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DIESER WILLE DES INSTINKTS

Aberdeen, Washington, April 1984 bis September 1986

Ich finde ihn erstaunlich, diesen Willen des Instinkts.

– Aus dem Text von „Polly“, 1990.

An jenem Montagmorgen lief Kurt an seinen Fingern schnuppernd durch Aberdeen. Um den Akt noch einmal zu erleben, brauchte er sich nur die Finger in die Hose zu stecken und daran zu riechen – ihr Geruch war nach wie vor da, geradezu berauschend für jemanden, der von Gerüchen regelrecht besessen war wie er. Er begann bereits zu vergessen, dass seine sexuelle Initiation eine veri-­table Katastrophe gewesen war, und machte in seiner Erinnerung daraus einen Triumph. Die tatsächlichen Umstände spielten keine Rolle – lausiger Sex hin oder her, er war keine Jungfrau mehr. Als Romantiker, der er im Grunde seines Herzens war, ging er davon aus, dass seine erste sexuelle Begegnung nur der Beginn weiterer vergnüglicher Stunden mit dem Mädchen sein würde, dass er die Erwachsenenphase seines Sexuallebens eingeleitet hatte und Sex von nun an ein Balsam sein würde, auf den er bauen konnte wie auf Alkohol oder Pot, um sich seinem tristen Los zu entziehen. Auf dem Weg zur Schule stahl er eine Blume aus einem Garten. Jackie sah Kurt mit einem schüchternen Grinsen auf die Raucherecke vor der Schule zukommen, mit der einen Rose in der Hand, und sie dachte, sie sei für sie, Kurt aber überreichte sie dem Mädchen, mit dem er geschlafen hatte, das so gar nicht beeindruckt war. Kurt kapierte einfach nicht, dass Jackie sich in ihn verliebt hatte. Dem anderen Mädchen aber war seine Taktlosigkeit und Unbedachtheit peinlich, und die Blume genierte sie nur noch mehr. Das Ganze war eine schmerzliche Lektion, und einen so sensiblen Menschen mit dem Bedürfnis nach Liebe wie Kurt verwirrten die Komplikationen, die ein erwachsenes Sexualleben mit sich brachte, nur noch mehr.

Nach der Schule gab es Dringenderes zu erledigen; ganz obenan stand die Suche nach einer Wohnung. Buzz Osborne fuhr mit ihm nachhause, um seine Sachen zu holen. Wie Kurt schon geahnt hatte, unterschied sich dieser Krach mit seiner Mutter von den anderen davor; als sie nachhause kamen, war sie nach wie vor fuchsteufelswild. „Seine Mutter hat sich total aufgeführt, sie schrie rum, was für ein Loser er sei“, erinnerte sich Osborne. „Er hat nur immer wieder gesagt: ‚Okay, Mom, okay.‘ Sie hat klargestellt, dass sie ihn nicht mehr im Haus haben wollte.“ Als er seine über alles geliebte Gitarre und den Verstärker zusam­menklaubte und seine Klamotten in ein paar Müllsäcke stopfte, begann für Kurt, physisch wie emotionell, die endgültige Flucht vor seiner Familie. Er war schon öfter davongelaufen, und schon kurz nach der Scheidung seiner Eltern war ihm Rückzug zur Gewohnheit geworden, aber fast immer war es seine Entscheidung gewesen. Diesmal war er machtlos, und der Gedanke, wie er über die Runden kommen sollte, machte ihm aufrichtig Angst. Er war siebzehn Jahre alt, im dritten Highschooljahr, machte aber die meiste Zeit blau. Er hatte noch nie einen Job gehabt, und seine ganzen Habseligkeiten steckten in vier Müll­säcken. Es war klar für ihn, dass er gehen würde, er hatte nur keine Ahnung, wohin.

War die Scheidung seiner Eltern der erste Verrat an ihm gewesen und die erneute Heirat seines Vaters die zweite – das dritte Mal, dass man ihn im Stich ließ, sollte ihn nicht weniger hart treffen. Wendy war fertig mit ihm. Ihren Schwestern gegenüber beschwerte sie sich, sie wisse „nicht mehr, was sie mit Kurt noch machen“ solle. Der Bruch mit Kurt verschärfte ihre Konflikte mit Pat, den sie zu heiraten gedachte; sie konnte es sich schwerlich leisten, Pat zu verlieren, schon allein aus ökonomischen Gründen. Kurt empfand die Situation so – und das womöglich zu Recht –, dass schon wieder einmal einer seiner Elternteile einem neuen Partner ihm gegenüber den Vorzug gab. Er fühlte sich ins Abseits geschoben, und die Erfahrung, aus dem Haus geworfen zu werden, sollte, durch seine früheren emotionellen Wunden verstärkt, immer wieder hochkommen. Er wurde dieses Trauma nie mehr ganz los, es lauerte immer direkt unter der Oberfläche, ein Schmerz, der ihn mit einer fast neurotischen Angst vor Knappheit und Mangel durch sein restliches Leben gehen ließ: Nie konnte er genug Geld kriegen, nie genug Aufmerksamkeit oder – was am wichtigsten war – Liebe, weil er wusste, wie schnell das alles wieder dahin sein konnte.

Sieben Jahre später sollte er über diese Zeit einen Song mit dem Titel „Something In The Way“ schreiben. Dieses „Etwas“ wird in dem undurchsichtigen Text nicht näher erklärt, aber es besteht wenig Zweifel daran, dass er es war, der da im Weg war. Aus dem Text geht hervor, dass der Sänger unter einer Brücke lebt. Wenn man Kurt um eine Erklärung bat, erzählte er immer die Geschichte, er sei zuhause rausgeworfen worden, von der Schule abgegangen und schließlich unter der Young Street Bridge gelandet. Diese Geschichte sollte schließlich einer der Ecksteine seiner Starbiografie werden, mit das stärkste Element von Kurts hausgemachter Mythologie, jenes Detail, das noch in der letzten Kurzbiografie, die irgendwo über Kurt geschrieben wurde, Erwähnung fand, und wenn sie nur einen Absatz lang war: Dieser Junge war so ungeliebt, dass er unter einer Brücke leben musste! Das war ein ebenso finsteres wie kraftvolles Bild, und es fand umso größere Resonanz, als Nirvana groß herauskamen und in Magazinen Fotos von der Unterseite der Young Street Bridge erschienen – in all ihrer widerlichen, stinkenden Pracht. Ein Troll, so konnte man angesichts dieser Fotos meinen, könnte unter so einer Brücke gehaust haben, aber doch unmöglich ein Kind. Die Brücke war gerade mal zwei Blocks vom Haus seiner Mutter entfernt, eine Entfernung, die, so Kurt, nicht mehr zu über­brücken war.

Die „Brückengeschichte“ war, wie schon die Episode „Gewehre gegen Gitarren“, von Kurt reichlich ausgeschmückt worden. „Er hat nie unter dieser Brücke gelebt“, beteuerte Krist Novoselic, den Kurt in diesem Jahr auf der Schule kennen gelernt hatte. „Er hing da rum, sicher, aber es war unmöglich, an dem schlammigen Ufer zu wohnen, nicht bei dem ständigen Auf und Ab von Ebbe und Flut. Das war reiner Revisionismus seinerseits.“ Seine Schwester ist derselben Überzeugung: „Er hat nicht unter der Brücke gelebt, nie und nimmer. Die Brücke war ein Treff, wo die Kids aus dem Viertel rumhingen und kifften, das ist alles.“ Wenn Kurt auch nur eine Nacht unter irgendeiner von Aberdeens Brücken verbracht haben sollte, so argumentieren Einheimische, dann unter der Sixth Street Bridge, eine weit größere Brücke eine halbe Meile weiter. Sie erstreckt sich über einen kleinen Canyon und wird von Aberdeens Obdach­losen frequentiert. Aber selbst in dieser Umgebung kann man ihn sich kaum vorstellen: Kurt war eine Heulsuse reinsten Wassers, und nur die wenigsten Heul­susen hätten wohl einen Frühling im Freien in Aberdeen überlebt, wo um diese Jahreszeit täglich geradezu monsunartige Regenfälle niedergehen. Trotzdem hat die Brückengeschichte ihre Bedeutung, und sei es nur deshalb, weil Kurt sie so oft und nachdrücklich erzählte. Irgendwann muss er wohl angefangen haben, sie selbst zu glauben.

Die Wahrheit darüber, wo er in dieser Zeit seine Tage und Nächte verbrachte, ist bitterer als selbst Kurts Brückenversion. Seine Odyssee begann auf Dale Crovers Veranda, wo er – eingerollt wie ein Kätzchen – in einem Karton schlief, der einmal eine Kühlschrankverpackung gewesen war. Als er den Leuten dort zu viel wurde, kamen ihm sein Einfallsreichtum und seine Gerissenheit zugute: Es gab in Aberdeen eine Menge alter Wohnblöcke mit Zentral­heizung in den Fluren, und dorthin zog er sich nachts meist zurück. Er schlich sich spätabends ein, suchte sich einen breiten Flur, schraubte die Birne der Deckenlampe heraus und legte sich schlafen; morgens sah er zu, wieder aus dem Haus verschwunden zu sein, bevor die Leute zur Arbeit gingen. Am besten ist dieser Lebensabschnitt in einer Songzeile zusammengefasst, die er einige Jahre später schrieb: „Ich finde ihn erstaunlich, diesen Willen des Instinkts.“ Seine Überlebensinstinkte waren geschärft, sein Wille war stark.

Wenn alle Stricke rissen, ging Kurt mit einem anderen Jungen namens Paul White den Hügel hinauf zum Grays Harbor Community Hospital. Dort schliefen sie dann im Wartesaal. Kurt, der der Verwegenere oder vielleicht auch nur der Verzweifeltere der beiden war, stellte sich frech in die Schlange an der Cafeteria und ließ die Mahlzeiten für irgendwelche erfundenen Zimmernummern anschreiben. „Im Wartezimmer gab es einen Fernseher, da konnten wir den ganzen Tag glotzen“, erinnerte sich White. „Die Leute dort dachten immer, wir warteten auf jemanden, einen Patienten, der krank war oder starb, also stellten sie einem auch keine Fragen.“ Das war denn also die wahre Geschichte hinter der emotionellen Wahrheit von „Something In The Way“ und womöglich die größte Ironie in Kurts Leben – er war wieder dort gelandet, wo alles angefangen hatte, in dem Krankenhaus mit dem tollen Blick über die Bucht, in dem er siebzehn Jahre zuvor zur Welt gekommen war. Und jetzt schlief er dort im Wartezimmer wie ein Flüchtling, klaute in der Cafeteria Brötchen, spielte den untröstlichen Verwandten eines kranken Patienten – und war doch selbst krank vor Einsamkeit.

Nach etwa vier Monaten auf der Straße kehrte Kurt zu seinem Vater zurück. Es fiel ihm nicht leicht, und dass er überhaupt auf die Idee kam, wieder zu einem seiner Eltern zu ziehen, zeigt, wie verzweifelt und am Ende er war. Don und Jenny erfuhren, dass Kurt auf der Straße lebte, und fanden ihn auf einem alten Sofa in einer Garage gleich gegenüber von Wendys Haus. „Er war damals so wütend, auf alles, auf Gott und die Welt, und er wollte, dass jedermann dachte, keiner wollte ihn haben. Und so war es ja letztlich auch“, erinnerte sich Jenny.

Wieder in Montesano, kehrte Kurt in seinen Keller im Haus in der Fleet Street zurück. Die Autoritätsprobleme mit seinem Vater eskalierten – es war, als hätte ihn die Zeit, in der er Don nicht gesehen hatte, in seiner Entschlossenheit nur bestärkt. Allen Beteiligten war klar, dass das Arrangement nicht auf Dauer sein konnte – sie hatten sich einander entfremdet, sie brauchten, ja sie wollten einander nicht mehr. Die Gitarre machte Kurt das Leben erträglich, und er übte täglich Stunden am Stück. Sowohl seinen Freunden als auch der Familie fiel auf, dass er langsam, aber sicher immer besser wurde. „Er konnte jeden Song nachspielen, nach einmaligem Anhören, alles, von Air Supply bis John Cougar Mellencamp“, erinnerte sich sein Stiefbruder James. Die Familie lieh This Is Spinal Tap aus, und Kurt und James sahen sich das Video fünfmal hintereinander an. Es dauerte nicht lange, und Kurt rezitierte ganze Dialoge aus dem Film auswendig und spielte die Songs der Band.

In der Zeit, in der Kurt wieder bei Don und Jenny wohnte, kam es zu einem weiteren Selbstmord in der Familie. Kenneth Cobain, Großvater Lelands letzter verbliebener Bruder, verzweifelte nach dem Tod seiner Frau und schoss sich mit einer Kleinkaliberpistole in die Stirn. Für Leland war dieser Verlust schier nicht mehr zu ertragen. Die Anhäufung tragischer Todesfälle in seiner Familie – seines Vaters, seines Sohnes Michael und seiner drei Brüder – stürzte den bislang eher temperamentvollen Mann in eine tiefe Melancholie. Wenn man davon ausgeht, dass Ernest sich bewusst zu Tode getrunken hat, haben sich alle drei Brüder Lelands das Leben genommen, die anderen beiden hatten sich erschossen.

Kurt hatte diesen Onkeln nie sehr nahe gestanden, aber wie ein Schleier legte sich eine düstere Stille über das Haus; in der Luft lag ein Gefühl, als laste ein Fluch auf der Familie. Seine Stiefmutter versuchte für Kurt einen Job als Gartenarbeiter aufzutreiben, die einzige Branche neben der Holzwirtschaft, in der in Monte Stellen zu haben waren. Kurt mähte ein paar Rasen, langweilte sich aber bald. Ein-, zweimal sah er die Jobanzeigen durch, aber viel hatte Monte in dieser Richtung, wie gesagt, nicht zu bieten. Der größte Arbeitgeber in der Region, das Atomkraftwerk am Satsop, war Pleite gegangen, noch bevor es überhaupt ganz fertig war, was der Stadt eine Arbeitslosenquote von fünfzehn Prozent bescherte, doppelt so hoch wie der Staatsdurchschnitt. Im Hause Cobain kam es zur Krise, als Don Kurt eröffnete, wenn er schon nicht zur Schule gehen oder arbeiten wolle, dann müsse er eben zum Militär. Schon am nächsten Abend lud Don einen Rekrutierungsoffizier der Marine ein, der sich mit Kurt unterhalten sollte.

Statt eines kräftigen, willensstarken Mannes – ein paar Jahre später hätte Kurt den Navy-Mann wahrscheinlich Kopf voraus vor die Tür gesetzt – fand der Rekrutierungsoffizier ein trauriges, gebrochenes Kind vor. Zur Überraschung aller hörte Kurt sich die Ausführungen des Mann sogar an. Am Ende des Abends meinte Kurt, sehr zur Erleichterung seines Vaters, er würde es sich überlegen. Für Kurt hörte sich der Militärdienst wie die Hölle an, aber es war eine Hölle mit einer anderen Postleitzahl. Zu Jesse Reed bemerkte er: „Wenigs­tens geben sie dir bei der Navy drei warme Mahlzeiten und eine Pritsche.“ Für einen Jungen, der auf der Straße gelebt und im Wartesaal eines Kranken­hauses genächtigt hatte, erschien die Vorstellung von Sicherheit und regelmäßiger Verpflegung ohne elterliche Störfaktoren durchaus attraktiv. Aber als Don ihn zu überreden versuchte, den Mann von der Marine am nächsten Tag gleich noch einmal einzuladen, sagte Kurt, er solle die Sache vergessen.

Verzweifelt auf der Suche nach Halt, wie er war, entdeckte er schließlich die Religion. Er und Jesse waren im Lauf des Jahres 1984 unzertrennlich geworden, und dazu gehörte, dass die beiden zusammen in die Kirche gingen. Jesses Eltern, Ethel und Dave Reed, waren Born Again Christians, die Familie besuchte die Central Park Baptist Church, die auf halbem Weg zwischen Monte und Aberdeen lag. Kurt begann regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst zu erscheinen und ließ sich sogar hin und wieder am Mittwochabend bei der Jugendgruppe der Kirche bli­cken. Im Oktober ließ er sich in der Kirche taufen, eine Zeremonie, zu der nicht einer aus seiner Familie auftauchte. Laut Jesse hatte Kurt sogar eine für Konvertiten typische spirituelle Gotteserfahrung. „Eines Abends, wir gingen grade über die Brücke am Chehalis River, blieb er plötzlich stehen und sagte, er sei bereit, Jesus in sein Leben aufzunehmen. Er bat Gott, ‚in sein Leben zu treten‘. Ich erinnere mich noch genau, dass er über die Offenbarungen sprach und die Ruhe, von der jeder erzählte, der Jesus akzeptiert hat.“ Während der nächsten Wochen nahm Kurt den Predigerton eines wiedergeborenen Christen an. So begann er etwa Jesse zu tadeln, weil der Pot rauchte, die Bibel missachte und überhaupt ein lausiger Christ sei. Kurts Konversion fiel mit einer seiner drogenfreien Perioden zusammen; in der Geschichte seines Drogenkonsums wechselten einander Exzesse immer wieder mit Fastenperioden ab. Im selben Monat schrieb er seiner Tante Mari einen Brief, in dem er ihr seine Ansichten über Marihuana kundtat:

Ich habe gerade auf MTV Reefer Madness gesehen … Der Film stammt aus den Dreißigerjahren, und wenn die Leute auch nur einen Zug von der Teufelsdroge nahmen, flippten sie total aus, brachten einander um, hatten Affären, überfuhren mit dem Auto Unschuldige. Ein Teenager, der ein bisschen wie Beaver aus der Fernsehserie Leave it to the Beaver (Mein lieber Biber) aussah, musste wegen Mordes ins Gefängnis. Wow, das ist echt mehr, als ich vertrage. Ich meine, das Ganze war schon ziemlich übertrieben. Aber ich akzeptiere den Gedanken dahinter. Pot ist Scheiße. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, weil ich selbst eine Zeit lang fast so lethargisch war wie verschimmelter Käse. Ich glaube, das war wohl ein großes Problem zwischen Mom und mir.

Aber kaum hatte er den Brief abgeschickt und sich in seinem neuen Leben als Kirchenmitglied eingerichtet, ließ Kurt den Glauben auch schon wieder fallen wie eine Hose, die ihm zu klein geworden war. „Er war hungrig darauf gewesen“, sagte Jesse, „aber es war eine Übergangsperiode, er hatte nur einfach Angst.“ Als die Angst sich wieder legte, begann Kurt auch wieder Pot zu rauchen. Er ging zwar noch drei weitere Monate zur Messe, aber was er sagte, erzählte Jesse, „richtete sich immer mehr gegen Gott. Und dann war er plötzlich auf einem richtigen Anti-Gott-Trip.“

Jesses Eltern mochten Kurt gut leiden, und da er ohnehin schon so oft bei ihnen zuhause war, schlugen sie vor, er solle doch gleich zu ihnen ziehen. Sie wohnten auf dem Land, in North River, etwa vierzehn Meilen außerhalb von Aberdeen. Zu dieser Zeit schienen sich die beiden Jungs gegenseitig etwas geben zu können, was im Leben des jeweils anderen fehlte. Die Reeds diskutierten die Möglichkeit, Kurt könnte nach North River ziehen, und Don, Wendy und Jenny waren sich einig, es sei einen Versuch wert. Wendy sagte den Reeds, sie sei „mit ihrer Weisheit am Ende“, bei Don und Jenny hörte sich das sehr ähnlich an. „Dave Reed kam bei uns vorbei“, erinnerte sich Jenny, „und sagte, er könnte etwas für den Jungen tun. Die Reeds waren gläubige Leute, und Dave meinte, ihm die Disziplin geben zu können, die er sonst nirgendwo fand.“ Und Ethel Reed erklärte: „Wir hatten Kurt wirklich gern. Er war ein so netter Junge, er wirkte nur einfach so verloren.“ Im September packte Kurt wieder einmal seine Siebensachen, diesmal in einen Matchsack, und zog nach North River.

Die Reeds wohnten in einem Haus mit gut dreihundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche, und die Jungs konnten in dem riesigen Obergeschoss praktisch tun und lassen, was sie wollten. Das Beste an dem Haus war seine Abgeschiedenheit – sie konnten ihre E-Gitarren bis zum Anschlag aufdrehen. Und sie spielten den ganzen Tag. Obwohl Dave Reed ein Jugendberater bei der Christian Youth war und mit seinem Schnurrbart und dem kurzen Haar ein bisschen wie Ned Flanders, der gottesfürchtige Nachbar aus Die Simpsons, aussah, war er beileibe kein Spießer. Reed hatte selbst zwanzig Jahre Rock ’n’ Roll gemacht und mit Kurts Onkel Chuck bei den Beachcombers gespielt, war also auch kein Unbekannter bei den Cobains. Das ganze Haus war voll gestopft mit Gitarren, Verstärkern und Platten. Dazu waren die Reeds auch weit weniger streng als Don. Sie ließen Kurt mit Buzz und Lukin nach Seattle fahren, um Black Flag, die richtungsweisende Punkband um Henry Rollins, zu hören. The Rocket kürte das Konzert zum zweitbesten des Jahres 1984, aber für Kurt kam ihm nur der Auftritt der Melvins auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt gleich. In jedem seiner späteren Interviews behauptete er, dies sei das erste Konzert seines Lebens gewesen.

Im Haus der Reeds jammte Kurt denn auch zum ersten Mal mit Krist Novoselic. Novoselic war zwei Jahre älter als Kurt und rund um die Bucht von Grays Harbor praktisch nicht zu übersehen: Knappe zwei Meter groß, erinnerte er an den jungen Abraham Lincoln. Krist war kroatischer Abstammung und kam aus einer ebenfalls durch Scheidung zerrütteten Familie, die mindestens so kaputt war wie die von Kurt (in Aberdeen kannte man Krist als „Chris“, aber 1992 änderte er die Schreibweise seines Vornamens in die ursprüngliche kroatische Form).

Kurt kannte Krist von der Highschool und aus dem Übungsraum der Melvins, aber ihr Lebensweg hatte sich auch noch woanders gekreuzt, auch wenn sie davon nie wieder sprechen sollten, nämlich in der Central Park Baptist Church. Wenn Krist auch aus anderen Gründen in die Kirche gegangen war – selbst die Älteren wie Mr. Reed wussten, dass Krist „bloß wegen der Mädchen“ kam. Jesse jedenfalls lud Krist eines Nachmittags zu sich nachhause ein, und die drei jammten miteinander. Krist spielte damals wie Jesse und Kurt Gitarre, sodass sich ihre Session ein bisschen nach Wayne’s World anhörte, als sie ihre Jimmy-Page-Imitationen abzogen. Krist und Jesse tauschten zwischendurch für eine Weile die Gitarren, Linkshänder Kurt blieb bei seiner eigenen. Auch einige von Kurts eigenen Songs probierten sie mit ihrer Drei-Gitarren-Gewitter-Besetzung aus.

Nachdem Kurt bei den Reeds eingezogen war, unternahm er mehrere Anläufe, noch einmal auf die Highschool zu gehen. Er hinkte in Weatherwax allerdings bereits derart hinterher, dass er den Abschluss unmöglich zusammen mit seinem Jahrgang hätte machen können. Seinen Freunden sagte Kurt, er überlege, auf zurückgeblieben zu machen, um in die Klasse für Sonderschüler zu kommen. Jesse zog Kurt auf und gab ihm seiner schlechten Noten wegen den Spitznamen „Slow Brain“. Das einzige Schulfach, bei dem er wirklich mitmachte, war Kunsterziehung; sie war das einzige Gebiet, auf dem er sich nicht inkompetent vorkam. 1985 reichte er eines seiner Projekte aus dem Kunstunterricht zur Regional High School Art Show ein, einer Ausstellung, bei der Kunstwerke aus allen Highschools der Gegend zu sehen waren, und seine Arbeit wurde in die ständige Sammlung des Bezirksschulamts aufgenommen. Mr. Hun­ter sagte Kurt, wenn er sich anstrenge, bekäme er womöglich ein Stipendium für eine Akademie. Ein Stipendium setzte allerdings, wie das College, einen Highschoolabschluss voraus, eine Möglichkeit, die Kurt längst nicht mehr sah, es sei denn, er hängte noch ein Jahr dran. Später behauptete er fälschlicherweise, man habe ihm mehrere Stipendien angeboten. Schließlich ging Kurt von der Schule ab, schrieb sich aber in Aberdeens alternativer Continuation High School ein. Der Lehrplan dort ähnelte dem von Weatherwax, nur gab es keine formellen Klassen; die Schüler erhielten von den Lehrern Einzelunterricht. Mike Poitras war etwa eine Woche lang Kurts Tutor, aber der blieb nicht lange genug bei der Sache, um auch nur über die Orientierungsphase hinauszukommen. Nach zwei Wochen schmiss Kurt auch die Schule für Drop-outs.

Nachdem klar war, dass Kurt das Kapitel Schule abgeschlossen hatte, besorgte Dave Reed ihm einen Job im Lamplighter Restaurant in Grayland. Er arbeitete für vier Dollar und fünfundzwanzig Cent die Stunde als Tellerwäscher, Küchenhilfe, Aushilfskoch und Hilfskellner. Er trat den Job im Winter an, also außerhalb der Saison, sodass im Restaurant kaum Betrieb herrschte, was Kurt nur recht war.

Es waren die Beziehungen zu Dave Reed sowie Onkel Chuck und Tante Mari, durch die Kurt überhaupt erst auf den Gedanken kam, eines Tages vielleicht eine Zukunft in der Musikbranche haben zu können. Dave und Chuck hatten in ihrer Jugend eine Single mit den Beachcombers aufgenommen: „Purple Peanuts“, die Rückseite hieß „The Wheelie“; die Single gehörte mit zum Kostbarsten, was es im Haus der Reeds gab. Bei Kurt und Jesse lief die Platte pausen­los, und sie spielten sie auf ihren Gitarren nach. Kurt schrieb aber auch selbst flei­ßig Songs; er hatte bereits mehrere Ordner voller Texte mit Titeln wie „Wat­tage In The Cottage“ und „Samurai Sabotage“. Auch über Mr. Reed hatte er einen Song geschrieben: „Diamond Dave“. Und dann hatte er noch einen, in dem er sich über einen Klassenkameraden aus Aberdeen lustig machte, der Selbstmord begangen hatte. Der Junge hieß Beau und der Song, eine Country & Western-Nummer, trug den Titel „Ode To Beau“.

Ein Mitglied der ehemaligen Beachcombers arbeitete mittlerweile in der Promotionabteilung bei Capitol Records in Seattle, und als Kurt das erfuhr, klammerte er sich an dieses Wissen wie an einen Rettungsring. Ständig setzte er Dave zu, ob er ihn dem Mann vorstellen könne; er wusste damals noch nicht, dass Promotionleute keine Talentsucher waren. „Kurt wollte ihn unbedingt kennen lernen, weil er dachte, er könnte ihm zu einer Karriere verhelfen“, erinnerte sich Jesse. Es waren dies die ersten Ansätze von Kurt Cobain, dem Berufsmusiker, und das ständige Drängen, dem Mann vorgestellt zu werden – wozu es übrigens nie kommen sollte –, belegt, dass sich Kurt bereits als Siebzehnjähriger eine Laufbahn als Musiker vorstellen konnte. Hätte Kurt seine Ambitionen in Richtung Major-Label im Proberaum der Melvins erwähnt, wäre er als Ketzer gebrandmarkt worden. Also behielt er sie für sich, hielt aber trotzdem ständig die Augen nach einer Möglichkeit offen, seiner Situation zu entfliehen.

Das Leben bei den Reeds war für Kurt beinahe so, als hätte er die Familie zurück, die er mit der Scheidung seiner Eltern verloren hatte. Die Reeds aßen gemeinsam zu Abend, gingen zusammen in die Kirche, die musikalischen Talente der Jungen wurden gefördert. Es war offensichtlich, dass die Zuneigung, ja die Liebe zwischen den Familienmitgliedern echt war, und man nahm Kurt da nicht aus. Als Kurt im Februar 1985 achtzehn wurde, gaben die Reeds eine Geburtstagsparty für ihn. Seine Tante Mari schickte ihm zwei Bücher: die Led-Zeppelin-Biografie Hammer of the Gods und einen Band mit Illustrationen von Norman Rockwell. In einem Dankesbrief an seine Tante schilderte Kurt ihr die Party: „Sämtliche Kids aus der Kirchengruppe kamen rüber, alle brachten Kuchen für mich und Jesse, dann spielten wir irgendwelche dussligen Spiele, und Pastor Lloyd sang ein paar Lieder (er sieht übrigens genau wie Mr. Rogers aus Mr. Rogers’ Neighborhood [einer amerikanischen TV-Kinderserie, die seit 1963 gesendet wird] aus). Aber es ist schön zu sehen, dass den Leuten was an einem liegt.“

Aber noch nicht einmal mit Pastor Lloyd, einer Ersatzfamilie wie den Reeds und einer Jugendgruppe im Rücken konnte Kurt sich von dem Gefühl befreien, von seiner eigenen zerrissenen Familie ausgesetzt worden zu sein. „Er war recht hart gegen sich“, bemerkte Dave Reed. Obwohl Kurt kaum noch Kontakt zu seiner Mutter hatte, hielt Dave Reed sie Monat für Monat auf dem Laufenden. Im August 1984 hatte sie Pat O’Connor geheiratet, und schon im Frühjahr darauf war sie schwanger. Während ihrer Schwangerschaft schaute Kurt einmal bei ihr vorbei, und als Wendy sah, wie verloren er wirkte, brach sie in Tränen aus. Kurt ging auf die Knie, nahm seine Mutter in die Arme und sagte ihr, es gehe ihm gut.

Und das stimmte durchaus, wenigstens für den Augenblick, aber dann stand auch bereits die nächste Krise ins Haus. Im März 1985 schnitt Kurt sich beim Geschirrspülen im Restaurant in den Finger und schmiss den Job in einem Anfall von Panik hin. „Er musste genäht werden“, erinnerte sich Jesse, „und mir hat er gesagt, wenn er seinen Finger verliert und nicht mehr Gitarre spielen kann, dann bringt er sich um.“ Ohne Job und mit einer Verletzung, mit der er die Gitarre nicht halten konnte, igelte sich Kurt im Haus ein. Er überredete Jesse, die Schule zu schwänzen, und die beiden hockten den lieben langen Tag zuhause, nahmen Drogen und soffen sich zu. „Er hat sich mehr und mehr zurückgezogen“, erinnerte sich Ethel Reed. „Wir versuchten ihn dazu zu bekommen, mehr aus sich rauszugehen, aber es gelang uns einfach nicht. Mit der Zeit wurde uns klar, dass wir ihm nicht wirklich halfen, sondern ihm vielmehr einen Ort boten, an dem er sich noch mehr vor den Leuten verkriechen konnte.“

Zur endgültigen Entfremdung zwischen Kurt und der Familie kam es, als er eines Nachmittags im April seine Schlüssel vergaß und ein Fenster eintrat, um ins Haus zu kommen. Das war der sprichwörtlich letzte Tropfen für die Reeds, und sie erklärten ihm, er müsse anderswo unterkommen. Es war ein verregneter April in Grays Harbor, und während die meisten jungen Leute seines Alters damit beschäftigt waren, sich auf den Schulball oder die Abschluss­prüfung vorzubereiten, machte Kurt sich wieder einmal auf die Suche nach einem Unterschlupf.

Wieder auf der Straße, fügte sich Kurt neuerlich in sein nomadisches Leben mit Übernachtungen in Garagen von Freunden und fremden Hausfluren. In seiner Verzweiflung wandte er sich schließlich an das staatliche Wohlfahrtsamt und bekam pro Monat Lebensmittelmarken im Wert von vierzig Dollar zugesprochen. Über das Arbeitsamt fand er zum 1. Mai eine Stellung beim CVJM. Es war nur ein Teilzeitjob, der mit einem Zuschuss der örtlichen Youth-Work-Zweigstelle finanziert wurde, aber Kurt sollte diese kurze Anstellung später als seinen liebsten Job bezeichnen. Im Grunde war es nur ein besserer Hausmeisterjob, aber wenn einer der anderen dort krank war, sprang er auch als Bademeis­ter oder Sportinstruktor ein. Kurt jedenfalls gefiel der Job, vor allem die Arbeit mit Kindern. Obwohl er kein sonderlich guter Schwimmer war, sprang er besonders gern als Bademeister ein. Kevin Shillinger, der nur einen Block vom CVJM entfernt wohnte, beobachtete Kurt einmal dabei, wie er einer Gruppe von Fünf- und Sechsjährigen T-Ball, ein Spiel, das dem Baseball nicht unähnlich ist, bei dem der Ball jedoch auf einen Pfahl gelegt und von dort geschlagen und nicht geworfen wird, beibrachte – während der ganzen Stunde strahlte er nur so. In der Arbeit mit Kindern fand er endlich das Selbstwertgefühl, das ihm in anderen Lebensbereichen abging. Er kam mit Kindern gut zurecht, und sie beurteilten ihn nicht.

Er nahm einen zweiten Teilzeitjob an, den er jedoch auch später nur selten erwähnte: einen Posten als Hausmeistergehilfe an der Weatherwax High School. Jeden Abend schlüpfte er in einen braunen Overall und schob einen Wischmopp durch die Flure der Schule, aus der er ausgetreten war. Obwohl das Schuljahr fast vorbei war, als er seine Stellung antrat, ließ ihn der Kontrast zwischen seinen Altersgenossen, die sich aufs College vorbereiteten, und seiner Situation seine vermeintliche Minderwertigkeit mehr spüren denn je. Er hielt es zwei Monate aus, bevor er aufhörte.

Nachdem Kurt den Haushalt der Reeds verlassen hatte, ging auch Jesse von zuhause weg. Eine Weile wohnten die beiden bei Jesses Großeltern in Aberdeen. Am 1. Juni 1985 schließlich zogen sie in ein Apartment in der North Michigan Street 404. Die winzige Einzimmerwohnung für einhundert Dollar im Monat, deren rosa Anstrich ihr den Spitznamen „das rosa Apartment“ einbrachte, war ein Loch, aber es war ihr Loch. Die Wohnung war spärlich möbliert, eine Einrichtung, die sie durch Kram wie Dreiräder und Liegestühle ergänzten, die sie aus den Gärten in der Nachbarschaft stahlen. Zur Straße hinaus hatten sie ein Panoramafenster, das Kurt zu seiner öffentlichen Leinwand erklärte: mit Seife schrieb er „666“ und „Satan regiert“ auf die Scheiben. Von einer Henkersschlinge hing eine mit Rasiergel der Marke Edge eingeschmierte Gummipuppe. Das Edge-Gel war überall in der Wohnung. In der Nachbarschaft waren kostenlose Proben verteilt worden, und Kurt und Jesse hatten herausgefunden, dass man das Gas aus den Dosen saugen und darauf high werden konnte. Eines Tages – sie hatten LSD eingeworfen – klopfte ein Sheriff des Grays Harbor County an die Tür und wies sie an, die Puppe aus dem Fenster zu nehmen. Glücklicherweise kam der Polizist nicht in die Wohnung: Er hätte nicht nur das verkrustete Geschirr der letzten drei Wochen in der Spüle gefunden, sondern auch zahlreiche geklaute Gartenmöbel, Rasiergel überall an den Wänden und die Beute ihres neuesten Zeitvertreibs, von den Grabsteinen auf dem Friedhof Kreuze zu klauen und sie mit lustigen Tupfenmustern zu bemalen.

Der Kurzbesuch des Deputys sollte im Sommer 1985 jedoch nicht Kurts einzige Begegnung mit der Polizei bleiben. Wie Werwölfe warteten Kurt, Jesse und ihre Kumpel jeden Abend auf den Einbruch der Dunkelheit und machten sich dann auf ihre Randalezüge durch das Viertel, wobei sie Gartenmöbel stahlen und Häuser mit Graffiti besprühten. Kurt behauptete später, seine Graffiti (er listete zum Beispiel „Gott ist schwul“ und „Christus abtreiben!“ als ein paar seiner Slogans auf) seien politisch motiviert gewesen, aber größtenteils waren sie doch schlicht Nonsens. Einen der Nachbarn, der ein Boot hatte, brachte er auf die Palme, indem er mit roter Farbe „Boat Ack“ und „Boat people go home!“ auf die beiden Seiten des Bootsrumpfs schrieb. Eines Abends bepinselte er eine Mauer des CVJM-Gebäudes – ein fast poetischer Zug von ausgleichender Gerechtigkeit, dass er tags darauf selbst den Auftrag bekam, die Schmierereien von der Hauswand zu entfernen.

Am Abend des 23. Juli 1985 fuhr Detective Michael Bens Streife in der Market Street, nur einen Block von der Polizeiwache von Aberdeen entfernt, als ihm in einer Gasse drei Männer und ein blonder Junge auffielen. Die Männer flohen, als Bens’ Wagen näher kam, aber der Junge erstarrte und stand wie ein verängstigter Hase im Scheinwerferlicht da. Bens sah, wie er einen dicken Filzstift wegwarf. An der Wand hinter ihm stand das prophetische Statement: „Ain’t got no how watchamacallit“, was man ungefähr mit „Ich hab kein Wiesagtmangleichwieder“ übersetzen könnte. Typografisch war der Schriftzug ein Kunstwerk, die Buchstaben wechselten zwischen Klein- und Großschreibung, und die t waren viermal so groß wie die anderen Buchstaben.

Plötzlich rannte der Junge los und kam zwei Blocks weit, bevor der Streifenwagen ihn einholte. Darauf blieb er stehen und ließ sich Handschellen anlegen. Als Namen nannte er „Kurt Donald Cobain“, und er war ein Musterbeispiel an Höflichkeit. Auf der Wache verfasste er eine Aussage und unterschrieb sie; sie lautete folgendermaßen:

Heute Abend habe ich, als ich mit drei anderen hinter der SeaFirst Bank in der Gasse neben der Bibliothek stand, an die Hauswand der SeaFirst Bank geschrieben. Ich weiß nicht, warum ich es gemacht habe, aber ich habe es gemacht. Ich habe an die Wand geschrieben: „Ain’t got no how watchamacallit.“ Jetzt sehe ich ein, wie dumm es von mir war, so etwas zu machen, und es tut mir leid. Als der Polizeiwagen in die Gasse kam, habe ich ihn gesehen, und ich ließ einen roten Marker fallen, mit dem ich geschrieben hatte.

Ihm wurden die Fingerabdrücke abgenommen, er wurde fotografiert, dann konnte er gehen, musste jedoch einige Wochen später vor Gericht erscheinen. Er wurde zu einhundertachtzig Dollar Bußgeld und einer Haftstrafe von dreißig Tagen verurteilt, die jedoch zur Bewährung ausgesetzt wurde. Außerdem verwarnte man ihn, er solle sich von Ärger fern halten.

Für den achtzehnjährigen Kurt war das leichter gesagt als getan. Eines Abends, als Jesse in der Arbeit war, kamen die üblichen „Klingonen“ vorbei, und sie begannen mit ihren Gitarren zu jammen. Einer der Nachbarn, ein großer Mann mit einem Schnurrbart, polterte an die Wand und rief, sie sollten still sein. Kurt erzählte später die Geschichte, der Nachbar hätte ihn dann stundenlang gnadenlos verprügelt, aber das war nur eine weitere von Kurts vielen Storys, nach denen Aberdeens „Rednecks“ ihn praktisch pausenlos malträtierten. „Es war ganz anders“, erinnerte sich Steve Shillinger. „Der Typ kam rüber, sagte ihm, er solle Ruhe geben, und als Kurt frech wurde, hat der Typ ihm ein paar gelangt und ihm gesagt, er solle verdammt noch mal das Maul halten.“ Jesse war, wie gesagt, an jenem Abend nicht zuhause, aber in der ganzen Zeit, die er Kurt kannte, erinnerte er sich nur an eine einzige Prügelei: „Kurt war normalerweise viel zu sehr damit beschäftigt, die Leute zum Lachen zu bringen. Ich war immer dabei, um ihn zu beschützen.“ Jesse war auch nicht größer als Kurt, aber er war kräftiger gebaut und trainierte mit Gewichten.

Während ihrer Zeit im rosa Apartment hätte Jesse wahrscheinlich sogar für Kurt gemordet, eine Tatsache, die dieser weidlich ausnutzte. Eines Tages verkündete Kurt, sie sollten sich beide Irokesenschnitte zulegen. Sie gingen runter zu den Shillingers, Haarschneider wurden gezückt, und bald stand Jesse mit einem Irokesen da. Als Kurt dran war, sich rasieren zu lassen, erklärte er, es sei doch eine blöde Idee gewesen. „Einmal sagte Kurt, wenn er mir was auf die Stirn schreiben könnte, dann könnte ich ihm was auf die seine schreiben“, erinnerte sich Jesse. „Er nahm einen wasserfesten Filzer und schrieb mir ‚666‘ aufs Hirn, dann lief er davon. Ich war immer der Trottel, mit dem jeder seine Experimente machen konnte. Wenn es eine neue Droge gab oder ein unbekanntes Getränk, war ich immer der, der das Zeug als Erster probieren musste.“ Kurts Quälereien seinem besten Freund gegenüber hatten aber auch eine finstere Seite. Obwohl Jesse mindestens so viel Blödsinn trieb wie Kurt, hatte er in jenem Frühjahr seinen Abschluss an der Highschool geschafft. Eines Abends, als Jesse in der Arbeit bei Burger King war, riss Kurt die Bilder aus Jesses Jahrbuch, klebte sie an die Wand und malte rote Kreuze darüber. Der Ausbruch war mehr eine Zurschaustellung seines Selbsthasses als dass er etwas mit Kurts Gefühlen Jesse gegen­über zu tun hatte. Trotzdem beschloss Kurt – vielleicht in einer Welle von Scham über seinen Wutanfall –, Jesse aus der Wohnung zu werfen. Dabei interessierte ihn auch nicht, dass es Jesse war, der die Kaution für das Apartment aufgebracht hatte. Bald wohnte Jesse wieder bei seiner Großmutter, und Kurt war allein. Jesse hatte ohnehin vor, zur Marine zu gehen, und Kurt fühlte sich dadurch bedroht. Es war ein Schema, das sich bei ihm zeitlebens wiederholen sollte: Bevor er jemanden verlor, den er gern hatte, zog er sich – für gewöhnlich, indem er irgendeinen hanebüchenen Konflikt aufwarf – lieber als Erster zurück, um den Schmerz des Verlassenwerdens zu mildern.

Allein im rosa Apartment, schrieb Kurt weiter Songs, und obwohl es sich bei den meisten davon um kaum verschleierte Geschichten über Leute und Ereignisse um ihn herum handelte, waren viele davon humorig. In diesem Sommer schrieb er einen Song mit dem Titel „Spam“ – der von eben jenem Frühstücksfleisch in Dosen handelte – und einen anderen namens „The Class of 85“, einen Angriff auf Jesse und den Schuljahrgang, der seinen Abschluss nun ohne ihn gemacht hatte. Im Text hieß es: „Wir sind alle gleich, nur Fliegen auf einem Haufen Kacke.“ Obwohl seine Songs sich um eine isolierte kleine Welt drehten, dachte Kurt bereits in großen Maßstäben. „Ich werde irgendwann noch mal eine Platte machen, die größer wird als U2 oder R.E.M.“, prahlte er Steve Shillinger gegenüber. Diese beiden Bands gefielen Kurt besonders, außerdem konnte er einem endlos darüber vorschwärmen, wie toll die Smithereens waren, obwohl er diese Einflüsse Buzz gegenüber geflissentlich verschwieg, aus Angst, gegen den Punkkodex zu verstoßen, laut dem Popmusik grundsätzlich nichts taugte. Er las jedes Fanzine und jedes Musikmagazin, das er in die Finger bekam – das waren in Aberdeen nicht eben viele –, und schrieb lange imaginäre Interviews mit sich selbst für nicht existente Magazine. Kurt und Steve dachten darüber nach, selbst ein Fanzine herauszugeben, und brachten schließlich sogar eine Nullnummer zustande. Steve stieg jedoch aus dem Projekt aus, als ihm klar wurde, dass Kurt positive Rezensionen über Platten schrieb, die er sich noch nicht einmal angehört hatte. Kurt sprach auch davon, ein eigenes Plattenlabel aufzumachen, und eines Abends nahmen er und Steve einen Freund namens Scotty Karate auf, der einen gesprochenen Monolog vortrug. Wie bei so vielen seiner Ideen in jener Zeit kam jedoch nie etwas dabei heraus.

Es fehlte einfach das Geld, sei es für ein Fanzine oder für ein Plattenlabel, allein die Miete aufzubringen war schwierig genug. Zwei Monate nachdem Jesse ausgezogen war, wurde Kurt auf die Straße gesetzt. Sein Vermieter kam in die Wohnung, während Kurt nicht zuhause war, warf seine paar Habseligkeiten – inklusive der gestohlenen Kreuze und Dreiräder – in Kartons und stellte sie raus auf die Straße.

Zum dritten Mal innerhalb von zwei Jahren stand Kurt damit ohne Dach über dem Kopf da. Einmal mehr zog er in Betracht, zur Marine zu gehen. Trevor Briggs hatte sich zum Militär gemeldet und drängte Kurt mitzumachen, sodass sie vom Buddy-System der Navy Gebrauch machen könnten, das es ihnen ermöglichen würde, wenigstens die Grundausbildung zusammen zu absolvieren. Die Arbeitslosigkeit in Grays Harbor war noch gestiegen, und die Möglichkeiten für einen Achtzehnjährigen ohne Schulabschluss waren äußerst begrenzt. Kurt ging also zum Rekrutierungsbüro der Marine in der State Street und saß drei Stunden über einem Eignungstest für Berufsanfänger. Er bestand ihn, und die Navy war bereit, ihn zu nehmen – später dann behauptete Kurt, das beste Ergebnis gehabt zu haben, das je bei diesem Test erzielt worden war, aber das ist kaum glaubwürdig, da die Prüfung auch Mathematikaufgaben umfasste. Wie schon beim ersten Mal überlegte Kurt es sich anders, als es dann an den Beitritt selbst ging.

Meistens schlief Kurt auf dem Rücksitz des Wagens von Greg Hokansons Mutter, einem ramponierten Volvo, den sie im Scherz „Vulva“ nannten. Mit dem Wetterumschwung im Oktober wurden auch die Nächte auf dem Autositz immer unfreundlicher und elender. Aber Kurt fand bald einen neuen Wohl­täter bei den Shillingers, der sich nach einigem Zureden bereit erklärte, ihn aufzunehmen.

Lamont Shillinger war Englischlehrer in Weatherwax, und wie Dave Reed kam er aus einer religiösen Familie. Er war zwar schon Jahre zuvor bei den Mormonen ausgetreten, versuchte jedoch nach wie vor „freiberuflich“, wie er sich ausdrückte, „ein anständiger Mensch zu sein“. Es gab noch weitere Parallelen zum Leben bei den Reeds: Die Shillingers aßen gemeinsam zu Abend, verbrachten Zeit als Familie miteinander und unterstützten die musikalischen Bemühungen ihrer Söhne. Kurt wurde in die Familiengemeinschaft eingebunden und bekam, wie alle anderen auch, Aufgaben im Haushalt zugeteilt, die er ohne Murren erledigte, dankbar, bei etwas dabei zu sein. Die Shillingers hatten etwas wenig Platz im Haus, weil sie selbst schon sechs Kinder hatten, darum nächtigte Kurt auf einem Sofa im Wohnzimmer und verstaute seinen Schlafsack tagsüber dahinter. Er verbrachte Thanksgiving und den Weihnachtsmorgen 1985 bei den Shillingers. Lamont kaufte Kurt eine neue Levi’s, die er auch dringend brauchen konnte. Später am Weihnachtstag besuchte Kurt Wendy, die vor kurzem seine Halbschwester Brianne zur Welt gebracht hatte. Das neue Baby hellte die Stimmung im Haus der O’Connors etwas auf, über eine Rück­kehr von Kurt wurde aber nie gesprochen.

Im Dezember 1985 begann Kurt einige der Songs zu proben, die er geschrieben hatte; Dale Crover stand am Bass, Greg Hokanson saß an den Drums. Es war seine erste richtige Band, sie hießen Fecal Matter. Er konnte Crover überreden, ihn zu Tante Mari zu begleiten, um ein paar der Songs aufzunehmen. „Er kam mit einem dicken Notizbuch voller Texte“, erinnerte sich Mari. „Ich zeigte ihm, wie man dies und das einstellte, wie man die Bandmaschine bediente, und er machte sich gleich an die Arbeit.“ Kurt nahm zuerst die Stimme auf, dann spielten er und Crover Gitarre, Bass und Drums über seinen Gesang. Mari machte sich ein bisschen Sorgen wegen des Texts zu „Suicide Samurai“, tat ihn dann aber als typisches Teenagergedöns ab. Außerdem nahmen die Jungs „Bambi Slaughter“ auf (die Geschichte eines Jungen, der die Eheringe seiner Eltern versetzt), „Buffy’s Pregnant“ (womit Buffy aus der TV-Serie Lieber Onkel Bill gemeint war) sowie die Songs „Downer“, „Laminated Effect“, „Spank Thru“ und „Sound of Dentage“. Zurück in Aberdeen, zog Kurt mit dem Tapedeck der Shillingers Kopien der Aufnahmen. Das Band in der Hand zu halten war für ihn ein greifbarer Beweis dafür, dass er Talent hatte – es war das erste Mal, dass die Musik ihm so etwas wie Selbstwertgefühl gab. Trotzdem lösten Fecal Matter sich auf, ohne auch nur einen einzigen Gig gespielt zu haben.

Trotz der widrigen äußeren Umstände verlief Kurts innere, künstlerische Entwicklung rasant. Nach wie vor drehte er Filme mit der Super-Acht-Kamera. In einem kurzen Stummfilm aus dieser Zeit sieht man Kurt in einem T-Shirt des Radiosenders KISW („Seattle’s Best Rock“) durch ein verlassenes Haus gehen, während er versucht, dabei mit seiner Panoramasonnenbrille wie Jean-Paul Belmondo in Atemlos auszusehen. In einem anderen setzt er eine Mr.-T.-Maske auf, um dann scheinbar eine riesige Menge weißen Pulvers wegzusniffen, das wie Kokain aussieht – ein Spezialeffekt, den er mit Mehl und einem Staubsauger umsetzte. Zwei Dinge hatten seine Filme durch die Bank gemein: Sie waren einfallsreich und – wie alles, was Kurt kreierte – zu einem gewissen Grad verstörend. In diesem Frühjahr versuchte er ein Geschäft daraus aufzuziehen, Skateboards mit Graffiti zu bemalen. Er schlug sogar Flugblätter in der Stadt an, aber nur ein einziger Teenager ließ sich sein Skateboard von ihm bemalen – er wollte einen explodierenden Kopf. Kurt kam dem Wunsch nur allzu gern nach – dieses Motiv war seine Spezialität –, aber der Kunde bezahlte nie, und das Unternehmen schlief ein.

Am 18. Mai 1986 kümmerte sich wieder die Polizei von Aberdeen um Kurt. Um halb ein Uhr nachts wurde eine Streife zu einem verlassenen Haus in der West Market Street 618 gerufen, und Officer John Green sah Kurt, offenbar unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol, auf einem Dach herumklettern. Green erinnerte sich, Kurt sei „ein netter Junge“ gewesen, wenn auch „etwas verängstigt“. Kurt bekam eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs und – er war ja noch minderjährig – Alkoholbesitzes. Als die Polizei feststellte, dass gegen Kurt noch eine Anzeige wegen Sachbeschädigung offen stand (er hatte das Bußgeld für die Graffitigeschichte nie bezahlt) und er schon einmal in Seattle wegen eines Alkoholdelikts festgenommen worden war, nahmen die Polizisten ihn in Gewahrsam; für die Kaution fehlte ihm das Geld. Die Zelle, in die man Kurt steckte, schien direkt aus einem alten Gangsterfilm zu stammen: Eisengitter, Betonboden, keine Lüftung. Auf seinem Aussageformular führte Kurt unter dem Punkt „gesundheitliche Probleme“ einen „schlimmen Rücken“ an, in seiner Selbstbeschreibung stand: „Neunzehn Jahre alt, einundsechzig Kilo, einhundertfünfundsiebzig Zentimeter, braunes Haar und blaue Augen.“ Er hatte sowohl bei der Größe als auch beim Gewicht übertrieben.

Mit dem einen Anruf, der ihm zustand, rief er Lamont Shillinger an und bat ihn, die Kaution für ihn zu zahlen. Lamont kam zu dem Schluss, dass seine Elternrolle Kurt Cobain gegenüber weit genug gegangen war und dass Kurt selbst zusehen sollte, wie er aus diesem Schlamassel wieder herauskam. Lamont besuchte ihn am nächsten Tag, und obwohl das gegen seine religiöse Überzeugungen ging, kaufte er Kurt eine Stange Zigaretten. Weil Kurt nicht in der Lage war, die Kaution aufzubringen, blieb er acht Tage im Knast.

Jahre später stilisierte Kurt um dieses Erlebnis eine Legende, die sowohl seine Intelligenz als auch seine Anpassungsfähigkeit zeigte. Während seiner Zeit im Knast, so Kurt, habe er pornografische Bilder als Onaniervorlagen für die anderen Häftlinge gezeichnet. Seine hausgemachten Pornos seien derart gefragt gewesen, dass er sie gegen Zigaretten eintauschen konnte, und es hätte nicht lange gedauert, da hätten sich die Zigarettenvorräte des ganzen Trakts in seiner Zelle angesammelt. Spätestens an diesem Punkt, so Kurts Geschichte, sei er „der Typ“ gewesen, „der den Laden schmiss“. Diese frei erfundene Geschichte traute er sich nur Leuten zu erzählen, die ihn nicht kannten; seine Freunde in Aberdeen erinnern sich noch heute, wie viel Angst Kurt all die Gefängnisfilme eingejagt hatten, die er über die Jahre gesehen hatte, und dass er die ganze Woche nicht ein einziges Wort mit einem seiner Mithäftlinge zu wechseln wagte.

Kurts Zeit bei den Shillingers neigte sich dem Ende zu. Er war nun ein Jahr lang bei ihnen gewesen, und mit seinen neunzehn Jahren – ein gutes Stück über das Alter hinaus, in dem ein junger Mensch selbstständig werden sollte – weder Blutsverwandter noch offizielles Pflegekind der Familie. Immer öfter stritt er sich mit Eric Shillinger, dessen Ansicht nach er nun wirklich lange genug bei ihnen gewesen war. Einmal fuhren die Shillingers ohne Kurt in einen Wochen­end-Kurzurlaub und mussten bei ihrer Rückkehr feststellen, dass Kurt irgendwie ihre beiden Hunde dazu gebracht hatte, auf Erics Bett zu kacken. Aber diese Schmähung war noch nicht einmal der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der fiel eines Abends im August 1986, als Eric und Kurt wegen einer Totino’s-Minipizza in Streit gerieten. Allen Berichten nach zu urteilen war dies die heftigste Auseinandersetzung, in die Kurt je in seinem Leben geraten war, er ging sogar mit einem massiven Stück Holz auf Eric los. „Ich habe Eric am nächsten Tag gesehen“, erinnerte sich Kevin Shillinger, „er hatte ein blaues Auge. Und Kurt hatte zwei.“ Kurt verließ das Haus noch am selben Abend, das Gesicht verschwollen, und zog sich in den Übungsraum der Melvins zurück. Am nächs­ten Tag gab er Steve zehn Dollar, damit der ihm seine restlichen Sachen bei den Shillingers abholte und zu Crovers Haus brachte. Kurts Leben schien nunmehr nach dem mittlerweile sattsam bekannten Schema Intimität – Konflikt – Ausweisung – Isolation abzulaufen.

Einer der wenigen Lichtblicke blitzte auf, als Krist Novoselic Interesse zeigte, eine Band zu gründen. Krist war einer der Ersten gewesen, denen Kurt sein Fecal-Matter-Tape anvertraut hatte. „Er hatte so ein kleines Demotape, auf dem auch ‚Spank Thru‘ war“, erinnerte sich Krist. „Ich fand, das war ein richtig guter Song.“ Krists Freundin Shelli Dilly war schon seit der Highschool mit Kurt befreundet, und die beiden boten Kurt an, er könne hinter dem Haus in Krists VW-Bus schlafen. „Ich sah immer zu, dass er genug Decken hatte, damit er uns nicht erfror“, sagte Shelli. Außerdem gab sie ihm umsonst etwas zu essen, wenn er bei dem McDonald’s vorbeikam, in dem sie arbeitete.

An einem Spätnachmittag Anfang September 1986 hörte Hilary Richrod, Bibliothekarin bei der Aberdeen Timberland Library, ein Klopfen an ihrer Haustür. Sie spähte durchs Schlüsselloch und sah einen hoch aufgeschossenen Jungen mit roten Augen und Kurt, den sie erkannte – er verbrachte des Öfteren seine Nachmittage in der Bibliothek, las oder schlief. Ihr war nicht recht wohl beim Anblick dieser beiden schrägen Typen vor ihrer Tür, in einer Stadt, in der Einbruch und Raub an der Tagesordnung waren. Trotzdem machte sie auf. Sie zuckte zusammen, als Kurt die Hand unter seine Jacke schob, aber was er da zum Vorschein brachte, war eine kleine Taube, deren Flügel gebrochen war. „Sie ist verletzt und kann nicht fliegen“, sagte Kurt. Einen Augenblick lang war Richrod völlig verdutzt. „Sie sind doch die Vogel-Lady, oder?“, fragte Kurt fast ungehalten. Doch, in der Tat: Richrod war die Vogel-Lady. Sie leitete in Aberdeen eine Organisation zur Rettung von Wildvögeln, aber für gewöhnlich riefen die Leute an, wenn es um einen verletzten Vogel ging. Noch nie war jemand einfach bei ihr zuhause aufgetaucht, schon gar nicht zwei bekiffte Teenager.

Kurt sagte, er habe die Taube unter der Young Street Bridge gefunden, und sie seien eine Viertelstunde gelaufen, um ihr den Vogel zu bringen. Woher die beiden wussten, dass sie die Vogel-Lady war, erfuhr Richrod nie. Auf jeden Fall sahen die Besucher aufmerksam zu, als sie das Tier zu versorgen begann. Auf dem Weg durchs Haus sahen sie eine Gitarre, die Richrods Mann gehörte, und Kurt hatte sie sofort in der Hand und begutachtete sie: „Eine alte Les Paul. Eine Kopie, aber eine sehr frühe Kopie.“ Er bot an, sie zu kaufen, aber Richrod sagte, sie sei nicht zu verkaufen. Einen Moment lang überlegte sie, ob die Jungs versuchen würden, sie zu stehlen.

Aber die interessierten sich für nichts weiter, als dass der kleine Vogel versorgt wurde. In der Küche sahen sie zu, wie Richrod vorsichtig den Flügel des Tiers bewegte, um festzustellen, wie schlimm er gebrochen war. „Er ist verletzt, oder?“, fragte Kurt. Richrod hatte zwei Nachtfalken in der Küche, die beiden einzigen Exemplare dieser Spezies, die es in Gefangenschaft gab, und sie erzählte den Jungs, die beiden Vögel hätten sogar schon in der Zeitung gestanden, in einer Titelgeschichte der Aberdeen Daily World.

„Ich spiele in einer Band“, erwiderte Kurt, so beiläufig, als sei das ohnehin allgemein bekannt. „Aber noch nicht mal ich komme auf die Titelseite der Daily World. Diese Vögel sind mir echt weit voraus.“

Der Himmel über Nirvana

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