küche einen Zwanzig-Dollar-Schein auf, den sie witzelnd mit einem Gummiball verglichen, der immer wieder zurückkam, wenn man ihn wegwarf: Jeden Monat liehen sie ihn ihrem Sohn für Lebensmittel, und kaum hatte Don das Geld zurückgezahlt, borgte er es sich auch schon wieder. „Er machte die Runde, zahlte seine Rechnungen, und dann kam er zu uns“, erinnerte sich Leland. „Er gab uns die zwanzig Dollar zurück, und dann meinte er: ‚Mensch, da hab ich ja wieder gut abgeschnitten diese Woche. Ich hab noch fünfunddreißig, vierzig Cent übrig.‘“ Leland, der Wendy nicht mochte, weil sie sich seiner Ansicht nach benahm, als sei sie „etwas Besseres als die Cobains“, erinnerte sich, wie die junge Familie dann immer am Blue Beacon, einem Drive-in-Restaurant in der Boone Street, vorbeifuhr und den Rest für Hamburger ausgab. Obwohl Don mit seinem Schwiegervater Charles Fradenburg, der bei der Bezirksstraßenmeisterei Planierraupe fuhr, gut auskam, fanden Leland und Wendy nie so recht zusammen.

Aus den ständigen Spannungen zwischen den beiden wurde ein offener Streit, als Leland beim Umbau des Hauses in der First Street mithalf. Er baute Don und Wendy einen Zierkamin ins Wohnzimmer und passte ihnen neue Arbeitsplatten für die Küche ein, aber er und Wendy gerieten sich zunehmend in die Haare. Schließlich erklärte Leland seinem Sohn, wenn er Wendy nicht dazu brächte, ihn mit ihrem Genörgel in Ruhe zu lassen, würde er den Kram halb fertig liegen lassen und gehen. „Es war das erste Mal, dass ich gehört habe, dass Donnie ihr widersprach“, erinnerte sich Leland. „Sie meckerte über irgendwas, und irgendwann sagte er: ‚Jetzt halt doch endlich mal deine verdammte Klappe, sonst packt er sein Werkzeug zusammen und geht.‘ Und da hat sie dann doch einfach mal den Mund gehalten.“

Wie einst sein Vater mit ihm war auch Don streng mit seinen Kindern. Einer von Wendys Vorwürfen an ihren Mann war der, dass er von den Kindern ständig tadelloses Betragen verlangte – ein unmöglicher Standard – und von Kurt erwartete, er solle sich wie ein „kleiner Erwachsener“ benehmen. Wie alle Kinder war Kurt hin und wieder einfach eine richtige Plage. Das meiste von dem, was er anstellte, wenn er sich mal abreagierte, war nicht der Rede wert – er schmierte an die Wände, schlug Türen zu oder triezte seine kleine Schwester. Trotzdem setzte es dafür öfter mal eine Tracht Prügel, aber Dons übliche – und beinahe täglich angewandte – Methode der körperlichen Züchtigung bestand darin, Kurt mit zwei gestreckten Fingern vor die Brust oder gegen die Schläfe zu stoßen. Das tat zwar nicht besonders weh, der psychologische Schaden jedoch war enorm: Die Stöße erinnerten seinen Sohn ständig daran, dass ihm jederzeit Schlimmeres blühen konnte, und verstärkten Dons Dominanz. Kurt begann sich immer öfter in den begehbaren Wandschrank seines Zimmers zurückzuziehen. Solche abgeschlossenen, engen Räume, die bei anderen Panik­attacken hervorgerufen hätten, suchte er sich als Zufluchtsort.

Und es gab einiges, wovor man sich gern versteckte: Beide Eltern konnten sarkastisch und spöttisch sein. Einmal, als Kurt noch klein und unreif genug war, um so etwas zu glauben, warnten Don und Wendy ihn: Wenn er nicht brav sei und vor allem nicht endlich aufhörte, mit seiner Schwester zu streiten, würde er zu Weih­nachten wohl nur einen Brocken Kohle bekommen. Als Streich steckten sie ihm dann ein Stück Kohle in den Weihnachtsstrumpf. „Es war nur ein Scherz“, erinnerte sich Don. „Wir haben das jedes Jahr gemacht. Er hat schon seine Geschenke bekommen und so – er hat nie nichts bekommen.“ Der kleine Kurt freilich verstand diese Art von Humor nicht, zumindest erzählte er die Geschichte später so. Einmal, so behauptete er, hätten seine Eltern ihm eine Starsky & Hutch-Spielzeugpistole versprochen, die er aber nie bekam. Stattdessen habe er nur ein fein säuberlich verpacktes Brikett in seinem Strumpf gefunden. Kurt übertrieb bei dieser Geschichte, aber in seiner inneren Vorstellung hatte das Bild von seiner Familie bereits einen ganz persönlichen Dreh bekommen.

Gelegentlich kamen Kim und Kurt ganz gut miteinander aus, spielten zuweilen sogar miteinander. Obwohl Kim nicht das künstlerische Talent ihres Bruders hatte – und mit ihm ständig um die Aufmerksamkeit der Familie rivalisierte –, entwickelte sie einiges Geschick als Stimmenimitatorin. Besonders gut hatte sie Micky Maus und Donald Duck drauf, und mit solchen Einlagen konnte sich Kurt stundenlang amüsieren. Kims stimmliche Fertigkeiten brachten Wendy gar auf eine ganz neue Fantasie. „Der große Traum meiner Mutter“, erklärte Kim später, „war, dass Kurt und ich in Disneyland enden würden, dass wir beide dort arbeiten würden. Er als Zeichner, ich mit meinen Stimmen.“

Der März 1975 brachte viel Freude für den achtjährigen Kurt: Er durfte endlich Disneyland besuchen und dazu noch das erste Mal mit dem Flugzeug fliegen. Leland war 1974 in den Ruhestand gegangen und hatte den Winter mit Iris in Arizona verbracht. Don und Wendy fuhren Kurt nach Seattle, setzten ihn in eine Maschine, und Leland holte den Jungen in Yuma ab, bevor es nach Südkalifornien ging. Sie erlebten zwei völlig überdrehte Tage: Sie besuchten Disneyland, Knotts Berry Farm, einen südkalifornischen Fantasypark nach dem Muster von Disneyland, und die Universal Studios. Kurt war völlig hin und weg. Gleich dreimal wollte er in Disneyland mit den „Pirates of the Caribbean“ fahren. In Knotts Berry Farm wagte er sich in die riesige Achterbahn, war aber blass wie ein Gespenst, als er wieder ausstieg. Als Leland seinen Enkel fragte, ob er nun genug habe, bekam der sofort wieder Farbe – und fuhr gleich noch einmal mit der Achterbahn. Bei der Tour durch die Universal Studios lehnte Kurt sich an der Stelle, wo der weiße Hai aus dem Wasser auf den Tourzug zuschießt, so weit aus dem Waggon, dass einer der Sicherheitsleute den Großeltern zurief: „Holen Sie den kleinen Blondschopf da lieber rein, bevor ihm noch der Kopf abgebissen wird!“ Kurt widersetzte sich dem Befehl und schoss ein Foto vom Rachen des Hais, der nur Zentimeter an seiner Kamera vorbeizog. Später, auf dem Freeway, schlief Kurt auf dem Rücksitz ein, und wohl nur deshalb gelang es seinen Großeltern, ihn am Magic Mountain, einem weiteren Entertainment-Park in Kalifornien, vorbeizuschmuggeln – sonst hätten sie da auch noch reingemusst.

Von all seinen Verwandten stand Kurt seiner Großmutter Iris am nächsten. Die beiden teilten ein Interesse an der Kunst und hingen zuweilen einer gewissen Melancholie nach. „Die beiden vergötterten einander“, erinnerte sich Kim. „Ich glaube, Kurt erkannte instinktiv, dass sie die Hölle durchgemacht hatte.“ Sowohl Iris als auch Leland hatten eine schwierige Kindheit hinter sich. Bittere Armut und der frühe Tod ihrer Väter durch Arbeitsunfälle hatten bei beiden tiefe Narben hinterlassen. Iris’ Vater war an giftigen Dämpfen in der Rayonier Pulp Mill, einer Zellstofffabrik, gestorben; Lelands Vater war County-Sheriff gewesen und umgekommen, als sich aus seiner Dienstwaffe versehentlich ein Schuss löste. Leland war fünfzehn, als sein Vater starb. Er ging zu den Marines und wurde nach Guadalcanal geschickt, aber nachdem er einen Offizier zusam­mengeschlagen hatte, musste er zur psychiatrischen Beobachtung in eine ­Klinik. Nach seiner Entlassung heiratete er Iris, aber er kämpfte mit dem Alkohol und seinem Jähzorn, vor allem nachdem ihr dritter Sohn Michael geistig zurück­geblieben zur Welt kam und im Alter von sechs Jahren in einer Anstalt starb. „Freitagabend, wenn es die Lohntüte gab, kam er betrunken nachhause“, erinnerte sich Don. „Er hat meine Mutter verprügelt. Er hat mich verprügelt. Er hat meine Großmutter verprügelt und den Freund meiner Großmutter. Aber so war das damals nun mal.“ Als Kurt heranwuchs, war Leland bereits wesentlich sanfter geworden, seine schlimmste Waffe war seine vulgäre Sprache.

Wenn Leland und Iris nicht zur Verfügung standen, musste eines der Fradenburg-Geschwister als Babysitter für Kurt herhalten – drei von Kurts Tanten wohnten in einem Umkreis von vier Blocks. Auch Dons jüngerer Bruder Gary musste den Kleinen ein paar Mal hüten, und eine dieser Gelegenheiten bescherte Kurt seinen ersten Trip zurück in das Krankenhaus, in dem er geboren worden war. „Ich habe ihm den rechten Arm gebrochen“, erzählte Gary. „Ich lag auf dem Rücken und er auf meinen Füßen, und ich stieß ihn mit den Füßen in die Luft.“ Kurt war ein ausgesprochen lebhaftes Kind, und so, wie er den ganzen Tag herumrannte, waren die Verwandten ohnehin überrascht, dass er sich nicht öfter etwas brach.

Kurts gebrochener Arm heilte wieder, und die Verletzung schien ihn beim Sport nicht weiter zu stören. Don hatte seinen Sohn zum Baseballspielen angehalten, kaum dass dieser laufen konnte, und deckte ihn mit Bällen, Schlägern und Handschuhen ein. Als Kleinkind hatte Kurt es noch interessanter gefunden, die Baseballschläger als Percussioninstrumente einzusetzen, aber schließlich begann er sich sportlich zu betätigen, erst in der Nachbarschaft, dann in der Mannschaft. Mit sieben spielte er zum ersten Mal in einem Little-League-Team. Sein Dad war der Coach. „Er war nicht der Beste im Team, aber auch nicht schlecht“, erinnerte sich Gary Cobain später. „Ihm lag nicht wirklich viel am Spiel, dachte ich mir immer, so mental, meine ich. Ich glaube, er hat seinem Vater zuliebe gespielt.“

Baseball war ein Beispiel dafür, wie Kurt um Dons Anerkennung warb. „Kurt und mein Vater kamen prima miteinander aus, als er noch klein war“, erinnerte sich Kim, „aber aus Kurt wurde einfach nicht das, was Dad sich von seinem Sohn erwartet hatte.“

Sowohl Don als auch Wendy sahen sich mit diesem Konflikt zwischen dem idealisierten und dem realen Kind konfrontiert. Beide hatten aus ihrer eigenen Kindheit ungestillte Bedürfnisse, und Kurts Geburt brachte all ihre persönlichen Erwartungen zum Vorschein. Don wollte die Vater-Sohn-Beziehung, die er mit Leland nie gehabt hatte, und dachte, wenn sie zusammen Sport trieben, würde sich diese Bindung schon einstellen. Und obwohl Kurt durchaus Spaß am Sport hatte – vor allem, wenn sein Vater nicht dabei war –, verband er intuitiv die Liebe seines Vaters damit, und das sollte ihn fürs Leben zeichnen. Seine Reaktion war mitzumachen, aber unter Protest.

Als Kurt in der zweiten Klasse war, kamen seine Eltern und Lehrer darauf, seine rastlose Energie könne womöglich einen krankhaften Hintergrund haben. Kurts Kinderarzt wurde zurate gezogen und in der Folge darauf geachtet, dass Kurt die Lebensmittelfarbe Red Dye Number Two nicht mehr bekam. Als keine Besserung eintrat, schränkten seine Eltern auch die Zuckerzufuhr ein. Schließlich verschrieb der Arzt Ritalin, das Kurt über drei Monate hinweg einnahm. „Er war hyperaktiv“, erzählte Kim. „Er sprang durch die Gegend wie ein Gummi­ball, vor allem, wenn man ihm Zucker gab.“

Andere Verwandte vermuten, Kurt habe womöglich an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität (ADHS; der deutsche Struwwelpeter ist eine Darstellung dieser Störung) gelitten. Mari erinnerte sich, wie sie einmal bei einem Besuch bei den Cobains Kurt mit einer Trommel durchs Viertel laufen und aus vollem Hals schreien sah. Mari ging ins Haus und fragte ihre Schwester: „Was in aller Welt macht der Junge denn da?“ – „Keine Ahnung“, antwortete Wendy, „ich weiß wirklich nicht mehr, was ich noch mit ihm anstellen soll – ich habe schon alles versucht.“ Wendy beruhigte sich damals damit, Kurt würde so einfach die überschüssigen Energien abreagieren, die man als Junge eben so hat.

Die Entscheidung, Kurt Ritalin zu verschreiben, war selbst 1974 umstritten, da einige Wissenschaftler argumentierten, das Medikament könne bei Kindern zu einer Pawlow’schen Reaktion führen und die Suchtanfälligkeit im späte­ren Leben erhöhen. Andere wiederum sind der Ansicht, wenn man hyper­aktive Kinder nicht behandle, würden sie später womöglich eine Art Selbstmedikation mithilfe von Drogen versuchen. Jeder in der Familie hatte eine andere Ansicht bezüglich Kurts Diagnose und ob ihm die kurze Behandlung eher geholfen oder geschadet hat; Kurts eigener Ansicht nach jedoch war das Medikament, wie er Courtney Love später erzählte, durchaus von einschneidender Bedeutung. Love, die als Kind selbst Ritalin bekommen hatte, sagte, sie habe das Thema oft mit ihm diskutiert. „Wenn man als Kind ein Medikament bekommt, das einem bestimmte Gefühle verschafft, wo wird man dann wohl als Erwachsener Hilfe suchen?“, fragte Love. „Dieses Mittel versetzte einen als Kind in Euphorie – wie sollte so eine Erinnerung nicht bei einem hängen bleiben?“

Im Februar 1976, nur eine Woche nach Kurts neuntem Geburtstag, ließ Wendy Don wissen, sie wolle die Scheidung. Es war ein Abend mitten unter der Woche, Wendy machte ihre Ankündigung und raste in ihrem Camaro davon – und überließ es Don, die Sache den Kindern beizubringen, etwas, worin er von Haus aus nicht gut war. Obwohl Dons und Wendys Eheprobleme sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1974 noch einmal verschärft hatten, kam Wendys Erklärung für Don doch überraschend, von der übrigen Familie ganz zu schweigen. Don weigerte sich einfach, es zu glauben, und verkroch sich in sich selbst, ein Verhalten, das auch bei seinem Sohn später in Krisenzeiten zu beobachten sein sollte. Wendy war von jeher eine starke Persönlichkeit und neigte zu Zornausbrüchen, trotzdem war Don schockiert darüber, dass sie tatsächlich die Familie auseinander brechen wollte. In der Hauptsache warf sie ihm vor, sich fast nur noch für seinen Sport zu interes­sieren – er spielte gleich in mehreren Mannschaften und war mittlerweile Schiedsrichter und Coach. „Ich glaubte einfach nicht, dass es wirklich dazu kommen würde“, sagte Don später. „Scheidungen waren damals noch nicht so an der Tagesordnung wie heute. Ich wollte auch gar keine. Sie wollte – sie wollte einfach raus.“

Am 1. März zog Don aus und nahm sich ein Zimmer in Hoquiam. Er erwartete, Wendys Zorn würde sich wieder legen und ihre Ehe gerettet, darum mietete er sich jeweils für eine Woche ein. Für Don machte die Familie ein gut Teil seiner Identität aus, in seiner Rolle als Vater fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben gebraucht. „Beim bloßen Gedanken an Scheidung war er am Boden zerstört“, erinnerte sich Stan Targus, Dons bester Freund. Die Trennung war umso komplizierter, als Wendys Familie Don über alles gern hatte, vor allem ihre Schwester Janis und deren Mann Clark, die ganz in der Nähe der Cobains wohnten. Einige von Wendys Geschwistern fragten sich insgeheim, wie sie ohne Don finanziell durchkommen sollte.

Am 29. März bekam Don eine Vorladung und einen Scheidungsantrag zugestellt. Ein ganzer Schwung juristischer Dokument sollte noch folgen; Don reagierte nicht auf alle davon – wider besseres Wissen in der Hoffnung, Wendy würde es sich noch einmal überlegen. Am 9. Juli wurde er beschuldigt, seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen zu sein und nicht auf Wendys Anträge reagiert zu haben. Noch am selben Tag kam es zu einer endgültigen Regelung, die Wendy das Haus zusprach; Don sollten sechstausendfünfhundert Dollar zustehen, sollte Wendy das Haus verkaufen oder wieder heiraten, andernfalls fällig an Kims achtzehntem Geburtstag. Don bekam seinen Ford-Pickup, einen Halbtonner, Baujahr 1965; Wendy durfte den Achtundsechziger-Camaro der Familie behalten.

Das Sorgerecht für die beiden Kinder ging an Wendy, aber Don sollte monatlich pro Kind einhundertfünfzig Dollar Unterhalt zahlen und auch sämtliche Arztkosten für die Kinder tragen. Dafür sprach man ihm Besuchsrecht in einem „vernünftigen Umfang“ zu. Wir sprechen hier von einem Kleinstadt­gericht in den Siebzigerjahren, die Einzelheiten des Besuchsrechts wurden nicht ausdrücklich geregelt, und überhaupt war das Arrangement eher informeller Natur. Don zog zu seinen Eltern in deren Trailer in Montesano. Er gab die Hoffnung nicht auf, dass Wendy es sich noch einmal überlegen würde, nicht einmal, nachdem die letzten Papiere unterschrieben waren.

Wendy jedoch dachte nicht im Traum daran. Wenn sie mit etwas abgeschlossen hatte, dann interessierte sie das nicht mehr, und nichts hätte sie weniger interessieren können als Don. Es dauerte nicht lange, und sie begann ein Verhältnis mit Frank Franich, einem gut aussehenden Hafenarbeiter, der doppelt so viel verdiente wie Don. Auch Franich neigte zu Jähzorn und Gewaltausbrüchen, und nichts machte Wendy mehr Freude, als dieses Gift gegen Don spritzen zu sehen. Als Dons neuer Führerschein versehentlich an seine alte Adresse geschickt wurde, öffnete jemand die Sendung, rieb Kot auf Dons Passbild, klebte den Umschlag wieder zu und schickte ihn weiter an Don. Dies war keine Scheidung, sondern ein Krieg – ein Krieg, der mit all dem Hass, der Bosheit und den Rachegelüsten einer Blutfehde geführt wurde.

Für Kurt kam das alles einem emotionalen Super-GAU gleich – kein anderes Ereignis in seinem Leben hatte mehr Einfluss auf die Prägung seiner Persönlichkeit. Wie viele andere Scheidungskinder auch verinnerlichte er die Trennung seiner Eltern. Da er die Tiefe der Kluft zwischen ihnen nicht hatte ahnen können, verstand er auch den Grund für die Scheidung nicht. „Er dachte, es wäre alles seine Schuld“, erzählte Mari. „Für Kurt war das ein Trauma, weil sich alles, worauf er vertraut hatte – seine Sicherheit, seine Familie –, vor seinen Augen auflöste.“ Anstatt seinen Ängsten Luft zu machen, verkroch Kurt sich in sich selbst. In jenem Juni schrieb er an die Wand seines Schlafzimmers: „Ich hasse Mom, ich hasse Dad. Dad hasst Mom, Mom hasst Dad. Man möchte einfach nur noch ganz traurig sein.“ Dies hier war ein Junge, der als Kleinkind seiner Familie so eng verbunden war, dass er gegen den Schlaf ankämpfte, wie Mari in ihrem Aufsatz sieben Jahre zuvor geschrieben hatte, weil „er sie nicht verlassen“ wollte. Jetzt – ohne dass er etwas dafürgekonnt hätte – hatten sie ihn verlassen. Iris Cobain bezeichnete 1976 einmal als „Kurts Jahr im Fegefeuer“.

Auch physisch machte Kurt die Scheidung zu schaffen. Mari erinnert sich daran, dass Kurt während dieser Zeit einmal ins Krankenhaus musste; sie hatte von ihrer Mutter gehört, dass er nicht richtig aß. „Ich weiß noch, dass Kurt wegen Unterernährung ins Krankenhaus musste, als er zehn war“, sagte sie. Kurt erzählte seinen Freunde, er müsse Barium trinken und sich den Bauch röntgen lassen. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass das, was man damals für Unterernährung hielt, das erste Symptom der Magenstörung war, die ihm später zu schaffen machen sollte. Seine Mutter hatte mit Anfang zwanzig ein Magenleiden gehabt, kurz nach seiner Geburt, und als Kurt die ersten Beschwerden zeigte, nahm man an, es handle sich um dieselbe Reizbarkeit wie bei ihr. Um die Zeit der Scheidung entwickelte Kurt außerdem ein nervöses Zucken der Augenlider. Die Familie führte das auf den Stress zurück, was wahrscheinlich zutrifft.

Während seine Eltern sich scheiden ließen, blieb Kurt in seiner vor­puber­tären Entwicklung mit all ihren innerlichen Umwälzungen natürlich nicht stehen. Kurz bevor er in die vierte Klasse kam, begann er Mädchen als sexuelle Wesen wahrzunehmen und sich Gedanken um seinen Status in der Gesellschaft zu machen. In jenem Juli erschien ein Bild von ihm in der Aberdeen Daily World, als sein Baseballteam in der Aberdeen Timber League den ersten Platz machte – seine Mannschaft hatte von fünfzehn Spielen nur eines ver­loren. Der zweite Höhepunkt jenes Sommers war die Aufnahme eines schwarzen Kätzchens, das er durchs Viertel hatte streunen sehen. Es war sein erstes Haustier, er nannte es Puff.

Drei Monate, nachdem die Scheidung rechtskräftig geworden war, äußerte Kurt Interesse daran, bei seinem Vater zu wohnen. Er zog zu Don, Leland und Iris in den Trailer, aber bereits Anfang Herbst mieteten Vater und Sohn sich einen eigenen, kleineren Wohnwagen, gleich auf der anderen Straßenseite. An den Wochenenden besuchte Kurt Wendy, Kim und Puff.

Das Zusammenleben mit seinem Vater befriedigte einige von Kurts emotionalen Bedürfnissen – hier stand er im Mittelpunkt des Interesses, war praktisch wieder ein Einzelkind. Don hatte ein schlechtes Gewissen wegen der Scheidung, das er mit materiellen Geschenken überkompensierte. Er kaufte Kurt eine Yamaha Enduro 80, ein Minimotorrad, das sofort die Attraktion des ganzen Viertels wurde. Lisa Rock, die nur einige Straßen weiter wohnte, lernte Kurt in jenem Herbst kennen: „Er war ein ruhiges, unheimlich sympathisches Kind. Ständig lächelte er. Er war ein bisschen schüchtern. Es gab da eine Wiese, auf der er mit seinem Minibike herumkurvte, und ich fuhr mit dem Fahrrad neben ihm her.“

„Ruhig“: Das Adjektiv, mit dem Lisa Rock den kleinen Kurt beschrieb, findet sich auch immer wieder in Berichten über den erwachsenen Kurt. Er konnte stundenlang schweigend dasitzen, ohne auch nur das Bedürfnis nach Smalltalk zu verspüren. Kurt und Lisa waren am selben Tag geboren, und als die beiden zehn wurden, feierten sie ihren Geburtstag gemeinsam bei ihr. Kurt freute sich über die Einladung, fühlte sich angesichts all der Aufmerksamkeit aber nicht so recht wohl in seiner Haut. Als Vierjähriger war er ein furchtloser Draufgänger gewesen; als Zehnjähriger war er überraschend ängstlich. Seit der Scheidung war er im Umgang mit anderen reserviert geworden, wartete stets darauf, dass der andere den ersten Schritt tat.

Nach der Scheidung und mit dem Einsetzen der Pubertät nahm die Bedeutung des Vaters für Kurt noch um einiges zu. Nach der Schule blieb Kurt bei den Großeltern, aber sobald Don nachhause kam, verbrachten sie den Rest des Tages zusammen, und Kurt machte gern bei allem mit, was Don von ihm verlangte, selbst wenn er dazu auf den Sportplatz musste. Nach den Baseballspielen aßen die beiden Cobains gelegentlich zusammen im örtlichen „Malt Shop“, wo Milchshakes, Limonaden, Eis, Hotdogs und Ähnliches verkauft werden. Beide genossen sie dieses Beisammensein, ohne dabei aber den Kummer über den Verlust der Familie vergessen zu können – es war, als hätte man ihnen einen Arm oder ein Bein amputiert: Es ging irgendwie ohne, aber die Erinnerung daran ließ sie nicht los. Ihre Liebe füreinander war in jenem Jahr stärker als je zuvor oder zu irgendeinem Zeitpunkt danach, trotzdem waren sie beide zutiefst einsam, Vater wie Sohn. Aus Angst, seinen Dad zu verlieren, bat Kurt Don, nicht wieder zu heiraten. Der gab seinem Sohn die Hand darauf und versprach ihm, sie beide würde immer zusammenbleiben.

Im Winter 1976 wechselte Kurt auf die Beacon Elementary School in Montesano. Die Schulen in Montesano waren kleiner als die in Aberdeen, und schon innerhalb weniger Wochen nach dem Wechsel erfreute er sich einer Beliebtheit, wie er sie bis dahin nicht gekannt hatte – und mit ihr schien sich auch die alte Furchtlosigkeit wieder einzustellen. Aber trotz des zur Schau getragenen Selbstbewusstseins blieb ihm doch die Verbitterung über sein Schicksal: „Man sah ihm an, dass ihn die Scheidung seiner Eltern regelrecht quälte“, erinnerte sich Darrin Neathery, ein Klassenkamerad aus der Zeit.

Als er im Herbst 1977 in die fünfte Klasse kam, war Kurt aus „Monte“, wie die Einheimischen ihre Stadt nennen, nicht mehr wegzudenken – jeder Schüler der Stadt kannte ihn, und die meisten mochten ihn auch. „Er war ein hübscher Junge“, erinnerte sich John Fields. „Er war clever, und die Dinge liefen gut für ihn.“ Mit seinem blonden Schopf und den blauen Augen war Kurt bald der Liebling aller Mädchen. „Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass er eines der beliebtesten Kinder war“, bemerkte Roni Toyra. „Es gab da eine Gruppe von etwa fünfzehn Kindern, die zusammen rumzogen, und er war ein wichtiger Teil dieser Gruppe. Er war wirklich süß mit seinen blonden Haaren, den großen blauen Augen und den Sommersprossen auf der Nase.“

Hinter der äußerlichen Attraktivität verbarg sich ein Ringen um Identität, das im Oktober 1977 einen neuen Level erreichte, als sein Vater sich mit Frauen zu treffen begann. Kurt mochte Dons erste Freundin nicht, darum gab der Vater ihr den Laufpass. Mit allem Narzissmus eines Zehnjährigen konnte Kurt das Verlangen seines Vaters nach der Gesellschaft Erwachsener einfach nicht verstehen. War ihm sein Sohn denn nicht genug? Ende Herbst lernte Don Jenny Westby kennen, selbst geschieden mit zwei Kindern: Mindy, die ein Jahr jünger, und James, der zwei Jahre jünger war als Kurt. Vom ersten Rendezvous an war Dons Werben um sie eine Familienangelegenheit – zu fünft machten sie eine Wanderung rund um den Lake Sylvia. Kurt war freundlich zu Jenny und ihren Kindern, und Don glaubte, eine passende Lebensgefährtin gefunden zu haben. Er und Jenny heirateten.

Anfangs konnte Kurt Jenny gut leiden – sie bot ihm die Aufmerksamkeit einer Frau, die ihm fehlte –, aber seine positiven Gefühle ihr gegenüber führten bei ihm zu einem inneren Konflikt: Wenn er sie gern hatte, dann verriet er ja seine Liebe zu seiner Mutter und zu seiner „richtigen“ Familie. Wie sein Vater klammerte sich Kurt an die Hoffnung, dass die Scheidung nur ein vorüber­gehender Rückschlag sein mochte, ein böser Traum, aus dem er irgendwann wieder erwachen würde. Die erneute Heirat seines Vaters und der nun viel zu kleine Trailer zerstörten ihm diese Illusion. Don war kein Mann vieler Worte, und er hatte nie wirklich gelernt, Gefühle auszudrücken. „Du hast gesagt, du würdest nicht wieder heiraten“, warf Kurt ihm vor. „Tja, weißt du, die Dinge ändern sich eben“, antwortete der Vater.

Jenny versuchte ihn zu erreichen, aber ohne Erfolg. „Anfänglich brachte er jedem viel Zuneigung entgegen“, erinnerte sie sich. Später hielt Kurt seinem Vater das Versprechen, nicht wieder zu heiraten, immer häufiger vor und zog sich immer tiefer in sich zurück. Don und Jenny versuchten dies zu kompensieren, indem sie Kurt in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellten – so durfte er etwa seine Geschenke als Erster öffnen und hatte im Haushalt weniger Pflichten als die anderen –, aber diese kleinen Opfer sorgten nur dafür, dass er sich emotional noch weiter zurückzog. Er spielte gelegentlich ganz gern mit seinen Stiefgeschwistern, triezte sie aber auch viel. Besonders gnadenlos setzte er Mindy wegen ihres Überbisses zu und äffte ständig – vor ihr – deren Sprachfehler nach.

Eine vorübergehende Besserung trat ein, als die Familie in ein eigenes Haus in der Fleet Street South 413 in Montesano umzog. Kurt bekam ein eigenes Zimmer, das mit seinen runden Fenstern wie eine Schiffskabine aussah. Nicht lange nach dem Umzug, im Januar 1997, brachte Jenny einen weiteren Sohn zur Welt, Chad Cobain. Damit eiferten nun neben der Stiefmutter zwei Kinder und ein Baby um die Aufmerksamkeit, die früher einmal allein Kurt gegolten hatte.

Kurt hatte freies Feld, was Montesanos Parks, Gassen und Wiesen anging. Die Stadt war so klein, dass ein Fortbewegungsmittel kaum vonnöten war: Der Baseballplatz war vier Blocks weit weg, die Schule lag gleich die Straße hinauf, und alle seine Freunde ließen sich zu Fuß erreichen. Im Gegensatz zu Aberdeen schien Monte geradewegs aus einem Theaterstück von Thornton Wilder, dem Dramatiker, der mit Our Town (Unsere kleine Stadt) das traditionelle amerikanische Kleinstadtleben verewigt hat, zu stammen, es erschien wie ein einfacheres, freundlicheres Stückchen Amerika. Mittwochs war Familienabend im Haus der Cobains. Man spielte Brettspiele wie „Parcheesi“ (ähnlich unserem „Mensch, ärgere dich nicht“) oder „Monopoly“, Kurt beteiligte sich an diesen Aktivitäten mit derselben Begeisterung wie alle anderen auch.

Das Geld war knapp, sodass sich die Familie in den Ferien meist nur Campingtrips leisten konnte, aber Kurt war der Erste, der im Autos saß, wenn es losging. Seine Schwester Kim durfte ebenfalls mit auf diese Ausflüge, bis Don und Wendy sich eines Tages darüber stritten, ob er weniger Unterhalt zahlen müsse, wenn er Kim mitnahm. Danach bekam Kim Vater und Bruder immer seltener zu sehen. Kurt besuchte seine Mutter zwar weiter an den Wochenenden, aber das waren keine warmherzigen Wiedersehen mehr; vielmehr war es eher so, dass die Besuche bei Kurt wieder in den alten Wunden der Scheidung herumstocherten. Wendy und Don konnten schlicht und einfach nicht mehr zivilisiert miteinander umgehen, Kurts Ausflüge nach Aberdeen hießen für ihn vor allem, seinen Eltern zuzusehen, wie sie sich über die Besuchszeiten in die Haare gerieten. Und noch ein weiterer Schatten legte sich über einen seiner Wochenendbesuche: Puff, seine geliebte Katze, lief weg und wurde nie wieder gesehen.

Wie alle Kinder war Kurt ein Gewohnheitstier, er hatte seine Freude an festen Strukturen wie dem Familienabend. Aber selbst dieser kleine Trost stürzte ihn in einen Konflikt: Er sehnte sich nach Nähe, hatte aber auf der anderen Seite Angst davor, am Ende wieder verlassen zu werden. Er hatte die Pubertät erreicht, eine Lebensphase, in der heranwachsende Jungen zwischen sich und ihren Eltern zu differenzieren und nach einer eigenen Identität zu suchen beginnen. Kurt trauerte aber noch immer dem Verlust seines ursprünglichen Familiennests nach, die notwendige Abnabelung wurde für ihn zu einer von Ängsten überschatteten Angelegenheit. Er verarbeitete die vielen widersprüchlichen Gefühle, indem er sich emotional von Don und Wendy abzukapseln begann. Er sagte sich und seinen Freunden, dass er die beiden hasste, eine Gehässigkeit, mit der sich seine eigene Distanziertheit rechtfertigen ließ. Aber selbst wenn er den Nachmittag lang mit seinen Freunden herumgezogen war und über die Gemeinheit seiner Eltern geschimpft hatte – am Familienabend war er wieder dabei, und er war der Einzige im Haus, dem diese Abende nie lange genug dauern konnten.

Feiertage waren immer ein Problem. Thanksgiving und Weihnachten 1978 sah sich Kurt zwischen einem halben Dutzend Haushalten herumgeschoben. Waren seine Gefühle für Jenny eine Mischung aus Zuneigung, Eifersucht und Verrat an seiner Mutter, hatte er für Wendys Freund Frank Franich nichts als blanke Wut übrig. Wendy hatte außerdem angefangen, heftig zu trinken, und der Alkohol machte sie nur noch bissiger. Eines Abends brach Franich Wendy den Arm – Kim wurde Zeugin dieses Vorfalls –, und sie musste ins Krankenhaus. Als sie wiederhergestellt war, weigerte sie sich, Anzeige zu erstatten. Ihr Bruder drohte Franich, aber gegen Wendys Zuneigung zu Franich kam die Familie nicht an. Viele waren damals der Meinung, dass Wendy nur des Geldes wegen mit Franich zusammenblieb. Sie hatte zwar nach der Scheidung einen Job als Verkäuferin bei Pearson’s, einem Kaufhaus in Aberdeen, angenommen, aber es war Franichs Gehalt als Hafenarbeiter, mit dem sie sich nicht alltäglichen Luxus wie etwa Kabelfernsehen leisten konnten. Vor Franich war Wendy mit ihren Rechnungen derart in Verzug geraten, dass man schon gedroht hatte, ihr den Strom abzustellen.

Kurt wurde in jenem Jahr elf. Er war klein und schmächtig, aber richtig ohnmächtig und schwach fühlte er sich nur in der Gesellschaft von Franich. Er konnte seine Mutter nicht vor ihm beschützen, und der Stress, die Auseinandersetzungen der beiden miterleben zu müssen, ließ ihn um ihr Leben fürchten, womöglich auch um seins. Er bedauerte seine Mutter und hasste sie zugleich dafür, sie bedauern zu müssen. Seine Eltern waren seine Götter gewesen, als er klein war. Jetzt waren sie gefallene Idole, falsche Götzen, denen nicht mehr zu trauen war.

Diese inneren Konflikte begannen sich schließlich in Kurts Verhalten zu äußern. Er war frech zu Erwachsenen, weigerte sich, seinen Pflichten nachzukommen, und trotz seiner Schmächtigkeit begann er einen Klassenkameraden derart zu terrorisieren, dass der nicht mehr in die Schule gehen wollte. Lehrer und Eltern schalteten sich ein, und alles fragte sich, wie so ein süßer Junge so ekelhaft hatte werden können. Am Ende ihrer Weisheit, brachten Don und Jenny Kurt schließlich zur Therapie. Man versuchte sich auch an ein wenig Familientherapie, aber Don und Wendy schafften es einfach nie, zu den gleichen Terminen aufzutauchen. Der Therapeut führte aber einige Gespräche mit Kurt. Sein Schluss war, dass Kurt eine Familie brauchte – und zwar eben nur eine. „Uns wurde gesagt, wenn er bei uns bleiben sollte, dann müssten wir uns um das Sorgerecht bemühen, damit er wüsste, dass wir ihn als Teil der Familie akzeptierten“, erinnerte sich Jenny. „Leider sorgte die Debatte darüber nur für neue Probleme zwischen Wendy und Don.“

Don und Wendy waren nun schon seit mehreren Jahren geschieden, aber ihr Zorn aufeinander hatte sich gehalten, ja hatte sich durch die Kinder noch verschärft. Wendy hatte ein schwieriges Jahr hinter sich: Ihr eigener Vater, Charles Fradenburg, war ganz plötzlich, zehn Tage nach seinem einundsechzigsten Geburtstag, an einem Herzanfall verstorben. Wendys Mutter Peggy war immer eine Einzelgängerin gewesen, und Wendy hatte Angst, der Tod ihres Mannes könnte die Isolation ihrer Mutter noch verschlimmern. Peggys merkwürdiges Verhalten mochte auf einen grausigen Vorfall in ihrer Kindheit zurückzuführen sein: Als sie zehn Jahre alt war, stach sich ihr Vater vor den Augen der Familie ein Messer in den Unterleib. James Irving überlebte den Selbstmordversuch und wurde in eben die psychiatrische Klinik eingewiesen, in der später die Schauspielerin Frances Farmer eine Elektroschocktherapie erhalten sollte. Zwei Monate später starb er an den Folgen seiner Verletzung – in einem vom Pflege­personal unbeobachteten Augenblick hatte er sich die Stichwunde aufgerissen. Wie über so viele Tragödien der Familie wurde auch über die Geisteskrankheit von Kurts Großvater nur im Flüsterton geredet.

Aber noch nicht einmal das Leid der Fradenburgs vermochte Don und Wendy im Kummer zu vereinen. Ihre Diskussionen um Kurt endeten, wie alle ihre Gespräche, im Streit. Schließlich unterschrieb Wendy ein Dokument mit folgendem Inhalt: „Donald Leland Cobain ist hiemit alleinig verantwortlich für Pflege, Sorge und Unterhalt besagten Kindes.“ Am 18. Juni 1979, drei Wochen vor dem dritten Jahrestag der Scheidung, bekam Don offiziell das Sorgerecht für seinen Sohn zugesprochen.

Der Himmel über Nirvana

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