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Das Damaskuserlebnis

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Da in der Beschreibung der Steinigung des Stephanus von gleichgesinnten Begleitern keine Rede ist, darf man wohl konstatieren, dass Paulus in diesen Tagen als Einzelner auftrat, beseelt von dem Wunsch, sich hervorzutun, sich von den übrigen Pharisäern abzuheben, die sich deutlich gemäßigter verhielten und vermutlich wenig oder nichts mit den Christenverfolgungen zu tun hatten. Allerdings hatte der Widerwille gegen die Christen außerhalb des Kreises der Pharisäer zu dieser Zeit schon solche Ausmaße angenommen, dass sie immer stärker verfolgt wurden, und dabei nahm auch Paulus eine Rolle ein. Er „drang in die Häuser ein, schleppte Männer und Frauen fort und lieferte sie ins Gefängnis ein“ (Apg 8, 3). Dass ihm (und den anderen Verfolgern) kurz vor und nach der Hinrichtung des Stephanus die systematische Ausrottung der Christen deutlich als Ziel vor Augen stand, wage ich zu bezweifeln. Lukas sagt explizit, dass die Mitglieder der christlichen Gemeinde in Jerusalem „in die Gegenden von Judäa und Samaria zerstreut [wurden], mit Ausnahme der Apostel“ (Apg 8, 1).

In dieser Phase seines Lebens scheint Paulus hauptsächlich von seinem Ehrgeiz getrieben worden zu sein, zu zeigen, dass er ein frommer Jude war, der nach dem Gesetz lebte. Hätte er beabsichtigt, die Christen wirklich zu bekämpfen, dann hätte er wahrscheinlich die zwölf Apostel |59|ins Auge gefasst. Die ließ er jedoch unbehelligt. Stattdessen nahm er die einfachen Gläubigen außerhalb Jerusalems ins Visier, wobei wir vor allem an die griechischsprachigen christlichen Juden denken müssen, die Jerusalem verlassen und sich über Damaskus, Phönizien, Zypern und Antiochia verbreitet hatten. Sie erregten Paulus’ Zorn, weil sie die in der Tora festgelegten Kernpunkte des jüdischen Glaubens unterminierten. Er wandte sich an den Hohepriester, der ihm Briefe an die Vorsteher der Synagogen in Damaskus ausstellte; sie sollten ihm helfen, die Christen in der Stadt aufzuspüren und festzunehmen, damit er sie als Gefangene nach Jerusalem bringen konnte.33 Lukas spricht hier übrigens nicht von „Christen“, er sagt: „die Anhänger des (neuen) Weges, Männer und Frauen“ (Apg 9, 2). Auch später spricht er noch verschiedene Male vom „Weg zum Glauben“ und legt diese Worte auch Paulus in den Mund.

Die Öffentlichkeit wird in dieser Zeit erwartet haben, dass Paulus sich zu einem gefürchteten Verfolger entwickeln würde. Er hoffte – oder täuschte die Hoffnung vor –, durch seinen Kampf gegen die christliche Gemeinde in Damaskus und danach gegen weitere Gemeinden das Wachstum des neuen Glaubens außerhalb Jerusalems zum Stillstand bringen und die Christen dort auf eine kleine, in sich geschlossene Sekte reduzieren zu können. Doch irgendwo auf dem Weg nach Damaskus verlor all das, was ihn bis dahin angetrieben hatte, seine Bedeutung.

Paulus/Saulus war von Jerusalem aus über Jericho durch das Jordantal zum See Genezareth gelangt. Danach hatte er den Jordan überquert und die Straße nach Damaskus genommen. Er war darauf vorbereitet, alsbald „Anhänger des Weges“ aufzuspüren, doch kurz vor der Stadt wurde alles mit einem Mal anders. Ein „Licht vom Himmel“ umstrahlte ihn. „Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich? Er antwortete: Wer bist du, Herr? Dieser sagte: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Steh auf und geh in die Stadt; dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst. Seine Begleiter standen sprachlos da; sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemand. Saulus erhob sich vom Boden. Als er aber die Augen öffnete, sah er nichts. Sie nahmen ihn bei der Hand und führten ihn nach Damaskus hinein“ (Apg 9, 3–8).

In der Apostelgeschichte wird dieses Ereignis später noch zweimal zur Sprache gebracht. Zuerst in 22, 6–11. Paulus war kurz zuvor nach seiner |60|dritten Missionsreise in Jerusalem eingetroffen und wurde von den Juden beschuldigt, Griechen in den Tempel mitgenommen zu haben. Als ihm der römische Tribun gestattet, zum wütenden Volk zu sprechen, erzählt er eine Version der Geschichte seiner Bekehrung, die sich in einem Punkt von der in Apg 9 unterscheidet: Seine Reisegefährten sahen zwar das Licht, hörten aber die Stimme des Herrn nicht. Und in Apg 26, 12–18 lässt Paulus den römischen Prokurator Festus und König Agrippa wieder eine andere Version der Geschichte hören: Ein Licht, heller als die Sonne, umstrahlte ihn und seine Begleiter. Alle stürzten zu Boden, doch nur er hörte eine Stimme, die auf Hebräisch zu ihm sprach.

Paulus selbst kommt in seinen Briefen dreimal auf dieses wundersame Geschehnis zurück. An die Galater schreibt er:

Als aber Gott, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, mir in seiner Güte seinen Sohn offenbarte, damit ich ihn unter Heiden verkündige, da zog ich keinen Menschen zu Rate; ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück. (Gal 1, 15–17)

In seinem ersten Brief an die Korinther verweist Paulus zweimal darauf, dass Jesus Christus ihm erschienen ist, um sich als Apostel zu legitimieren.34 Da Paulus jedoch nicht detailliert auf seine Vision eingeht, können wir nur Vermutungen darüber anstellen, was genau er sah und hörte.

Von einer Bekehrung im traditionellen Sinne des Wortes kann man jedenfalls wohl kaum sprechen. Sein Beitritt zum christlichen Glauben war nicht das Ergebnis eines Lernprozesses oder die unmittelbare Folge einer inspirierenden Ansprache eines Jüngers Christi. Er pflegte ja keine Kontakte zu Christen, die ihn hätten belehren können. Sein Wandel war radikal, der ihn von einem zum anderen Moment zu einem „neuen“ Menschen machte.

Paulus hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er einzig und allein durch die Gnade Gottes der geworden war, der er war (1 Kor 15, 10). Diese Erklärung lässt sich verschieden deuten, denn Paulus hatte Jesus nicht gekannt, konnte also auch nicht wissen, ob er von ihm angesprochen worden war. Später stellte er es so dar, als habe er den auferstandenen Jesus gesehen und dessen Stimme gehört. Seine Erklärung lässt stark an die |61|„Berufung“ des Propheten Jeremia denken, der wissen ließ, der Herr habe ihn schon im Mutterschoß zum Propheten für die Völker bestimmt (Jer 1, 4–5).

Über die Vision des Paulus ist bemerkenswert viel geschrieben worden und es wird nicht überraschen, dass die Interpretationen dessen, was er gesehen zu haben glaubte, weit auseinandergehen. Überzeugte Gläubige zweifeln nicht daran, dass Jesus tatsächlich zu Paulus gesprochen hat. Paulus hatte eine mystische Erfahrung, die mit blendendem Licht und Stimmen einherging. Eine diametral entgegengesetzte Auffassung vertreten Wissenschaftler, die die Vision völlig rationalisieren. Dem Hirnforscher Dick Swaab zufolge litt Paulus an einer „Temporallappenepilepsie“, die zu beeindruckenden ekstatischen Erfahrungen führte, in denen der Apostel glaubte, direkt mit Gott in Verbindung zu treten und Aufträge von ihm zu erhalten. Er zeige auch das sogenannte Geschwind-Syndrom, das sich in einer ausgiebigen Schreibtätigkeit, einem geringen Interesse an Sex und einer sehr ausgeprägten Religiosität äußert.35 Swaab führt einige andere bekannte historische Figuren an, die seiner Ansicht nach ebenfalls an dieser Form der Epilepsie litten und ähnliche Erfahrungen machten: Mohammed, Jeanne d’Arc, Vincent van Gogh und Dostojewski.36

Dieser Argumentation zufolge wurde Paulus allein durch seine Epilepsie zu der Person, die wir aus seinen späteren Briefen kennen, und für die Entscheidungen, die er in seinem Leben traf, war sein Gehirn verantwortlich, ohne dass sein Wille darauf Einfluss hätte nehmen können. Ich kann nicht beurteilen, ob Paulus an Epilepsie oder einer anderen Krankheit litt, die sich auf sein Gehirn auswirkte. Dazu reichen die Informationen, die wir über sein Verhaltensmuster haben, nicht aus. Doch selbst, wenn er an Epilepsie gelitten haben sollte, werden wir, wie ich glaube, Paulus nicht gerecht, wenn man seine Umkehr ausschließlich auf einen Hirndefekt zurückführt.

Meiner Meinung nach liegt der Schlüssel zur Berufung des Paulus nicht in einem Krankheitsbild, sondern darin, dass er bereits seit geraumer Zeit auf der Suche nach einer Möglichkeit war, sich den Christen anzuschließen. Er hat den Moment der Umkehr in seinem Leben selbst ausgewählt. In der Umgebung von Damaskus kam ihm ein taktischer und brillanter Einfall: eine Vision, die ihn mit den von Gott auserwählten |62|Aposteln auf eine Stufe stellte. Seit einiger Zeit schon befand er sich im Zwiespalt zwischen seinem Verhältnis zum pharisäischen und zum christlichen Judentum und nach dem Tod des Stephanus hatte er immer stärkere Sympathien für die christlichen Standpunkte entwickelt. Aber wie konnte er für die Christen ein vertrauenswürdiger Gesprächspartner werden? Wäre er einfach nur so auf sie zugegangen, hätten sie ihn aufgrund seines Rufes als Verfolger mit großer Skepsis empfangen. Und selbst, wenn die Christen ihn akzeptiert hätten, hätte er kaum auf Anhieb eine seinen Wünschen entsprechende wichtige Rolle in ihrer Mitte spielen können. Die Apostel hatten das schwerwiegende Argument auf ihrer Seite, Jesus selbst gekannt zu haben. Sie waren von ihm persönlich auserwählt und unterrichtet worden. Eine Vision, in der er von Gott berufen wurde, kam Paulus also sehr gelegen. Wie er in seinem ersten Brief an die Korinther sagte: Zuerst war Jesus Petrus erschienen, dann den zwölf Aposteln, dann mehr als 500 „Brüdern“ und schließlich ihm, dem geringsten |63|unter den Aposteln, der es nicht wert war, Apostel genannt zu werden, da er die Christen verfolgt hatte (1 Kor 15, 5–9). Da der Herr ihm erschienen war, da Gott ihn persönlich angesprochen und geheißen hatte, den Glauben zu verkündigen, konnte er den Aposteln jetzt ebenbürtig gegenübertreten.


Der Zugang zur Geraden Straße in Damaskus (Foto: Jan Janus)

Paulus wusste aus eigener Erfahrung, dass viele Juden von dem neuen Glauben nichts wissen wollten. Eine breite Zustimmung der Juden zur Botschaft Jesu war ausgeblieben. Vielleicht wollte er, ein Diasporajude, der jahrelang in einer griechisch-hellenistischen Umgebung gelebt hatte, mit seiner Vision „zeigen“, dass Gott deshalb gerade ihn als Werkzeug ausgewählt hatte, um das Evangelium sowohl unter Juden wie auch unter Nichtjuden zu verbreiten. Eine solche Argumentation passt in das Bild, das wir uns von Paulus machen können: Er nutzte alle Mittel, um sich zu profilieren, und gleichzeitig war er sich darüber bewusst, dass er sich in dieser Phase mit seinen Ideen noch zurückhalten sollte. Zuerst musste er zusehen, dass er in die Kreise der Christen aufgenommen wurde.

Die Christen in Damaskus müssen es als etwas ganz Außergewöhnliches und vermutlich auch Schmerzliches empfunden haben, Auge in Auge dem Mann gegenüberzustehen, der, wie sie gehört hatten, gekommen war, um sie zu verfolgen, und der jetzt auf einmal von sich sagte, vom Herrn auserwählt worden zu sein. Er wurde in ein Haus in einer Straße gebracht, die die „Gerade Straße“ genannt wurde. Damals lag diese Straße in einem neuen hellenistischen Viertel, gleich außerhalb des griechischen Stadtzentrums; heute verläuft sie quer durch die Altstadt des modernen Damaskus.

Drei Tage lang war Paulus blind und er aß und trank nicht (Apg 9, 9). Vollendet wurde seine Bekehrung mit der Ankunft des Hananias, eines bedeutenden Mitglieds der jüdisch-christlichen Gemeinde. Er hatte, ebenfalls in einer Vision, von Gott den Auftrag erhalten, Paulus in dem Haus, in dem er sich aufhielt, aufzusuchen, ihn durch Handauflegen von seiner Blindheit zu heilen und schließlich zu taufen, um ihn von Sünden zu befreien und mit dem Heiligen Geist zu erfüllen. Zunächst reagierte Hananias zurückhaltend, wusste er doch um den Ruf, der Paulus vorausgeeilt war. Das Böse, das Paulus den Christen angetan hatte, stand in seinen Augen einer vollwertigen Mitgliedschaft in der christlichen Gemeinde |64|entgegen. Schließlich ließ Hananias seine Bedenken jedoch fallen, legte Paulus die Hände auf und heilte ihn von seiner Blindheit. Danach taufte er ihn und sagte ihm, dass Gott ihn als Werkzeug auserwählt habe, um seinen Namen „vor Völker und Könige und die Söhne Israels“ zu tragen. So wurde Paulus in die christliche Gemeinschaft aufgenommen (Apg 9, 10–18).

Häufig ist zu lesen, Saulus habe in Damaskus seine alte jüdische Identität abgeworfen, sich öffentlich vom Judentum abgekehrt, indem er den Namen Paulus annahm. Für diese These gibt es keinen Beweis, wohl aber für die Feststellung, dass Paulus keineswegs mit dem Judentum brach und die Bedeutung des jüdischen Gesetzes nie geleugnet oder bestritten hat. Das „Damaskuserlebnis“ war keine „Bekehrung“ zu einer neuen, sondern eine Berufung innerhalb seiner eigenen Religion. Paulus wurde nicht müde, hervorzuheben, Gott habe einen anderen Weg als ein Leben nach der Tora gewählt, um die Menschheit zu retten.37

Auch im neunten Kapitel der Apostelgeschichte findet sich kein Hinweis auf eine „Bekehrung zu einer neuen Religion“. In der Vision spricht Jesus Paulus als Saul an und Hananias erfährt danach, dass Saulus aus Tarsus angekommen ist. Mit anderen Worten: Sowohl während als auch nach seiner Vision wird Paulus mit seinem hebräischen Namen angesprochen. Erst später ist zum ersten Mal von beiden Namen die Rede: „Saulus, der auch Paulus heißt“ (Apg 13, 9).

Dieser doppelte Name wird die ersten Leser der Apostelgeschichte nicht wirklich überrascht haben; für Diasporajuden war es nichts Ungewöhnliches, zwei Namen zu haben: einen für das öffentliche Leben und einen, mit dem man in der Synagoge angesprochen wurde.38 Im Fall von Paulus sind die beiden Namen auf seinen jüdisch-römischen Hintergrund zurückzuführen. Seine Eltern waren als jüdische Sklaven aus Gischala nach Tarsus gekommen, ins Haus eines Römers. Als seine Eltern freigelassen wurden, suchten sie nach römischen Namen, für sich selbst und für ihren Sohn. Für ihn wählten sie einen Namen, der fast genauso klang wie sein jüdischer Name Saulus: Paulus. Es ist auch möglich, dass der Römer, der sie freigelassen hatte, diesen Namen trug, und dass Paulus’ Eltern aus Respekt und Dankbarkeit ihren Sohn nach ihm benannten.

Der Kirchenvater Augustinus vermutete gut drei Jahrhunderte später, |65|Paulus habe mit seiner Bemerkung, er sei „der geringste von den Aposteln“ (1 Kor 15, 9) deutlich machen wollen, dass er den Namen Paulus bewusst gewählt hatte, als Anspielung auf seine geringe Körpergröße – das lateinische Adjektiv paulus bedeutet nämlich „klein“. Einige spätere Kommentatoren haben den Namen Paulus auf die gleiche Weise ausgelegt, wobei sie sich vielleicht auf die einzige Beschreibung der äußerlichen Erscheinung des Paulus stützten, die einem Augenzeugen zugeschrieben wird, einem entlaufenen Sklaven und späteren Mitarbeiter des Paulus namens Onesimus, von dem in Paulus’ Brief an Philemon die Rede ist (siehe S. 200). Sie findet sich in den apokryphen Paulusakten aus dem 2. Jahrhundert:

Er sah aber Paulus kommen, einen Mann klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit; denn bald erschien er wie ein Mensch, bald hatte er eines Engels Gesicht.39

Paulus’ erste Kontakte mit den Christen in Damaskus waren nach seinem eigenen Bekunden (Gal 1, 17) nur von kurzer Dauer.40 Er war sich durch und durch bewusst, dass es unglaubwürdig gewesen wäre, wenn er sich sogleich als der von Gott persönlich Auserwählte präsentiert hätte. Zurückhaltung war jetzt angebracht und es war nur folgerichtig, dass er bald, nachdem er seine neuen Glaubensgenossen kennengelernt hatte, Damaskus wieder verließ. Es kann auch nicht verwundern, dass er nicht sofort nach Jerusalem zurückkehrte, um dort die Apostel über die große Veränderung in seinem Leben zu informieren. Er hätte befürchten müssen, dass sie ihm seine Vision nicht geglaubt und ihn auf der Stelle als einen gefährlichen Intriganten, dem man nicht trauen konnte, aus der Gemeinschaft der Christen ausgeschlossen hätten.

Paulus suchte Zuflucht in Arabien (Gal 1, 17), vermutlich, um dort in aller Einsamkeit, fern von den prüfenden Blicken der Mitglieder der Glaubensgemeinschaft in Jerusalem, die ihn nicht aus den Augen lassen wollten, die große Veränderung in seinem Leben zu überdenken und sich eine Strategie für die Zukunft zurechtzulegen. Dieses Land war nicht Arabia Felix, die Region zwischen dem Roten Meer und dem Persischen Golf, sondern das Wüstengebiet östlich der Städte Damaskus, Raphana und |66|Philadelphia. Dort lebten die Nabatäer, deren Einflussbereich sich im 1. Jahrhundert über den Süden Syriens, Jordanien, die Wüste Negev, den Sinai und den Nordwesten Saudi-Arabiens erstreckte. Zu Paulus’ Zeiten war das eindrucksvoll in den Fels gehauene Petra die Hauptstadt ihres Reiches. Für jemanden, der sich eine Zeit lang aus der Welt zurückziehen wollte, boten die schwer zugänglichen Felswohnungen einen idealen Unterschlupf. Es ist leider nicht mehr feststellbar, ob Paulus sich tatsächlich in diese Stadt zurückzog, und wir wissen auch nicht, ob er die Zeit seines freiwilligen Exils nur zur Meditation nutzte oder ob er auch jetzt schon versuchte, Menschen zu bekehren. Bereits nach kurzer Zeit kehrte er nach Damaskus zurück.

Drei Jahre lang, von 34 bis 37, blieb Paulus in Damaskus. Er wird sich dort sicherlich wie Zuhause gefühlt haben, denn die Stadt erinnerte ihn an seine Vaterstadt Tarsus. Auch hier hatten über lange Zeit hinweg Assyrer und Perser das Zepter in der Hand und ebenso war diese Stadt nach dem Tod Alexanders des Großen unter die Herrschaft der seleukidischen Könige gelangt. Im Jahr 65 v. Chr. wurde Damaskus dann von den Römern erobert und damit zu einer römischen Stadt. Das zeigte sich im Straßenplan und an den monumentalen Gebäuden, die hier errichtet wurden. Das Straßenbild war geprägt vom großen Jupitertempel, vom Theater und vom Forum, wo Recht gesprochen, aber auch Handel getrieben wurde.

Wie in Tarsus gab es auch in Damaskus eine jüdische Gemeinde. Paulus suchte die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in ihren Synagogen auf, nicht um, wie er es zuvor immer getan hatte, auf gleicher Augenhöhe mit ihnen über die Deutung der Gesetze der Vorväter zu diskutieren, sondern, um sie zum Christentum zu bekehren. Die Reaktionen der Juden kann man sich vorstellen: Sie konnten nicht begreifen, dass der Mann, den sie als gesetzestreuen Pharisäer kannten und der als Christenverfolger bekannt war, sich hier und jetzt als Verkündiger der Botschaft Jesu präsentierte.

Paulus verhielt sich in diesen Tagen nicht anders als in seiner Zeit als Christenverfolger: Er hielt an seinen Methoden fest und trat nach wie vor als Einzelkämpfer auf. Gleich nach seiner Rückkehr in die Stadt begann er zu predigen und zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Lukas lässt die anderen Christen in seinem Schatten verschwinden. Ihre Taten werden kaum |67|zur Sprache gebracht, obwohl sie den Glauben an Jesus bereits viel länger verkündigt hatten. Alles dreht sich nur um Paulus. Von „seinen Jüngern“ ist die Rede, wenn sie ihn mitten in der Nacht in einem Korb die Stadtmauer hinablassen, weil die Juden beschlossen hatten, ihn zu töten (Apg 9, 23–25). Der Verfasser der Apostelgeschichte konzentriert sich in seiner Darstellung von Paulus’ Aufenthalt in Damaskus ganz auf seine Hauptperson. Es bleibt jedoch schwer zu begreifen, dass ein Mann mit einem so zweifelhaften Ruf auf Anhieb die Hauptrolle für sich beanspruchen konnte. Noch merkwürdiger ist, dass die übrigen Christen als „Jünger“ bezeichnet werden, als habe Paulus sie in einer ihnen unbekannten Lehre unterwiesen, wo doch viele von ihnen schon viel länger als er überzeugte Christen waren. Man darf sich auch fragen, weshalb die nichtjüdischen Bewohner der Stadt toleriert haben sollten, dass die Juden Wachen an den Stadttoren postierten, damit Paulus ihnen nicht entwischen konnte.

Was Paulus genau in Damaskus gemacht hat, mit welchen Menschen er verkehrte und ob er noch in Kontakt mit den Pharisäern stand, darüber schweigt der Verfasser der Apostelgeschichte sich aus. Darum ging es ihm auch nicht. Paulus als gewöhnlicher Mensch, der wie alle anderen seinen Lebensunterhalt bestreiten musste, interessierte ihn nicht. Er wollte den Ehrgeiz seiner Hauptperson vor Augen führen. Sein Aufenthalt in Damaskus ist Teil einer größeren Erzählung: die von der Verbreitung der Heilsbotschaft Jesu. In Damaskus reifte in Paulus der Gedanke, dass er die Verbreitung des Glaubens an Christus zu seiner Lebensaufgabe machen müsse. Hier traf er auf eine ähnliche Bevölkerung, wie er sie aus der Stadt kannte, in der er seine Jugend verbracht hatte. Mit seinem Hintergrund – ein Jude mit römischem Bürgerrecht, der mit der gemischten Bevölkerung griechisch-hellenistischer Städte bestens vertraut war – glaubte er der richtige Mann zu sein, die christliche Botschaft über Judäa und Galiläa hinaus zu tragen. In dieser Hinsicht waren die drei Jahre in Damaskus bestimmend für sein weiteres Leben.

Bevor er seine Pläne verwirklichen konnte, begab er sich im Jahr 37 zuerst einmal nach Jerusalem. Er konnte es offensichtlich noch nicht wagen, auf eigene Faust nach Norden zu gehen, nach Tarsus zum Beispiel, um dort den neuen Glauben zu verkündigen. Man hätte es ihm verübelt, wenn er sein Vorhaben umgesetzt hätte, ohne Petrus darüber in Kenntnis |68|zu setzen. Darum suchte er ihn auf und blieb zwei Wochen lang bei ihm (Gal 1, 18). Zweifellos wird Paulus sich von Petrus Näheres über Jesus und seine Jünger berichtet haben lassen. Natürlich hatte er schon in Damaskus einiges über ihn gehört, doch jetzt wollte er mit dem Mann sprechen, der Jesus von Anfang an begleitet hatte und von ihm zu seinem Nachfolger bestimmt worden war. Petrus wird ihm von Jesus als Prediger erzählt haben, von seinen Wundern und von seinem Tod. Allmählich entwickelte Paulus daraus Gedanken und Überzeugungen, die er später auf seinen Missionsreisen in Wort und Schrift verbreiten sollte.

Ob Petrus und Paulus sich in ihren Gesprächen über den einzuschlagenden Kurs einig werden konnten, wissen wir nicht. Paulus verließ Jerusalem, danach verliert sich seine Spur für drei Jahre. Vermutlich hat er in diesen Jahren die christliche Botschaft an vielen Orten verkündigt, vor allem in Kilikien, wo er sich wie zu Hause fühlte. Er tritt erst wieder in Erscheinung, als Barnabas, ein Diasporajude aus Zypern, von den Führern der Christen in Jerusalem nach Antiochia am Orontes gesandt wurde, um dort die christliche Gemeinde zu organisieren. Sein richtiger Name war Josef, doch von den Aposteln wurde er Barnabas genannt, was Lukas zufolge „Sohn des Trostes“ bedeutet (Apg 4, 36). Er brauchte einen Gefährten, der mit ihm zusammen die Neubekehrten im Glauben unterweisen sollte, und machte sich auf die Suche nach Paulus. Dass seine Wahl auf diesen fiel, hatte seine guten Gründe: Paulus war römischer Bürger und sprach fließend Griechisch. Barnabas fand ihn in Kilikien und nahm ihn mit nach Antiochia, wo sie ein Jahr lang blieben und eine überaus erfolgreiche Missionsarbeit leisteten. In Antiochia wurden, wie Lukas schreibt, die Jünger zum ersten Mal Christen genannt (Apg 11, 26).

Paulus

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