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Die Stadt des Herodes

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Zweifellos war es für Paulus ein tief greifender Entschluss, seinen Eltern Lebewohl zu sagen. Er verließ die vertraute Umgebung einer Provinzstadt, um für lange Zeit in einer Stadt mit einer reichen Geschichte und einer anderen dominanten Kultur zu leben, wo das kleinste Ereignis dazu führen konnte, dass sich die immer vorhandenen Spannungen entluden. Für einen Juden, der die Gesetze der Vorväter befolgen wollte, war Jerusalem jedoch das Ziel seiner Wünsche.

Paulus machte sich gut vorbereitet auf den Weg. Von Mitbürgern, die in Jerusalem gewesen waren, hatte er gehört, dass es verschiedene Möglichkeiten gab, dorthin zu kommen. Er konnte im Hafen von Tarsus an Bord eines kleinen Küstenschiffes gehen, das mehrere Häfen, Sidon vielleicht und Tyrus, ansteuerte, bevor es im großen Hafen von Caesarea anlegte, von wo aus Jerusalem nicht mehr weit entfernt war. Auch eine kombinierte Reise war möglich. In diesem Fall folgte er der Straße nach Antiochia und buchte in der Hafenstadt Seleukia die Überfahrt auf einem Schiff nach Caesarea. Ich denke allerdings, er wird das Meer außer Acht gelassen haben und dem Beispiel vieler Pilger gefolgt sein, die Jahr für Jahr nach Jerusalem reisten, um dort das jüdische Paschafest zu feiern: Er wird den Landweg genommen haben, und zwar nicht in einem Wagen, sondern zu Fuß. Für den jungen Paulus, einen Mann in der Blüte seines Lebens, können die 800 Kilometer kein Problem gewesen sein. Wenn wir annehmen, dass er im Schnitt täglich 20 Kilometer zurücklegte, wird er für die Reise nach Jerusalem sechs Wochen gebraucht haben. Er durchwanderte die kilikische Ebene, um zur syrischen Pforte – einem Pass durch das Amanusgebirge – zu gelangen; von dort lief er nach Antiochia am Orontes hinunter. Schließlich ging es über hügeliges Gelände nach Süden. Sein Weg führte ihn größtenteils über |38|Straßen, die die Römer angelegt hatten, um ihre Truppen schnell in Regionen aussenden zu können, in denen Unruhen ausgebrochen waren. Sie wurden jedoch auch von Handelskarawanen genutzt, von einzeln reisenden Händlern und vielen anderen, die ihre Reise aus den verschiedensten Gründen angetreten hatten.

Je mehr er sich Galiläa und Judäa näherte, desto deutlicher wird ihm aufgefallen sein, dass mancherorts kaum noch etwas an die alten biblischen Geschichten erinnerte, von denen er in der Toraschule erfahren hatte. Vieles von dem, was jahrhundertelang den Orten ihre Prägung verliehen hatte, war durch die großen Monumente der Makedonen, Griechen und Römer verdrängt worden. Spätestens, als er Caesarea erreichte, die von Herodes angelegte Hafenstadt, muss er sich gefragt haben, ob er tatsächlich im Land seiner Vorväter unterwegs war.

In Tarsus war ihm beigebracht worden, dass die Geschichte der Juden weiter zurückreichte als die der anderen Völker. In den Geschichtsbüchern der Juden, in denen Geschichtsschreibung und Erzählkunst miteinander vermischt waren, hatte er gelesen, dass ihre Herkunft bis in die graue Vorzeit zurückverfolgt werden konnte – bis auf Erzvater Abraham, der auf Geheiß Gottes aus Ur in Mesopotamien ins gelobte Land Kanaan gekommen war. Dort hatten er, sein Sohn Isaak und sein Enkelsohn Jakob an verschiedenen Orten gelebt. Als eine Hungersnot über das Land hereinbrach, zogen Jakob und seine zwölf Söhne nach Ägypten. Zunächst wurden sie dort freundlich aufgenommen, doch nach einiger Zeit änderten die Ägypter ihre Haltung und versklavten die Nachkommen Jakobs. Für eine lange Zeit, vielleicht über vier Jahrhunderte, blieben sie in ägyptischer Gefangenschaft. Dann befreite Gott sie aus der Sklaverei und berief Mose, sie in ihr Land zurückzuführen. Mose starb, bevor er das gelobte Land erreichte, doch sein Nachfolger Josua führte sein Volk nach Kanaan. Er verwüstete die Städte, tötete die Bewohner und nahm das Land in Besitz. Zu dieser Zeit traten die Juden zum ersten Mal als „Volk“ auf, auch wenn damals noch von zwölf gesonderten Stämmen gesprochen wurde. Als sie gegen Ende des 2. vorchristlichen Jahrtausends von Nachbarvölkern und Stämmen, die bereits zuvor in Palästina gelebt hatten, angegriffen wurden, stellten sie sich unter charismatische religiöse Führer, die „Richter“, die nicht nur im Kampf gegen die Feinde die Führung |39|übernahmen, sondern die Israeliten auch dazu anhielten, die Gebote Gottes zu befolgen. So ist es zumindest im Tanach zu lesen.

Vor allem über Jerusalem wird Paulus sich gewundert haben. Von seinen jüdischen Lehrmeistern hatte er viel über die Stadt Davids und Salomos gehört und über die sehr weit zurückreichende Geschichte der Stadt war er bestens informiert. Ihre Anfänge gehen bis mindestens ca. 1800 v. Chr. zurück, denn schon in einem ägyptischen Ächtungstext aus dieser Zeit ist der Name Jerusalem zu lesen. In der Bibel kommt der Name erst später vor. Die erste Erwähnung dieses Namens findet sich im Buch Josua (10, 1); im weiteren Verlauf des Textes wird die Stadt Jebus genannt. In 2 Samuel 5, 7 wird die Stadt, die David (vermutlich zu Beginn des 10. Jahrhunderts v. Chr.) eroberte und zur Hauptstadt des Bündnisses der zwölf Stämme, die unter seiner Macht standen, erhob, als Sion bezeichnet. Sogleich setzte der junge König ein großes Bauprogramm in Gang und erweiterte die kleine Stadt, die bis dahin ein Areal von nicht mehr als fünf Hektar belegt hatte, in nördlicher Richtung zum Tempelberg hin.

Den Erzählungen im ersten Buch der Könige zufolge hatte Davids Sohn und Nachfolger Salomo die Grenzen der Stadt noch weiter nach N orden verlegt und ihr zu einem weltstädtischen Charakter verholfen. Jerusalem wurde zur Hauptstadt eines prosperierenden Reiches, das sich von den Grenzen Ägyptens bis über Damaskus und vom Mittelmeer bis über den Jordan hinaus erstreckte. Durch den Bau des Tempels in Jerusalem, in dem alle Gottesdienste gehalten wurden, trug Salomo erheblich zur weiteren Entwicklung des Gedankens bei, dass JHWH der einzig wahre Gott war. Binnen acht Jahren wurde der Bau des Heiligtums vollendet. Der Tempel war sowohl eine königliche Kapelle als auch ein Nationalheiligtum. Ein großer Teil des Baumaterials, vor allem Zedernholz, wurde von König Hiram von Tyrus geliefert. Das Heiligtum wurde von 30.000 Arbeitern aus Israel und Phönizien erbaut. Zusammen mit dem beeindruckenden Palastkomplex machte der Tempel Jerusalem in der ganzen Welt des Nahen Ostens berühmt.

Paulus wusste, dass sich in den letzten Jahren von Salomos Regentschaft Gegensätze zwischen dem Norden und dem Süden aufgetan hatten und dass das Reich nach dessen Tod in zwei selbstständige Staaten zerfallen war: das kleine Königreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem und das |40|fruchtbare und dichter bevölkerte Israel mit der Hauptstadt Samaria. Als Reaktion auf die fremden Einflüsse, denen insbesondere Israel ausgesetzt war, waren Propheten hervorgetreten; von JHWH inspiriert, mahnten sie das Volk und die Könige, sich an die Gebote ihrer Vorväter zu halten, und schilderten das Unheil und die Katastrophen, die JHWH andernfalls über sie kommen lassen werde. Doch auch sie hatten den Niedergang des Nordens nicht aufhalten können. Die Assyrer hatten die Hauptstadt Samaria eingenommen und einen Teil der Bevölkerung deportiert. Juda aber sollte noch mehr als ein Jahrhundert lang fortbestehen; in dieser Zeit der religiösen Vertiefung nahmen monotheistische Gedanken weiter Gestalt an. 587 v. Chr. wurde auch diesem Reich ein Ende gesetzt. Der babylonische König Nebukadnezar griff Jerusalem an, verwüstete die Stadt, machte den Tempel dem Erdboden gleich und führte einen Teil der Bevölkerung in die Gefangenschaft nach Babylon.


Die Westseite des alten Jerusalem mit der Klagemauer; im Hintergrund ist die al-Aqsa-Moschee zu sehen (Foto: Jan Janus)

|41|Der Prophet Jeremia hatte vorhergesagt, die Babylonische Gefangenschaft werde 70 Jahre dauern (Jer 25, 11–12; 29, 10), doch bereits nach 50 Jahren fiel der persische König Kyros in Babylon ein, schuf klare Verhältnisse und entließ die Juden aus der Gefangenschaft. Die einen kehrten nach Jerusalem zurück und bauten den von den Babyloniern verwüsteten Tempel wieder auf, die anderen entschieden sich, in Babylon zu bleiben. Die 50 Jahre der Babylonischen Gefangenschaft waren für den jüdischen Monotheismus von entscheidender Bedeutung. Inmitten der Götzenbilder, von denen sie umgeben waren, kamen die Juden mehr denn je zu der Überzeugung, dass es im ganzen Universum nur einen Gott gab. Er lenkte die Welt nach seinem Plan. Er hatte bestimmt, dass die Juden in die Verbannung geschickt wurden, und Er hatte dafür gesorgt, dass Kyros sie daraus befreite.

Unter der Leitung eines uns unter dem Namen Serubbabel bekannten Statthalters wurde mit dem Wiederaufbau des Tempels begonnen, der größer werden sollte als der Salomos. Nach der Grundsteinlegung, einem für die Juden sehr emotionalen Ereignis, wollte es mit den Bauarbeiten jedoch nicht so recht vorangehen. Auch die folgenden Anläufe führten nicht sehr weit. Erst unter König Herodes sollte der Tempel Gestalt gewinnen.

Das Erste, was Paulus von Jerusalem sah, waren die dicken Stadtmauern – das Ergebnis einer unter Herodes durchgeführten umfangreichen Restaurierung. Im Jahr 40 v. Chr. war er, zum großen Unmut der Juden, von den Römern zum König über Judäa ernannt worden. Die meisten Einwohner Jerusalems hatten sich seiner Machtübernahme heftig widersetzt, doch ihr Widerstand war unerbittlich niedergeschlagen worden. Herodes hatte einen Belagerungsring um die Stadt gelegt und nach 55 Tagen schleiften seine Stoßtruppen die Mauern von Jerusalem und zogen in einem alles vernichtenden Sturmlauf durch die Stadt. Gebäude wurden dem Erdboden gleichgemacht, und was noch stehen geblieben war, wurde in Asche gelegt. Das verwüstete Jerusalem bot einen schlimmen Anblick. Viele Bewohner wussten nicht mehr ein noch aus, sie ließen alles zurück und flohen aus der Stadt.

Herodes war nicht nur ein harter Kriegsherr, der mit rücksichtsloser Gewalt seine Feinde über die Klinge springen ließ, er war auch ein Mann |42|mit einem guten Auge für architektonische Schönheit. Er hoffte, die Juden milder stimmen zu können, indem er ihre Stadt auf eine Weise wiederaufbaute, die selbst seine erbittertsten Gegner verstummen ließ, und er machte sich gleich ans Werk. Jahraus, jahrein waren Tausende Arbeiter an verschiedenen Orten in der Stadt zugange. Als Herodes 4 v. Chr. starb, hatte er sein Ziel erreicht und eine neue Stadt entstehen lassen, die Freund und Feind Bewunderung ablockte.

Innerhalb der hohen Mauern waren es vor allem drei monumentale Gebäude, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen: der Palast des Herodes, die Burg Antonia und der Tempel. Der Palast und die Burg dienten den persönlichen Belangen des Königs, der Tempel war ein Geschenk des Herodes an die Juden.

Von der Straße aus, die von Damaskus nach Jerusalem führte, konnte Paulus die gewaltigen Bauwerke schon von Weitem sehen. Welche Gedanken sie in ihm hervorriefen, wissen wir nicht, denn seine Ansichten über die Architektur von Jerusalem hat er nie kundgetan. Emotionale und bewundernde Äußerungen über die Pracht der Stadt sind bei anderen Autoren zu lesen. Keiner hat schönere Worte für die eindrucksvollsten Prachtbauten Jerusalems gefunden als Flavius Josephus, der die Stadt wie kein anderer kannte. Er wurde um das Jahr 37 in eine sehr respektierte Familie hineingeboren. Väterlicherseits entstammte Joseph ben Mattatias, so lautete sein richtiger Name, einem alten Priestergeschlecht, mütterlicherseits dem königlichen Geschlecht der Hasmonäer, die im 2. Jahrhundert v. Chr. einen eigenständigen jüdischen Staat gegründet hatten. Ein bescheidener Mensch war er nicht; er erzählt von sich, dass er bereits als vierzehnjähriger Junge von den Hohepriestern und Ersten der Stadt aufgesucht wurde, „um eine scharfsinnige Auslegung des Gesetzes von mir zu hören“.22 Als Sechzehnjähriger ging er bei den Pharisäern, den Sadduzäern und den Essenern in die Lehre, den Vertretern der drei wichtigsten religiösen Strömungen (siehe S. 50). Danach sagte er der bewohnten Welt Lebewohl und zog sich für einige Jahre in die Wüste zurück, um über seine Zukunft nachzudenken. Zurück in Jerusalem stieg er rasch immer höher in der politischen Hierarchie auf. Als die Juden sich 66 gegen die Römer erhoben, wurde er Befehlshaber der Truppen in Galiläa.

|43|Zu Anfang konnte er einige Erfolge verbuchen. Gegen das große Heer, mit dem Vespasian aus Syrien heranrückte, vermochte er jedoch nichts auszurichten und er musste sich in die Stadt Jotapata zurückziehen. Nach einer längeren Belagerung waren er und seine Männer gezwungen, sich den Römern zu ergeben. In dieser Situation zeigte er sich von seiner schlechtesten Seite. Mit 40 anderen war es ihm gelungen, unbemerkt zu entkommen und sich in einer Höhle zu verstecken, die aber nach einigen Tagen entdeckt wurde. Alle beschlossen, kollektiv Selbstmord zu verüben und so vorzugehen, wie wohl schon viele verzweifelte Menschen vor ihnen: Sie zogen Lose; Nummer zwei sollte Nummer eins töten, Nummer drei Nummer zwei usw. Als Josephus mit nur noch einem Mann übrig war, überredete er ihn dazu, sich gemeinsam mit ihm für das Leben zu entscheiden und den Römern zu ergeben. Zunächst schien es bis zu seiner Hinrichtung nur eine Frage der Zeit zu sein, doch nachdem er dem römischen Befehlshaber Vespasian Auge in Auge gegenübergetreten war und ihm die Kaiserschaft vorhergesagt hatte, konnte er dessen Vertrauen gewinnen. Vespasians Sohn Titus, der Jerusalem nach einer langen Belagerung eroberte, nahm ihn in seinen Beraterkreis auf. Als sein Freund begleitete Josephus ihn nach Rom, wo er sich unter dem Schutz der kaiserlichen Familie bis zu seinem Tod um das Jahr 100 der Geschichtsschreibung widmete. Jerusalem sah er nie mehr wieder.

In seinen beiden großen Geschichtswerken, Der jüdische Krieg und Jüdische Altertümer, kommen das alte und das neue Jerusalem wiederholt zur Sprache. Josephus lässt seinen Gefühlen freien Lauf. So sehr er Herodes auch verachtete, über die Bauten, die ihm zu verdanken waren, fand er nur rühmende Worte. Wenn er auf den Königspalast zu sprechen kommt, wird er lyrisch. Er beginnt seine Darstellung mit der Feststellung, dass er keinem anderen Palast der Welt an luxuriöser Ausstattung nachstand. Darauf folgt ein langer Lobgesang auf den Palastkomplex:

Er war von einer dreißig Ellen hohen Ringmauer umgeben, die in gleichen Zwischenräumen reichverzierte Türme trug, und hatte große Speisesäle und Ruhebetten für Hunderte von Gästen. Ohnegleichen war die Mannigfaltigkeit sonst überall seltener Steine, und die Saaldecken bildeten hinsichtlich der Länge der Balken und der Pracht der Verzierungen wahre Wunderwerke. Gemächer hatte der Palast in vielfachem |44|Wechsel der Formen, alle vollständig eingerichtet, die meisten Zimmergeräte von Silber und Gold; ferner eine große Anzahl ineinander verschlungener kreisförmiger Galerien mit jeweils verschieden angeordneten Säulen. Die unter freiem Himmel liegenden Teile prangten überall im Grünen. Da gab es vielgestaltige Parkanlagen mit langen, sie durchschneidenden Wegen; nahe dabei tiefe Wasserbecken und überall Teiche mit bronzenen Wasserspielen, durch die das Wasser ausströmte; an den Wasserläufen viele Türmchen für zahme Tauben.23

Josephus schließt seine Beschreibung mit der Bemerkung ab, es sei schmerzhaft, daran zurückzudenken, denn von dem Palast seien nur noch schwarz versengte Trümmer übrig geblieben. Während des Aufstands der Juden gegen die Römer, der 66 begonnen hatte, war er von den Aufständischen in Brand gesteckt und völlig verwüstet worden.

Das gleiche Schicksal widerfuhr der Burg Antonia, einer weiteren architektonischen Glanzleistung. Freund und Feind stimmten darin überein, dass Herodes sich hier in bester Weise präsentiert hatte. Das Bollwerk lag auf einem 50 Meter hohen Felsen, der von oben bis unten durchgehend mit großen Steinplatten verkleidet war – nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern auch, damit keine Feinde den somit abgeflachten Felsen hinaufklettern konnten. Die von einer hohen Mauer umschlossene Burg mit ihren vielen Räumen, Säulengängen, Bädern und Innenhöfen war so schön gestaltet, dass sie einem Palast glich. In der Burg war ständig eine Truppeneinheit stationiert. Auf den geräumigen Innenhöfen konnten die Soldaten ihre Zelte aufschlagen. Der ganze Tempelbezirk ließ sich von hier aus kontrollieren; wenn Gefahr drohte, konnten die Soldaten über zwei Treppen unmittelbar zu den zwei Säulengängen des Tempels hinabsteigen.

Die architektonische Schönheit dieser beiden Monumente und des nahe gelegenen Theaters und Amphitheaters können Paulus nicht entgangen sein, doch sein Interesse galt natürlich vor allem dem Tempel. Er kannte die lange Vorgeschichte dieses Bauwerks und wusste, dass das Volk Israel Jahr für Jahr viele Male im ersten Tempel zusammengekommen war. Er wusste auch, dass Herodes den Juden gut 500 Jahre nach der Zerstörung dieses Tempels durch die Babylonier ein neues Heiligtum gegeben hatte, das selbst den Tempel Salomos in den Schatten stellte. Die |47|ganze Antike hindurch, auch noch nachdem der Tempel im Jahre 70 von den Römern in Schutt und Asche gelegt worden war, war es eine geläufige Redewendung, zu sagen, dass dem, der den Tempel des Herodes nicht gesehen habe, das schönste Monument von allen entgangen sei.



Herodes war bereits 18 Jahre an der Macht, als er mit dem Wiederaufbau des Tempels begann. Der eigensinnige und auf Ehre und Ruhm bedachte König war fest davon überzeugt, dass die Vollendung dieses gewaltigen Bauwerks alle seine vorangegangenen Taten übertreffen werde und dass die Juden ihn dafür auf ewig ehren würden. Da er wusste, dass das Volk nicht leicht von einer solchen Unternehmung zu überzeugen war, hielt er eine Ansprache, um seinen Plan vorzubringen. Nach einem Hinweis auf die Bauprojekte, die er bereits realisiert hatte, ging er auf sein Vorhaben ein, einen neuen Tempel zu bauen. Für Flavius Josephus war der Tempel das gottesfürchtigste und prachtvollste Bauwerk überhaupt; Herodes legt er die folgenden Worte in den Mund:

Dieser Tempel ist von euren Vorfahren dem höchsten Gotte erbaut worden, als sie aus Babylon zurückgekehrt waren. Doch fehlen ihm an seiner Höhe noch sechzig Ellen, um welche der früher von Salomon errichtete Tempel ihn überragte. Das ist aber nicht etwa dem Mangel an Frömmigkeit bei unseren Vorfahren zuzuschreiben; denn es stand nicht bei ihnen, dem Tempel die frühere Grösse zu geben. […] Weil ich nun durch Gottes Gnade zur Regierung gelangt bin, einer langen Friedenszeit mich erfreue, grosse Reichtümer mir gesammelt habe, bedeutende Einkünfte beziehe und, was das Wichtigste ist, mit den Römern, den Herren der Welt, wie ich wohl sagen darf, in freundschaftlichem Verkehr stehe, so will ich mich bemühen, das, was unsere Vorfahren aus Not und weil sie unter fremder Herrschaft standen, nicht ausführen konnten, zu vollenden und dadurch Gott für die vielen Wohlthaten, die er mir während meiner Regierung erwiesen hat, frommen Dank zu erstatten.24

Für die Architekten war es eine fast unmögliche Aufgabe, da die Baumeister Salomos jeden Quadratmeter der Oberfläche des Tempelbergs bereits bebaut hatten. Herodes’ Ratgeber werden ihn mit Sicherheit auf die zu erwartenden Schwierigkeiten hingewiesen haben, als er den Plan fasste, den Tempelberg auf das Doppelte zu vergrößern. Hunderttausende Steinblöcke wurden herbeigeschafft und um den Berg abgeladen. Tausende |49|Menschen waren damit beschäftigt, die um den Berg liegenden Schluchten, Spalten und Untiefen auszugleichen und mit einer gewaltigen Mauer einzuschließen, um ein mehr als 500 mal 300 Meter großes Gelände entstehen zu lassen, auf dem der Tempel, den Herodes sich vorstellte, gebaut werden konnte. Flavius Josephus ist voller Bewunderung für diese Leistung der Bauarbeiter:


Beide Säulenhallen ruhten auf einer starken Mauer, die Mauer selbst aber war eines der grossartigsten Werke, von denen man je gehört hat. Denn sie stellte einen felsigen, steilen Hügel vor, der nach der Ostseite der Stadt hin allmählich sich bis zu seinem höchsten Gipfel erhob. Diesen Hügel umgab Salomon, unser erster König, auf Gottes Geheiss oben am Gipfel mit einer Mauer. Unten am Fusse aber, wo er nach der Südseite hin von einer tiefen Schlucht umgeben war, verschanzte er ihn mit gewaltigen, durch Blei untereinander verbundenen Felsblöcken, indem er inwendig immer einen kleinen Zwischenraum liess und damit bis in die Tiefe fortfuhr, sodass der ins Geviert gearbeitete Bau eine ungeheure Grösse und Höhe erhielt. Von aussen erblickte man die gewaltigen Felsblöcke, die von innen mit eisernen Klammern so fest ineinander gefügt waren, dass sie für alle Zeiten unaufhörlich verbunden schienen. Und als das ganze Werk bis zur Spitze des Hügels hinaufgeführt war, glättete er den Gipfel des letzteren, füllte die innerhalb der Mauer befindlichen Höhlungen aus und machte alle Teile der Oberfläche, die etwas noch hervorragten, völlig gleich und eben. Diese ganze Einfriedung hatte vier Stadien im Umfang, da jede Seite ein Stadion lang war.25

Jeder, der sich dem Tempelberg näherte, wurde von den Umrissen des gewaltigen, an den Seiten relativ niedrigen und in der Mitte hohen Komplexes überwältigt. Es gab mehrere hohe Eingangstore, deren Stürze die gleiche Höhe erreichten wie das Dach des Tempels in der Mitte. Sie waren mit buntfarbigen Vorhängen verziert, in die purpurne Blumen- und Säulenmotive eingewoben waren. Darüber, jedoch unter dem Kranzgesims, verzweigte sich ein goldener Weinstock mit hängenden Trauben.

Auf den Mauern des Tempelkomplexes stand eine doppelte Säulenreihe, die sich aus riesigen Monolithen aus weißem Marmor zusammensetzte, auf denen Dachbalken aus Zedernholz ruhten. Ein offener Innenhof war mit verschiedenen Steinsorten gepflastert. Durch eine Einfriedung wurde dieser Vorhof von einem zweiten Innenhof getrennt. In diese Einfriedung |50|waren in griechischer und lateinischer Sprache die Reinigungsvorschriften eingemeißelt, um Nichtjuden davon abzuhalten, diesen Hof – das „Heilige“ – über eine vierzehnstufige Treppe zu betreten. An der Süd- und Nordseite dieser inneren Einfriedung befanden sich drei Tore in jeweils gleichem Abstand zueinander. Auf der Seite des Sonnenaufgangs konnten die, die rituell gereinigt waren, zusammen mit ihren Frauen durch ein großes Tor das Innere betreten. Noch tiefer im Inneren befand sich ein Raum, der nur Priestern zugänglich war. Dort war der eigentliche Tempel zu finden und davor stand ein großer Altar, auf dem die Priester Gott Brandopfer darboten.

Nach der Vollendung des Tempels brachte das Volk seine Freude zum Ausdruck. Es feierte die Wiedererrichtung mit ausgelassenen Festlichkeiten. König Herodes opferte 300 Rinder und auch die anderen Menschen brachten Opfer dar, jeder nach seinen Möglichkeiten. Gut 30 Jahre später stand Paulus vor dem Tempel, voller Bewunderung für die architektonische Schönheit und erfüllt von dem Verlangen, das heilige Gebäude zu betreten. In diesem Augenblick konnte er noch nicht ahnen, dass sein Leben eine Wende nehmen und dass der Tempel als das Symbol des jüdischen Glaubens eine andere Bedeutung für ihn bekommen sollte.

Paulus

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