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Das Adjektiv „göttlich“

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Seit den Pyramidentexten des Alten Reiches wird einer großen Anzahl von Wesen und Dingen die Eigenschaft „göttlich“ beigelegt, teils durch das Adjektiv, teils durch ein entsprechendes Eigenschaftsverbum „göttlich sein“ (netjeri) ausgedrückt. Natürlich kommt diese Eigenschaft allen Gottheiten zu, aber wie bei sechem gibt es Gottheiten, die in höherem Maße „göttlich“ sind als die anderen; vor allem die Göttin Isis ist „die Göttliche“ schlechthin, ist „groß im Göttlichsein“,76 aber „göttlicher Gott“ kann seit dem Neuen Reich auch der Schöpfer sein.77 Überblickt man im „Wörterbuch der ägypt. Sprache“ (II 363f.) die Skala der Personen und Dinge, die „göttlich“ sein können, dann fehlt eigentlich nur der lebende Mensch. Heilige Tiere, heilige Gegenstände und selige Verstorbene werden oft und gern „göttlich“ genannt, aber die Distanz zwischen den Lebenden auf Erden und den Göttern bleibt auch hier, in der Terminologie, gewahrt. Selbst der regierende König, der ja von seiner Titulatur her als „Vollkommener Gott“ gilt und zahllose göttliche Epitheta trägt, erhält nur in seltenen Ausnahmefällen das Adjektiv „göttlich“.

Das trifft auf Hatschepsut zu, die bei der Heimkehr der großen Handelsexpedition, welche sie in das ferne afrikanische Weihrauchland Punt entsandt hatte, von den versammelten Untertanen „in den Wesenszügen (zepu) ihres Göttlich-Seins“ (Urk. 340,5) und „wegen der Größe des Wunderbaren, das ihr zuteil geworden ist“ (ibid. 340, 6) verehrt wird. Es ist kein alltäglicher Anlaß, keine beliebige Handlung der Königin, sondern ein feierlich-gehobener Augenblick, in dem ihr Göttlich-Sein aller Welt offenbar wird: die nahe Erfüllung ihres Gelübdes an den Götterkönig Amun, seinen Terrassentempel zu einem Weihrauchland mitten in Ägypten zu machen. „Beste Myrrhen waren auf allen ihren Gliedern ... ihr Duft vermischte sich mit dem (göttlichen Wohlgeruch) von Punt ... ihre Haut war vergoldet mit Weißgold und leuchtete, wie es Sterne tun, im Inneren der Festhalle, angesichts des ganzen Landes“; durch den göttlichen Wohlgeruch und durch den goldenen Glanz, die beide von den Göttern ausstrahlen, erweist sich die regierende Königin als „göttlich“. Es scheint daher – klare Belege wie dieser sind selten – diese eigentümliche, den Menschen spürbare Ausstrahlung zu sein, die menschliche Personen, Tiere oder heilige Gegenstände zu „göttlichen“ Wesenheiten macht. In einem anderen Fall wird Ramses III. von seinen Töchtern als „göttlicher König“ verherrlicht (Medinet Habu VIII 636, 1–2).

Göttlich-Sein ist somit keine Frage der Definition, der Festlegung durch einen abstrakten Lehrsatz, sondern ausstrahlende Wirkung, die unmittelbar wahrgenommen wird und nicht nur den Göttern selbst zu eigen ist, sondern auch ihren Abbildern und Manifestationen. Darüber sei nicht vergessen, daß netjeri ein Nisbe-Adjektiv mit der Grundbedeutung „zu (einem) Gott gehörig“ ist und daher neben dem eigentlichen „göttlich“ von Fall zu Fall auch andere Bedeutungsnuancen besitzen kann.

Dieses Göttlich- oder Gottgehörig-Sein ist stets eine Eigenschaft, die personal aufgefaßten Göttermächten und ihren Ausstrahlungen zukommt, es ist niemals zu einem Abstraktum, einem personifizierten Begriff hinter, über oder neben den Göttern geworden. „Göttliches“ schlechthin hat es, losgelöst von den konkreten Göttergestalten, für den Ägypter nicht gegeben – ein Grund für uns, diesen neutralen Begriff in der ägyptischen Religion mit äußerster Zurückhaltung zu verwenden oder, noch besser, ganz auf ihn zu verzichten.

Damit verlassen wir zunächst die ägyptische Terminologie, die uns zu ersten klärenden Einsichten verholfen hat. In den Kern unserer Frage konnte sie uns noch nicht führen. Um ägyptische Gottesvorstellungen deutlicher hervortreten zu lassen, bedarf es der Wendung auf die Wirklichkeiten, für welche die Terminologie einstmals geschaffen wurde. Wie bei jeder einzelnen Gottheit, so können wir bei den Gottheiten insgesamt versuchen, ihr Wesen nach den drei Kriterien in Platons 7. Brief (342 AB) zu bestimmen: onoma, logos und eidolon, die zusammen die episteme, die rechte Erkenntnis und Einsicht in das Wesen unseres Gegenstandes ergeben. Wir betrachten daher, in etwas anderer Reihenfolge, zunächst die Götternamen, dann das Bild, das der Ägypter sich von den Göttern gemacht, und die Form, in der er sie dargestellt hat, schließlich die Textaussagen über Eigenschaften, Wesen und Wirken der Götter.

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