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Kapitel 2

Schlager, YPS und Eierlikör

März 2009

Eddi kommt endlich aus dem Gefrierfach. Nach den bitterkalten ersten zwei Monaten des Jahres ist es heute sonnig und warm, der Boden aufgetaut und weich. Nur Eddi ist noch immer steif gefroren. Ich lasse ihn aus der Vanilleeis-Schachtel in sein Grab rollen. Wir legen Möhren neben ihn, weil er die so gerne mochte. Ich schaufele alles zu und die Mädchen halten eine kurze Rede. Bei den Worten „Papas treuer Freund“ und „Hamsterhimmel“ werden meine Augen feucht. Am Ende liegen wir uns in den Armen und weinen. Wegen eines Hamsters? Ja, genau! Und wegen der Traurigkeit. Für meine Töchter war es der erste Verlust in ihrem Leben, die erste Begegnung mit dem Tod.

Eine Boa Constrictor sollte künftig in Eddis Zuhause wohnen. Zwei Meter lang, fünfzehn Kilo schwer.

„Was frisst die?“, frage ich die beiden Schlangenliebhaber, die sich auf meine Kleinanzeige gemeldet haben und das Terrarium abholen. „Ratten ... ... oder Hamster“, sagt der eine und grinst.

„Und wie viele?“

„Jeden Monat eine.“

„Aber keine lebende“, ergänzt der andere.

„Wie praktisch“, sage ich und halte ihnen die Haustür auf. Weitere Einzelheiten will ich nicht wissen und bin froh, dass mit dem Verkauf des Terrariums das Kapitel Hamster ein für alle Mal geschlossen ist. Auch meine Töchter haben ein Einsehen und versuchen erst gar nicht, ein weiteres Haustier in mein Leben zu schleusen.

Stattdessen: eine Spielekonsole. „Eine Spielekonsole?“, werden nun alle fragen, die mich kennen. Computerspiele sind nämlich nicht mein Ding. Das wissen auch meine Töchter und haben die Sache deshalb ganz schön raffiniert eingefädelt. Als ich sie an einem Freitagnachmittag abhole, fragt die Große: „Papa, können wir morgen einen neuen Sonntagsfilm kaufen gehen?“

„Bitte, Papa“, sagt die Kleine und schaut mich dabei mit ihren großen blauen Augen an.

Damit haben sie mich, und wir fahren am nächsten Tag in den Elektromarkt. Doch anstatt direkt in die Filmeabteilung zu gehen, zerren sie mich in die Ecke mit den Spielekonsolen und starten ein Karaoke-Spiel. Wir singen Schlager der 70er-Jahre und haben jede Menge Spaß dabei.

Ich muss es zugeben: Das ist genau mein Ding. Bei den Kulthits komme ich in Party-Stimmung. Ich besitze sogar einige CDs mit alten Schlagern. Die höre ich beim Putzen. Lauthals mit Jürgen Marcus „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ singend, feudele ich den Boden oder schwinge den Putzlappen zu „Ein Bett im Kornfeld“. Und bei Howard Carpendales „Ti amo“ sauge ich mich in Extase.

Zurück in den Elektromarkt: Ich kaufte die Konsole mit allem, was dazugehört. Wenn nämlich deine fünfjährige Tochter mit einem großen Mikrofon in der Hand Gitte Haennings „So schön kann doch kein Mann saaeeiiiiiiiin, dass ich ihm lange nachwaaeeiiiiiiin“ singt, wirst du schwach. Garantiert! Zuhause verwandelten wir noch am selben Nachmittag das Wohnzimmer in ein Karaoke-Studio.

Du musst wissen: Als Kind der 70er wurdest du zwangsläufig Schlagerfan. Wir hatten damals ja nichts anderes. Der Höhepunkt der Woche war der Samstagabend vorm Fernseher. Nach dem Baden saß ich in meinem orangefarbenen Frottee-Schlafanzug vor der Glotze und drang mit Mr. Spock in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Danach fieberte ich mit den Kandidaten bei Rudi Carrells „Am laufenden Band“ oder sang zur ZDF-Hitparade. Wenn Dieter Thomas Heck uns zur Anfangsmelodie der Sendung mit „Hier ist Berlin! Hier ist wie immer ihre deutsche Hitparade!“ begrüßte, war die Welt in Ordnung. Und wenn Wencke Myhre mit „Lass mein Knie, Joe, mit uns klappt das nie, Joe“ die deutsche Version des Bonnie-Tyler-Hits „It’s a Heartache“ sang, ging die halbe Nation von einer 1:1 Übersetzung des Originals aus.

So war das in den 70ern. Wir aßen versalzenen, rot gefärbten Fisch und schwarz gefärbte Fischeier und hielten es für echten Lachs und Kaviar. Exotische Gerichte waren damals russische Eier, Toast Hawaii und Krabbencocktail.

Es war scheinbar eine unbeschwerte Zeit. Es gab drei Fernsehprogramme und kein Internet. Das Telefon mit Schnur stand im Flur und einen Shitstorm gab es höchstens am Stammtisch, wenn der Wirt die letzte Runde einläutete.

In den 70ern durften auch wir Kinder ab und zu Alkohol trinken. Ein Glas Sekt war an Silvester selbstverständlich und bei meiner Oma gab es kein Vanilleeis ohne Eierlikör. Sie schlug jedes Mal mit der flachen Hand auf den Flaschenboden und mit einem Bluubbpp ergoss sich danach ein großer Schwall übers Eis. Meine ersten Erinnerungen daran, da dürfte ich so drei, vier Jahre alt gewesen sein… aber wahrscheinlich hat sie mir das schon viel früher verabreicht. Stell dir vor: Bis zum Tod meiner Oma wusste ich überhaupt nicht, wie Vanilleeis pur eigentlich schmeckt.

Meine andere Oma schenkte mir jedes Jahr zu Weihnachten Weinbrand-Bohnen. Die kaufte sie immer im Sommer, wenn sie im Angebot waren. An Weihnachten waren sie dann meist grau und eingetrocknet. Die hat niemand von uns gerne gegessen. Wir haben sie jedes Mal ungeöffnet in den Schrank gelegt und irgendwann dann weitergeschenkt. Du musst wissen, das ging damals noch, denn es gab ja kein Haltbarkeitsdatum. Ich nehme an, diejenigen haben sie dann wieder weitergeschenkt und so weiter und so weiter. Es könnte also sein, dass die Weinbrand-Bohnen meiner Oma heute noch im Umlauf sind.

Neben der Hitparade, Raumschiff Enterprise und Pril-Blumen, mit denen ich unser Zuhause verschönerte, gab es für mich Woche für Woche ein weiteres Highlight: YPS mit Gimmick. Jeden Montag ging ich mit meinem Taschengeld zum Kiosk und kaufte das Comic-Heft. Mit YPS züchtete ich Urzeitkrebse, pflanzte Eierbäume und wurde Detektiv. Das Motto des Heftes „erst lesen, dann basteln“ ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Jede Gebrauchsanleitung lese ich deshalb heute sehr sorgfältig durch.

Auch meine Leidenschaft für die Zauberkunst wurde durch YPS geweckt. Es gab damals in fünf oder sechs Heften hintereinander jeweils einen Zaubertrick. Ich erinnere mich noch genau an die FingerGuillotine, bei der der Finger heil blieb, der Kaugummistreifen darunter jedoch durchtrennt wurde. Wahnsinn! Seitdem wollte ich Zauberer werden, wollte dem geheimnisumwobenen Magischen Zirkel angehören, mich mit anderen Zauberern verbünden und die Welt verblüffen. Ich besorgte mir alles über Zauberei, was ich bekommen konnte. Viel war das damals nicht: ein paar Bücher mit Kartentricks und anderen Kunststücken. Ich übte und übte. Später kam ich durch den Kontakt mit anderen Zauberern an neues Material. Ich studierte intensiv die Kunst der Täuschung und trat bei jeder Gelegenheit auf. Mit Anfang 20 machte ich die Aufnahmeprüfung des Magischen Zirkels und wurde Mitglied. Ich hatte es tatsächlich geschafft: Ich war einer von ihnen, ein echter Zauberer.

In den 70ern wurde vermutlich auch der Grundstein für meinen späteren Beruf gelegt. Ich bin in der Nähe einer Brauerei aufgewachsen und es roch beinahe jeden Tag nach Malz. Ich liebte den Geruch. Später studierte ich Brauwesen. Doch davon ein anderes Mal mehr. Hier soll es schließlich um meine Erlebnisse beim Online-Dating gehen. Und genau davon will ich dir jetzt erzählen. Also zurück ins Jahr 2009.

Ein Hamster gegen Einsamkeit

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