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Kapitel 1

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Annemieke

Raus. Einfach weg. Das dachte ich jetzt schon zum hundertsten Mal in nur einer Woche. Vielleicht waren es auch zehn Tage. Und gleichzeitig war das die Antwort auf die Frage, was ich denn nach der Schule machen wollte. Aber wohin? Ich fühlte mich einfach planlos. Ich wusste einfach, dass ich hier in der Region und vor allem meiner Stadt – Munster – nicht bleiben wollte. Einige meiner Freundinnen würden bewusst in Norddeutschland bleiben und am Wochenende ihre Familien besuchen, aber ich wusste, dass ich das nicht konnte. Klar, ich liebte meine Familie, aber ich wollte einfach Abstand. Ich wollte die Welt sehen. Aber nur wo? Ich wusste auch, dass ich mich bald entscheiden müsste, bevor die Anmeldefristen für FSJ und Co abgelaufen waren. Auch meine Mutter saß mir jetzt schon im Nacken. „Hauptsache, du entscheidest dich bald mal…“, sagte sie immer mit schon leicht genervtem Blick, wenn ich ihr beim Abendbrot gegenübersaß und auf die Frage nach meinen Zukunftsplänen nur die Achseln zuckte.

„Das ging sogar bei deiner Schwester schneller“, setzte sie manchmal sogar noch hinterher, wahrscheinlich um mich ein wenig zu piesacken. Meine Schwester Rena hatte ewig gebraucht, bis sie sich für ein Studium entschieden hatte und war schließlich mit Psychologie glücklich geworden, allerdings wusste Rena auch, dass sie studieren wollte. Ich wusste ja noch nicht einmal, was ich machen wollte.

„Was machen die anderen denn?“ Das war auch immer noch eine beliebte Frage. Mit die anderen waren meine Freundinnen gemeint.

„Mama“, sagte ich dann immer leicht genervt, „das habe ich dir doch auch schon tausend Mal gesagt.“

„Ja, aber hilf deiner alten Mutter doch nochmal auf die Sprünge.“ Ich verdrehte demonstrativ die Augen.

„Hey, das habe ich gesehen“, kam es von ihr empört.

„Also, Laura und Lea gehen studieren. Ich glaube, Laura will nach Hamburg und Lea nach Hannover. Kathi macht so Work and Travel.“

„Aha. Und wo das?“

„Keine Ahnung, ich glaube, sie wollte nach Neuseeland.“

„Wie? Du hast keine Ahnung? Unterhaltet ihr euch nicht?“

„Ey Mama…“, sagte ich jetzt wirklich genervt, denn mir war echt nicht danach, mich ausfragen zu lassen.

„Ja, was denn? Und ey schon mal gar nicht. Es geht hier um deine Zukunft, Fräulein.“

Als ob ich das nicht wüsste. „Rena hat sich doch auch erst kurz vor knapp entschieden“, sagte ich zu meiner Verteidigung.

„Das war im Juli.“

„Ja, und jetzt haben wir Ende Juni“, meinte ich ein wenig keck, um damit die Situation ein wenig zu entschärfen.

„Ich wünschte, du würdest die Sache etwas ernster angehen“, sagte meine Mutter resigniert.

„Mach dir keine Sorgen, Mama.“ Damit war unsere Diskussion des Abends beendet.

Vielleicht würde es mir ja leichter fallen, wenn ich nicht permanent dieses Gefühl hätte, etwas finden zu müssen. Auch wenn es leider die Realität war. Ich konnte und wollte auch nicht ab Oktober ein weiteres Jahr hier versauern müssen. Ich hatte schon öfters daran gedacht, zu studieren. Nur was, das wusste ich noch nicht so genau. Und zum Glück war die Frist bis Mitte Juli auch noch nicht abgelaufen, sodass noch eine Anzahl an Möglichkeiten blieb. Die naturwissenschaftlichen Fächer schloss ich schon mal aus, da würde ich ganz das Klischee bedienen. Nicht, dass ich schlecht darin war, es gab nur einfach Fächer, die mir in der Schule mehr Spaß gemacht hatten. Ich hörte die Stimme meines Opas im Kopf: Mach doch Zahnmedizin, dann muss ich mir später darüber keine Sorgen machen, wer mir meine Zähne macht.

Wie witzig (oder auch nicht). Zumindest hatte mein Großvater seinen Sinn für Humor nicht verloren. Ich wusste, dass sich meine Mutter insgeheim wünschte, dass ich mich für etwas Richtiges entschied. Noch so ein Ausdruck, den sie gerne verwendete. Damit meinte sie etwas, womit man sicherlich später einen Job fand. An erster Stelle sah sie da wohl Medizin. Das fand ich auch interessant, aber da hörte es auch schon wieder auf. Weder hatte ich den NC dafür, noch hatte ich große Lust darauf, an Leichen rumzuschnippeln. Auf BWL hatte ich auch nicht so viel Lust, zu viel Mathe. Wenn Rena mal da war, beschwerte sie sich auch allzu gerne darüber, wie viel Mathe sie im Studium machen müsste. Dafür, dass man Menschen später wieder die Seele klempnern würde. Ich hatte das Gefühl, sie wusste genau, worauf sie sich da einließ, brauchte manchmal aber einfach diese Portion Mitleid.

Wenn Kathi – wie in letzter Zeit sehr oft – von Neuseeland schwärmte, hatte ich auch nicht übel Lust, so weit weg zu reisen wie nur irgend möglich. Aber konnte das denn so einfach sein? Ich war da noch ziemlich skeptisch. Einfach ein Ticket kaufen, wegfliegen und hoffen, einen Job zu finden? Das war mir dann doch irgendwie zu risikoreich.

Immer, wenn ich es einfach nicht besser wusste, befragte ich Doktor Google, auch wenn ich bei meinen Eingaben nicht sonderlich kreativ war. Was tun nach dem Abi? Welcher Studiengang passt zu mir? Auslandsjahr und so weiter. Ich hatte auch schon gefühlt alles gelesen, was es zum Thema Work and Travel, FSJ im Ausland und sogar Au-Pair gab. Irgendwie konnte ich mir das nicht so recht vorstellen, in einer fremden Familie für ein ganzes Jahr auf deren Kinder aufzupassen. Ich meine, ich mochte Kinder, aber ständig und den ganzen Tag? Ich klickte einen Link an und las mir durch, was auf der Seite angepriesen wurde. Es wurde davon geredet, was alles im Rundum-Sorglos-Paket dieser und jener Agentur mit drin ist und dass man sich im Notfall um nichts kümmern müsste und dann noch die Erfahrungsberichte von jungen Frauen, die einem Mut machen sollten, sich in das Abenteuer zu stürzen. Ich stand dem ganzen ja eher skeptisch gegenüber. Noch dazu erinnerte ich mich an den ein oder anderen Bericht im Fernsehen zum Thema (Alb-)Traum Auslandsjahr. Vielleicht hätte Kathi ja Lust, dass ich mit ihr nach Neuseeland fliegen würde. Dann wäre sie zumindest nicht so allein. Aber irgendwie sah ich mich dann doch mehr als den Weltreise-Typ. Ich glaubte allerdings, da hatte meine Mutter etwas dagegen – schon allein rein finanziell.

Da kam mir eine Idee: ich würde mir ein Interrail-Ticket kaufen. Durch ein oder auch ein paar mehr Länder fahren und ein paar Wochen arbeiten und am besten sogar einen festen Job finden. Das war die Idee!

Meine Mutter war da allerdings anderer Meinung: „Das kannst du vergessen. So einfach ist das nicht“, sagte sie ernst, als ich ihr von meiner Idee am nächsten Morgen vorschwärmte. „Wo willst du denn unterkommen? Du kannst doch nicht immer in Hotels schlafen.“

„Tu ich ja gar nicht“, sagte ich ein wenig beleidigt.

„Und wo dann? Im Zelt, oder wo?“

„Wenn es sein muss…“ Ich sah den leicht entsetzten Blick meiner Mutter. „War natürlich nur Spaß...Mama, ich bin 18, ich kann das allein!“

„Genau darum geht es, du bist erst 18. Da kann sonst was passieren.“

„Jetzt mal mal den Teufel nicht an die Wand“, erwiderte ich ein wenig gereizt. Eigentlich hatte ich darauf gehofft, dass meine Mutter von meinem Aktionismus etwas mehr angetan wäre.

„Sag mal…Oma hat doch Familie in Kanada. Kann die die nicht mal anhauen?“

„Was willst du denn jetzt in Kanada?“

„Ich will einfach weg!“, sprach ich endlich das aus, was ich meiner Umwelt schon seit Ewigkeiten mitteilen wollte.

„Du kannst sie ja mal fragen. Ich kann dir aber nichts versprechen. Außerdem sind das ja fremde Leute...Ich selbst kenne meine Cousins ja kaum.“

„Das kann man ja ändern“, behauptete ich, obwohl ich selbstsicherer tat, als ich war.

Tatsächlich konnte meine Oma den Kontakt zu ihrer Schwester aufnehmen und sie war gerne bereit, sich auf das Abenteuer einzulassen, ihre Großnichte für eine gewisse Zeit zu beherbergen. Als das geregelt war, jubelte ich vor Freude. Meine Mutter sah dabei gar nicht so glücklich aus, aber ich glaubte, dass sie sich trotzdem ein wenig für mich freute, auch wenn sie wusste, dass ihr Küken nun das Nest verlassen würde.

So kam es, dass ich am ersten August völlig aufgeregt mit meiner Mutter und meiner Schwester am Hamburger Flughafen stand. Meine Mutter war erstaunlich still, doch ich meinte zu wissen, wie sehr sie mit sich kämpfte.

„Hast du auch alles? Dein Visum?“, fragte sie mit ein wenig Besorgnis in der Stimme.

„Nein“, antwortete ich nur, um sie ein wenig zu ärgern. „Spaß…“, sagte ich dann ein paar Augenblicke später, nachdem ihr Gesichtsausdruck von Besorgnis in Schock umgeschlagen war.

„Das kannst du mit deiner alten Mutter doch nicht machen“, sagte sie ein wenig empört.

„Mama, Mieke kann das schon“, versuchte auch Rena sie zu beruhigen. Meine Mutter sagte nichts.

Nach einer bereits gefühlten Ewigkeit am Flughafen wurde endlich mein Flug angezeigt. Ich würde zuerst nach Frankfurt fliegen und von dort aus nach Toronto. Ich konnte es kaum erwarten, gleich endlich ein wenig Ruhe zu haben, denn die letzten Tage mit meiner Mutter waren echt anstrengend gewesen. Ständig fragte sie mich, ob ich noch irgendetwas bräuchte oder ob ich dieses und jenes schon eingepackt hätte. Manchmal waren solche Diskussionen sogar in Streit ausgeartet.

„Also, mach‘s gut, Rena“, sagte ich zu meiner Schwester und umarmte sie. Ich versuchte, nicht allzu emotional zu werden, merkte aber doch, wie meine Kehle ein wenig trocken wurde.

„Ich wünsch dir ganz, ganz, ganz viel Spaß! Und lass mal von dir hören“, antwortete sie.

„Mach‘s gut, Mama“, wandte ich mich an meine Mutter. Sie hatte bereits Tränen in den Augen und schniefte leise.

„Mach‘s gut, mein Schatz. Meld dich, wenn du angekommen bist.“ Ich versuchte, nicht zu weinen, spürte aber dennoch, wie eine einzelne Träne meine Wange hinunterrann. Dann ging ich durch die Sicherheitskontrolle und konnte anschließend auf der anderen Seite der Glaswand noch sehen, wie meine Mutter mir zuwinkte. Ich winkte kurz zurück, nur um zu zeigen, dass ich sie gesehen hatte, ging dann aber weiter, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Die falsche Ecke der Heide

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