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Drei Schwestern

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„Setz Dich zu mir und erzähl mir Deine Geschichte.“, bat ich Dich, in jener Nacht, als Du Dich zu mir setztest, zu verweilen, ein wenig. Und Du erzähltest mir Deine Geschichte:

„Meine Mutter war eine wunderschöne Frau, aber es war jene Art von Schönheit, die sich nicht aufdrängt, sondern in ihrer Schlichtheit gern übersehen wird. Doch sie war nicht nur schön, sondern auch weise. Nicht im Sinne von gebildet oder belesen, sondern sie hatte die Gabe sich in jeden hineinversetzen zu können, aber ohne das Umfeld aus dem Blick zu verlieren, so dass sie jedem richtig zu raten wusste, egal welches Problem es zu lösen galt oder welche Sorge plagte. Für die Leidenden und die Trauernden fand sie immer die richtigen Worte des Trostes. Diese Gabe konnte nicht lange geheim bleiben, so dass immer mehr zu ihr kamen ihren Rat oder ihren Trost zu erbitten – und sie wies niemanden ab, lies niemanden ungetröstet ziehen. Man sollte meinen, diese Menschen kämen nur ein einziges Mal und dann nie wieder, doch das Gegenteil war der Fall. Sie kamen immer und immer wieder und gewöhnten sich nach und nach daran sich bei ihr Rat zu holen, ja, sie gewöhnten sich so sehr daran, dass sie gar nicht mehr versuchten sich selbst zu helfen, sondern automatisch zu meiner Mutter kamen. Es dauerte wohl einige Zeit bis meine Mutter begriff, dass die Menschen immer abhängiger von ihr wurden. Ja, bei manchen war es so schlimm, dass sie nicht einmal mehr entscheiden konnten welche Schuhe sie anziehen sollten. Und meine Mutter wusste natürlich, dass das nicht gut war, für sie nicht, aber noch weniger für die Menschen, die sich von ihr helfen ließen, denn sie hörten auf ihrem eigenen Urteil zu vertrauen, hörten auf sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Sie hätte die Macht gehabt diese Menschen wie Marionetten zu benutzen, hätte sie es denn gewollt. Dabei war ihr einziges Ziel gewesen, diesen Menschen einen Anstoß zu geben, bloß einen kleinen Anstoß, woraufhin sie sich wieder selbst weiterhelfen sollten. Doch es hatte sich in die falsche Richtung entwickelt. So beschloss sie keine Ratschläge mehr zu geben und schickte die Menschen, die nach wie vor in Scharen zu ihr strömten, fort. Natürlich tat sie es nicht ohne Erklärung, doch niemand wollte sie verstehen. Das einzige, was sie aus den Worten meiner Mutter mitnahmen war, dass sie als Hilfesuchende abgewiesen wurden, dass sie nun wieder ganz allein mit ihren Problemen und Sorgen waren. So geschah es, dass die Zuneigung sich in Wut und Ablehnung wandelten, wie es wohl des öfteren geschieht. Nur einer blieb, und ließ sich auch nicht abweisen. 70 Tage und 70 Nächte saß er im Garten vor dem Haus meiner Mutter, bis er schließlich ihr Herz so sehr rührte, dass sie ihn aufnahm und heiratete, doch Rat hat sie keinem mehr erteilt.“

Sie hielt inne und sah hinauf zu den Sternen, als würde sie dort den Ansatz zum Fortgang ihrer Geschichte finden.

„Meine Mutter und mein Vater haben geheiratet, und so weit ich das beurteilen kann, müssen sie wohl glücklich gewesen sein, denn es gibt über die folgenden Jahre nichts weiter zu berichten, und es gibt nur eines, worüber man nicht berichten kann und das ist der Zustand des Glücks. Und es kann nur ein Zustand sein, das Glück, denn darin gibt es keine Entwicklung und kein Wachsen. Wozu auch? Man ist ja eigentlich schon dort, wo man hinwill. Meine Mutter und mein Vater waren also glücklich miteinander, so lange sie diesen Zustand aushielten, und als sie es eines Tages nicht mehr aushielten, beschlossen sie Kinder in die Welt zu setzen, denn das sollte ihre Liebe vervollkommnen. So sagt man wohl dazu. In Wahrheit ist es doch nichts weiter als das Leben wieder spüren zu wollen, herauszukommen aus dem vegetativen Sumpf des Glücks, zurück in die Ungeordnetheit und das Chaos, das wachsen und werden beinhalten, Leben, das unbezähmbar und unbegreiflich ist und bleibt, in seiner überbordenden Leidenschaft. Ein Wahn, ein Rausch, eine Ent-setztheit, die niemand auf Dauer erträgt, sodass man Phasen des Glücks einbauen muss um sich ein wenig zu erholen und auszuruhen, um wieder genügend Kräfte zu sammeln um das Leben wieder leben zu können. Das ist wohl auch gemeint, wenn man von jemandem sagt, er lebt schnell oder langsam. Da gibt es wohl Menschen, die in einer Woche so viel Leben verbrauchen wie andere in Jahren nicht, und immer noch nicht genug bekommen, immer noch geifern und gieren nach mehr Leben, immer mehr, dem Mehr als Alles, das sie nicht zu benennen wissen, und wohl auch nicht was das eigentlich sein soll. Manche suchen unermüdlich weiter, und andere – so wie meine Mutter und meine Vater – setzen eben Kinder in die Welt. Mindestens zwei sollten es sein, doch dann bekamen sie drei auf einen Schlag. Drillinge, drei Mädchen, Sophie, Sabrina und Sarah, wurden sie genannt, und nun, nun sollte ihr Glück vollkommen sein. Vielleicht hätte es so sein können, doch meine Mutter hatte wohl keine Zeit mehr über Glück oder dessen Abwesenheit zu philosophieren, denn ihr Tag wurde von da an von den Bedürfnissen dieser drei kleinen Mädchen bestimmt. Noch einmal hatte sie ihrem Leben eine völlig neue Ausrichtung gegeben, hatte eine Entscheidung getroffen, die wohl die ihre war, und auf die sie – wie sich herausstellte – doch keinen Einfluss hatte. Aber Rat, ja Rat hat sie keinen mehr erteilt.“

„Stattdessen hat sie uns großgezogen, mich und meine beiden Schwestern, und auch über diese Zeit gibt es eigentlich nicht viel zu berichten, nicht mehr und nicht weniger als es eben über die Alltäglichkeit zu berichten gibt. Statt Rat, schenkte sie uns Vertrauen zu unseren Entscheidungen und wohl auch den Mut diese durchzutragen, und so kam der Tag, an dem es sich erweisen sollte, die Wurzeln, ob sie Halt gefunden hatten, die Flügel, ob sie stark genug seien sich selbst im Sturm zu bewähren. Wir drei, wir gleichen einander wie ein Ei dem anderen, jedoch nur äußerlich, denn ansonsten sind wir so vierschieden wie Menschen nun mal verschieden sind. Sabrina sah ihr Talent darin Geschäfte zu betreiben. So begann sie, indem sie in unserer Heimatstadt einen Drogeriemarkt eröffnete. Mittlerweile besitzt sie etliche Filialen im ganzen Land und vielleicht auch schon im Ausland. Irgendwann habe ich den Überblick verloren. Wahrscheinlich, weil es mich nicht weiters interessierte, und auch, weil wir uns darüber aus den Augen verloren haben. Solch eine Expansion ist wohl nur mit 100%igem Einsatz zu erreichen, Einsatz, Fleiß und Beharrlichkeit. Ab und zu kam sie vorbei, doch jedes Mal musste sie auch schon wieder weg, kaum, dass sie angekommen war, wobei ich nicht einmal sicher bin, ob sie überhaupt ankommt oder sie nicht vielmehr mit den Gedanken und dem Interesse ganz woanders ist. Ich fragte sie ob sie glücklich sei, eines Tages. Ohne auch nur einen Moment zu zögern bejahte sie diese Frage, denn schließlich hatte sie ja das, was sie immer angestrebt hatte, und da könne es keinen Irrtum geben. Zeit für Freunde oder Familie habe sie natürlich nicht, doch sie habe etwas viel Verläßlicheres als die Gunst der Menschen, das Werk ihrer Hände und ihres Kopfes. Ob sie denn niemals einsam sei, wollte ich sie noch fragen, doch da läutete schon wieder das Telephon und sie musste weg. Vielleicht werde ich irgendwann die Gelegenheit haben sie zu fragen, all das, was ich nicht verstehe, und ich will verstehen, nicht irgendetwas, sondern sie. Es ist nicht mein Weg, den sie gegangen ist, nicht mein Bestreben all diese persönlichen Opfer, bei dem so vieles auf der Strecke bleibt. Sie ist reich und unabhängig, und doch auch arm und abhängig. Ist es möglich das durchzutragen, ein ganzes Leben lang? Ist sie wirklich glücklich, oder deckt sie sich absichtlich so derart mit Arbeit ein, dass sie keine Minute Zeit hat darüber nachzudenken? Aber vielleicht ist es auch der falsche Ansatz, die Frage nach dem Glück, und der richtige wäre einfach die Zeit zwischen Anfang und Ende so souverän wie möglich zu überbrücken, und nichts weiter. Nichts weiter!“

„Sabrina, die eine meiner beiden Schwestern, hatte sich also für die Karriere als Geschäftsfrau entschieden und darin ihre Erfüllung gefunden. Sarah, die andere meiner beiden Schwestern, konnte diesem Treiben wohl nur kopfschüttelnd zusehen, wenn sie denn überhaupt zusah, denn sie ist die Träumerin, die Romantikerin, die Phantasievolle. Alles was sie sah und wahrnahm war die Unmittelbarkeit. Jeder, der mit ihr zu tun hatte blühte auf und öffnete sich, er wusste nicht warum und fragte auch nicht. In ihrer Gegenwart kann man nicht anders als aus sich heraus zu gehen. Ihre Zuwendung ist Annahme, reinste, unverbaute Annahme. Sie sprüht vor Kreativität und Einfallsreichtum, vor hehren Ideen und Idealen. Der allerbanalste Gegenstand verwandelt sich in ihren Händen in ein Kunstwerk. Und doch lebt sie in ihrer eigenen Welt, in der sie jeden willkommen heißt, die sie selbst jedoch nie verläßt. Bunt und prächtig ist diese Welt, doch weit ab alles Praktischen und Vernünftigen. Es war auch nicht notwendig, denn sie wurde von einem Mann gefunden, der ihr dies alles abnahm und sie sein ließ wie sie war. Was für ein Segen jemanden zu finden, der einen genau so nimmt wie man ist, mehr noch, der einen darin befördert immer mehr selbst zu werden. Ich denke, sie kann gar nicht anders als in allem nur das Schöne und Kunstvolle zu sehen. Alles andere blendet sie aus. Beseelt von einer schier unerschöpflichen Kraft und Intensität, erfindet sie sich jeden Tag neu. Mit ihren Kindern wuchs sie, hinein in die Märchen- und Phantasiegestalten, und es war mir, als würde sie mit ihnen ihr Leben nochmals neu leben. Finanziell und emotional hat sie sich in die völlige Abhängigkeit begeben und kostet in vollen Zügen, die Höhen und Tiefen, die Selbstverströmung und Selbstverstrickung. Das Feuer in ihr brennt, doch es wärmt und verbrennt gleichermaßen. Sie atmet und erstickt, sie fliegt und sie fällt, sie tanzt und sie zittert, von einem auf den anderen Moment. Es kann sein, dass sie einbricht wie ein Wirbelwind, wenn sie kommt, um kurz darauf völlig entkräftet dazusitzen. Und auch sie habe ich gefragt, ob sie denn glücklich sei, und in einem Moment war sie grenzenlos glücklich, um im nächsten ebenso grenzenlos unglücklich zu sein. Woher nur nimmt sie die Kraft sich so rücksichtslos zu verschenken? Ist es der Sinn, Geschenk zu sein, bis man sich völlig ausgezehrt hat? Bis zu den Grenzen, und weit darüber hinaus!“

„Sabrina war also Geschäftsfrau geworden und Sarah Künstlerin. So hatten sie ihren Weg gefunden, und waren ihn gegangen, wohl jede auf die ihr eigene Weise, aber sie hatten eines darin gemeinsam, die Konsequenz und das Durchhaltevermögen. Sabrina ist die Frau der Zahlen, Sarah die der Bilder und Farben. Niemals, so mein Eindruck, sahen sie zurück und niemals wäre etwas anderes denkbar, ja nicht einmal vorstellbar gewesen als eben jener Weg, den sie gegangen sind. Ich gebe es unumwunden zu, ich bewunderte, ja mitunter beneidete ich sie wohl auch für diese Gewißheit und Zweifelsfreiheit. In all ihrer selbstgewählten Abhängigkeit hatten sie mir diese eine Freiheit voraus, die Freiheit sich innerhalb der Grenzen ihrer Entscheidung zu bewegen. Doch ich, ich habe diese Entscheidung für mich nie getroffen. Eine Zeit lang bewegte ich mich im Wissenschaftsbereich. Alle waren zufrieden mit mir, nur ich nicht, denn sehr bals schon stieß ich an die Grenzen der Wissenschaftlichkeit, des wissentlich Fassbaren. So eng ist der Kreis dessen was wägbar, messbar, fassbar ist, und ich wollte darüber hinaus und stellte mich damit ins Aus. So entschloss ich mich dazu das Leben zu fassen, richtig, ehrlich, kompakt. Ich wollte berühren und greifen, spüren und atmen. Also wurde ich Gärtnerin. Das bedeutet wirklich anzupacken und mittendrin zu sein, verbunden zu sein mit der Erde und all dem, was die Erde uns schenkt. Darin war ich recht zufrieden, eine Zeit lang, denke ich. Naturverbundenheit und Freiheit, erlebte ich hier, doch auch das war mir mit der Zeit zu wenig. Natürlich, auch das war eine Verantwortung, doch es kam keine Resonanz. So begann ich mich abermals auf den Weg zu machen mir eine neue Aufgabe zu suchen und fand sie im sozialen Engagement, arbeitete mit alten Menschen und mit Sandlern, und stellte mich mit ihnen an den Rand der Gesellschaft, die nur das Jugendliche, Erfolgreiche und Schöne sehen will, und alle an den Rand drängt, die das Bild stören und keine Konsumenten sind. Ich ließ mich hinein- und hinunterziehen, ließ mich ein, bis ich wirklich einer von ihnen war, doch als ich an diesem Punkt angelangt war, merkte ich, ich war ihnen keine Hilfe mehr, nur mitleidend. So raffte ich mich noch einmal auf und versuchte mich dort zu engagieren, wo die Rahmenbedingungen für all diese Menschen verbessert werden könnten, in die Politik, doch von dem wandte ich mich am schnellsten wieder ab, denn nirgendwo sonst wird so sehr auf den eigenen Vorteil geachtet, nirgendwo sonst so wenig an andere und deren Bedürfnisse gedacht. Und jetzt, jetzt bin ich hier, und blicke auf einen bunten Teppich aus Erfahrungen zurück, einen einzigen Flickenteppich, und weiß immer noch nicht wo ich hingehöre oder was mein Talent ist.“, und damit schloss sie ihre Erzählung. Ich hatte aufmerksam zugehört und verstanden. „Steh auf, tritt ein paar Schritte zurück, und dann sieh noch einmal auf Deinen Lebensteppich.“, forderte ich sie auf. „Du hast recht, da taucht plötzlich ein Weg, ein durchgehender, erkennbarer, wohl recht verschlungener, aber doch ein Weg, umrahmt von vielen bunten, lebendigen Bildern.“, entdeckte sie plötzlich, „Aber dennoch, warum hat sie mir nicht einen Rat mitgegeben, meine Mutter?“, fügte sie nachdenklich hinzu. „Weil Du niemandem raten kannst, denn Deinen Weg kannst nur Du finden, denn auch nur Du kannst ihn gehen.“, antwortete ich. „Aber welcher ist meiner?“, fragte sie. „Lass Dich führen, durch Deine Offenheit und Deine Neugierde, und Du wirst einen Platz finden um zu bleiben.“, antwortete ich. „Dann schickst Du mich fort?“, fragte sie. „Ja, ich schicke Dich fort, aber komm wieder, wenn Du angekommen bist.“, sagte ich, und sah ihrem Fortgang noch lange nach.

Komm, setz Dich zu mir ...

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