Читать книгу "Nimm und iss ..." - Eugene H. Peterson - Страница 8

Vorwort

Оглавление

An einem Samstag im Oktober holte meine Frau unseren 7-jährigen Enkel von der Holy Nativity Church ab. Hans hatte dort den Unterricht zur Vorbereitung auf seine Erstkommunion besucht. Sie stiegen ins Auto und machten sich auf den Weg zu einem Museum in der Nähe, wo gerade eine Ausstellung für Kinder zum Thema Edelsteine gezeigt wurde. Unterwegs hielten sie an, um in einem kleinen Park zu essen. Während sie auf der Bank saßen und ihre Brote verspeisten, plapperte Hans ohne Unterlass – so ging das bereits, seitdem sie das Kirchengebäude verlassen hatten.

Nachdem alles aufgegessen war – im Fall von Hans ein Brot mit Salat und Mayonnaise, von ihm selbst belegt („Ich versuche mich gesund zu ernähren, Oma“) –, rückte er etwas von seiner Großmutter ab, blickte in den Park hinaus, holte ein Neues Testament aus seinem Rucksack, das er gerade erst vom Gemeindepfarrer bekommen hatte, öffnete es, hielt es sich vor die Augen und fing an zu lesen. Dabei bewegten sich seine Augen in andächtiger, aber für ihn untypischer Stille über die Seiten. Nach einer langen Minute machte er das Buch zu und steckte es wieder in den Rucksack. „Okay, Oma. Ich bin fertig – auf ins Museum.“

Seine Großmutter war beeindruckt und belustigt zugleich, denn Hans kann noch nicht lesen. Er will lesen können. Seine Schwester kann lesen. Und sogar einige seiner Freunde können es, aber Hans kann nicht lesen. Er weiß auch, dass er nicht lesen kann. Und manchmal weist er uns sogar darauf hin: „Ich kann nicht lesen.“ Es scheint dann, als wollte er uns in aller Deutlichkeit sagen, was ihm entgeht.

Wie also „las“ er an diesem Herbstsamstag im Park sein Neues Testament?

Als meine Frau mir später diese Geschichte erzählte, war ich genau wie sie beeindruckt und belustigt zugleich. Aber einige Tage später war diese Geschichte in meiner Vorstellung zu einer Parabel geworden. Ich steckte damals mitten in der Arbeit an diesem Buch, einer intensiven Beschäftigung mit dem geistlichen Lesen, und es fiel mir schwer, mir meine zukünftigen Leser vorzustellen. Vor meinem inneren Auge verschwammen sie zu einer gesichtslosen Masse aus Bibellesern und Nicht-Bibel-Lesern, Bibellehrern und Bibelpredigern. Gibt es ein Hindernis, das uns allen im Weg steht, sobald wir unsere Bibeln in die Hand nehmen und sie öffnen? Ja, meiner Meinung nach schon. Hans hatte es mir gezeigt.

Als ich ungefähr so alt war wie Hans, bin ich ins Bibel-Lese-Geschäft eingestiegen. Zwanzig Jahre später wurde ich Pastor und Professor. Nun beschäftige ich mich seit mehr als fünfzig Jahren beruflich damit, den biblischen Text in die Köpfe und Herzen, Arme und Beine, Ohren und Münder von Männern und Frauen zu befördern. Und es fällt mir nicht leicht. Warum ist das nicht leicht?

Die Erklärung ist einfach. Wenn es um den biblischen Text geht, gibt es eine ganz besondere Herausforderung, nämlich sicherzustellen, dass er gelesen wird. Und zwar zu seinen eigenen Bedingungen: als göttliche Offenbarung. Oberflächlich betrachtet scheint das die einfachste Aufgabe der Welt zu sein. Nach fünf oder sechs Jahren Unterricht, der durch den finanziellen Beitrag von uns allen möglich wird, können die meisten von uns lesen, was in der Bibel steht. Besitzt man selbst keine Bibel und kann man sich auch keine leisten, dann hat man die Möglichkeit, sich in nahezu jedem Hotel des Landes eine zu stehlen. Dabei muss man nicht einmal mit einer Anklage rechnen. Wer wurde in diesem gerechten Land jemals wegen des Diebstahls einer Bibel festgenommen?

Doch scheinbar gibt es inmitten der geschäftigen Betriebsamkeit eines christlichen Lebens viele Aspekte, die vernachlässigt werden. Einer scheint davon aber ganz besonders betroffen zu sein, und er hat mit der Frage zu tun, wie die Bibel gelesen wird. Das heißt nicht, dass Christen keine Bibeln haben oder nicht darin lesen. Auch nicht, dass Christen bezweifeln, dass ihre Bibeln Gottes Wort sind. Was vielmehr zu kurz kommt, ist das prägende Bibellesen. Lesen, um zu leben.

Hans sitzt auf seiner Parkbank. Seine Augen bewegen sich über die Seiten seiner Bibel, er „liest“ und liest doch nicht, er ist ehrfürchtig und andächtig, doch er versteht nichts. Auf eine höchst liebevolle Art gibt er diesem Buch die Ehre, doch ohne das Bewusstsein, dass es irgendetwas zu tun hat mit dem Salat-Mayonnaise-Sandwich, das er gerade gegessen hat oder dem Museum, das er besuchen wird, oder der Gegenwart seiner Großmutter neben ihm. Hans „liest“ seine Bibel. Eine Parabel.

Eine Parabel darüber, wie die Bibel zu einem Objekt entpersönlicht wird, dem man die Ehre erweist; die Bibel, abgekoppelt von Ursache und Wirkung, von Mittagessen und Museum; die Bibel in einem Park, weit entfernt vom Alltag der Straße, ein Text auf einem Podest, abgeschirmt vom Lärm und Dieselgestank der 40-Tonner durch eine weitläufige, gepflegte Rasenfläche.

Es ist das Werk des Teufels, wenn er fortsetzt, was jetzt noch reizend und unschuldig an Hans ist. Hans bleibt dann sein Leben lang ein andächtiger, aber gleichgültiger Leser.

Dem Teufel entgegenzuwirken heißt, meine ich, die Bibel angemessen und sorgfältig zu lesen. Und das bedeutet, dass wir sie gleichzeitig auch leben. Sie zu leben ist dabei nicht die Bedingung für das Lesen und auch nicht dessen Folge. Vielmehr leben wir die Bibel, während wir sie lesen, erleben die Wechselwirkung zwischen Leben und Lesen, Körpersprache und gesprochenem Wort, das Geben und Nehmen, welches das Lesen zum Leben und das Leben zum Lesen macht. Die Bibel lesen und das Wort leben lassen sich nicht voneinander trennen. Vielmehr ist das Lesen ein fester Bestandteil des Lebens. Das bedeutet, dass wir einem anderen ein Mitspracherecht einräumen bei allem, was wir sagen und tun. So einfach ist das. Und so schwer.



Подняться наверх