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Pantoffel-Püree

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„Sie haben Ihr Ziel erreicht“, verkündete die freundliche weibliche Stimme aus dem Navi. Kriminal-Hauptkommissar Armin Brasche brummelte: „Ist ja wunderbar“, nahm den Gang heraus und ließ den silbergrauen Audi A4 im Leerlauf langsam den Eyländer Weg hinunterrollen.

„Herrlich, diese Ruhe auf der Bislicher Insel“, stellte er zufrieden fest und rekelte sich gemütlich auf dem anthrazitfarbenen Polster. Sein Kollege Hans Lüdenkamp neben ihm auf dem Beifahrersitz stimmte zu:

„Wie im Sanatorium. Hier müsste man sich ab und zu mal ein Stündchen auf die Wiese legen und nichts tun.“

„Links oder rechts?“, fragte Brasche grinsend.

„Wie, links oder rechts? Hier geht’s doch nur geradeaus“, entgegnete Lüdenkamp verwundert.

„Ich meine, ob du lieber links oder rechts von der Straße nichts tun möchtest.“

Links dösten hinter dem Zaun ein Dutzend schwarz-bunter Kühe vor sich hin; auf der rechten Seite war eine Schafherde damit beschäftigt, das Gras kurz zu halten.

„Das ist mir egal“, ließ Lüdenkamp offen. „Ich würde sowieso erst kommen, wenn die Viecher Feierabend haben.“

Brasche schmunzelte. Typisch Lüdenkamp, dachte er. Der war auch bei der Arbeit im Kriminal-Kommissariat 11 der Kreispolizeibehörde Wesel einer von den ganz Vorsichtigen. Alles musste immer so weit wie möglich geklärt und vorbereitet sein, bevor Lüdenkamp eine Meinung äußerte oder zur Tat schritt. Brasche musterte seinen Kollegen kurz von der Seite. Lüdenkamp hatte die Augen geschlossen und genoss das schöne Wetter. Gestern hatte es noch hin und wieder gereg­net. Jetzt war der Himmel makellos blau, und die Sonne strahlte.

Lüdenkamp schützte seine Augen mit einer schicken Sonnenbrille, und seine Kleidung war wie immer sportlich-lässig: hellblaue stonewashed Jeans, Sneakers und ein orangefarbenes T-Shirt. Der 32-jährige Kommissar war der Schwarm aller Kolleginnen im K 11.

Brasche mochte es etwas konservativer. Er war ja auch schon gute zehn Jahre älter. Er trug dunkelgraue Jeans, einen leichten olivfarbenen Rolli und schwarze Straßenschuhe. Das anthrazitfarbene Sakko, das normalerweise zu seinem Erscheinungsbild gehörte, hatte er ausgezogen und auf den Rücksitz gelegt.

„Na, zufrieden mit mir?“, grinste Lüdenkamp. Er hatte Brasches Seitenblick gespürt. „Bist du sicher, dass ich dir keine Schande mache?“

„Ich schätze, dass die Oma andere Sorgen hat als dein Outfit“, antwortete Brasche. Sie waren auf dem Weg zu einer älteren Frau, die bei der Polizei angerufen und mitgeteilt hatte, dass ihr Mann tot im Wohnzimmer liege. Nein, nicht einfach so. Sie habe schon etwas nachgeholfen.

„Wäre schön, wenn wir jetzt auch mal das Haus finden würden“, meinte Lüdenkamp. Sie rollten gerade am ‚Naturfo­rum Bislicher Insel’ vorbei. Im Innenhof, in den man von der Straße aus hineinsehen konnte, saß eine Gruppe munter Diskutierender im Kreis und genoss ebenfalls das schöne Wetter. Vermutlich beschäftigten sie sich mit den Zigtausend arktischen Wildgänsen, die auch in diesem Jahr wie­der auf der Bislicher Insel Station machen und sich ein Fett­polster für ihre weitere Reise anfressen würden.

„Wo ist denn jetzt die Nummer 17?“, fragte Brasche. „Da kommt nicht mehr ganz viel.“

„Wie heißt die Straße?“ wollte Lüdenkamp wissen.

„Hier steht: Bislicher Insel 17“, erklärte Brasche.

Das Navi hatte die Bislicher Insel akzeptiert, aber nicht die Nummer 17. Die kannte es offenbar nicht.

„Hast du den Weg gesehen, der hier links abgeht? Der heißt Bislicher Insel.“

Brasche setzte ein Stück zurück und bog nach links in den kleinen Feldweg ein. Sie fuhren bis zum Ende, wendeten und kehrten wieder zurück.

„Hier gibt es ganz vorn nur die Nummern 3 und 13. Danach kommen überhaupt keine Häuser mehr“, stellte Lüdenkamp fest. „Lass uns noch mal bis zum Deich zurückfahren.“

Dieses Mal weideten die Schafe links; dafür schnarchten die Kühe rechts. Ein paar von ihnen waren mittlerweile aufgestanden und labten sich an einer ziemlich langen Tränke.

„Das sieht aus wie bei Vera an der Theke“, meinte Lüdenkamp. Vera war die Wirtin des Lokals, in dem das gesamte Kommissariat einmal im Monat kegelte.

Sie kamen jetzt wieder am Naturforum vorbei. Die Gänsefreunde waren inzwischen verschwunden. Vermutlich nahmen sie ihr zweites Frühstück ein. Oder sie waren irgendwo in den umliegenden Feldern und Wiesen unterwegs, um Kammmolche oder Wachtelkönige zu zählen.

Brasche wurde allmählich ungeduldig. Er klopfte einen monotonen Rhythmus aufs Lenkrad, und seine Miene wirkte leicht angespannt.

„Hier rechts ist noch ein kleiner Weg“, verkündete Lüdenkamp, der seine Rückenlehne ein bisschen schräg gestellt hatte und sich gemütlich durch die Gegend kutschie­ren ließ. Sein rechter Arm hing aus dem offenen Fenster, und seine Finger unterstützten Brasches Rhythmus, allerdings in doppeltem Tempo.

Brasche bog nach rechts ab in einen zugewachse­nen, schmalen Feldweg. Zweige streiften durch die geöffneten Fenster. Endlich wurde ein kleiner Kotten sichtbar, der auf einem Hügel - hinter Kopfweiden versteckt - lag und von der Straße aus nicht zu sehen war. Ein kleines, verwunschenes Häuschen, früher vermutlich Teil eines Bauernhofes, das zur Hälfte mit Efeu zugewachsen war. Sogar von dem Dach war nur noch ein kleiner Teil sichtbar. Ein paar Butzenscheiben ließen sicher nicht allzu viel Licht in das Haus. Neben der Haustür war eine schmiedeeiserne ‚17’ angebracht und ein getöpfertes Namensschild: ‚Bullmeier’.

Brasche drückte schon zum dritten oder vierten Mal auf den Klingelknopf. Gleichzeitig rüttelte er ungeduldig an dem Türknauf. Endlich wurde im Haus ein leises Schlurfen hörbar; quiet­schend und ächzend öffnete sich die alte Eichentür.

„Hallo, Sie müssen schon klingeln, wenn Sie rein wollen! Wenn Lisa nicht Bescheid gesagt hätte, hätte ich Sie gar nicht bemerkt“, begrüßte sie eine alte weißhaarige Frau um die 80.

„Mein Name ist Brasche, Hauptkommissar Brasche. Das ist mein Kollege Lüdenkamp. Sie haben angerufen?“

„Ja. Gut, dass Sie endlich kommen. Meinem Mann geht es nicht gut.“

„Wie? Geht es nicht gut? Am Telefon haben Sie gesagt, dass er tot ist“, wunderte sich Brasche.

Die Antwort der alten Frau verwunderte ihn noch mehr: „Er hört so schlecht.“

„Und deswegen rufen Sie die Polizei?“

Brasche warf Lüdenkamp einen kurzen Blick zu. Die beiden waren sich spontan einig, dass die Oma, die jetzt vor ihnen durch den düsteren Hausflur tapste, nicht ganz ernst zu nehmen war. Der Einsatz würde wahrscheinlich schnell erledigt sein. Abzuhaken unter: falscher Alarm; etwas merkwürdige Alte.

Sie waren inzwischen in der Küche angekommen und setzten sich an den in der Mitte stehenden Küchentisch. Die Tischdecke, rotblau gemustert und aus Plastik, lag ein wenig schief. Brasche war stark in Versuchung, sie gerade zu ziehen.

„Er hört so schlecht, und deswegen ist er jetzt tot“, hörte er die alte Frau sagen.

Lüdenkamp mischte sich ein: „Ich habe noch nie gehört, dass Schwerhörigkeit zum Tod führt.“

„Die nicht, aber die Kartoffeln“, war die Antwort.

„Die was?“ fragte Brasche ungläubig. „Aber lassen Sie uns zuerst einmal Ihre Personalien aufnehmen; und dann erzählen Sie uns ganz genau, was passiert ist. Sie heißen?“

„Ja, beißen konnte er in letzter Zeit auch nicht mehr so gut. Deshalb habe ich ihm ja fast nur noch Kartoffelpüree gemacht. Das isst Lisa auch so gern.“

Brasche hatte den Eindruck, dass die Schwerhörigkeit epidemisch um sich griff. Etwas lauter fragte er: „Lisa ist Ihre Tochter?“

„Ob er kocht? Nein, er kocht nicht. Er hat er in seinem ganzen Leben noch nicht gekocht. Und jetzt ja sowieso nicht mehr.“

Brasche stöhnte kurz. Dann fragte er: „Sie heißen Bullmeier? So steht es jedenfalls auf dem Klingelschild vorn an der Haustür. Ihr Vorname?“

„Möchten Sie Kaffee?“

„Nein, danke. Ich wüsste gern, wie Sie heißen.“

„Elsa Bullmeier. Früher hieß ich Berta Möllering.“

„Möllering ist also Ihr Mädchenname?“

„Ja“.

„Und wieso jetzt Elsa und früher Berta?“

„Herta hieß meine Schwester, aber die ist schon lange tot. Die hat in Neukirchen-Vluyn gewohnt. Gemeinsam mit ihrem Mann und …“

Brasche unterbrach sie. „Ich möchte gern wissen, wieso Sie jetzt Elsa heißen?“ fragte er ziemlich laut.

„Weil Egons Frau auch Berta hieß. Da habe ich meinen zweiten Vornamen genommen. Meine Patentante hieß Elsa.“

„Und wer ist Egon?“

„Mein Mann“.

„Dann hat Egon zwei Frauen?“

„Ja. Aber nacheinander. Wie sich das gehört. Egon und ich, wir sind jetzt auch schon fast 40 Jahre verheiratet. Aber in letzter Zeit geht es ihm nicht mehr so gut.“

„Das sagten Sie bereits. Er hört schlecht“. Brasche klang genervt. Er sprach sehr langsam und viel lauter als sonst. Das tat er immer, wenn er genervt war. Lüdenkamp waren diese Anzeichen nur zu vertraut, und er zog vorsichtshalber schon mal den Kopf ein.

„Wo ist Ihr Mann jetzt?“, fragte Brasche.

„Er liegt im Wohnzimmer.“

„Er hat sich hingelegt?“

„So kann man es wohl sagen.“

„Können wir ihn mal sehen?“

„Sehen kann er noch ganz gut. Nur mit dem Hören ...“

Brasche rief: „Wir möchten ihn sehen!“

„Das ist aber kein schöner Anblick.“

Lüdenkamp sagte: „Das macht nichts. Das sind wir gewohnt.“

Brasche fragte - diesmal sehr leise, er flüsterte fast:

„Ist Ihre Tochter bei ihm?“

Elsa flüsterte zurück: „Wir haben keine Tochter.“

„Und wer ist Lisa?“

„Unsere Katze. Die hat auch schon von den Kartoffeln gegessen.“

Brasche sprang auf. Bisher hatte er gehofft, dass der Tote nur in der Fantasiewelt von Oma Bullmeier existierte. Aber jetzt kamen ihm doch Zweifel.

Mit Lüdenkamp im Schlepptau stürmte er aus der Küche und über den Flur. Er riss die Tür zu dem gegenüberliegen­den Raum auf, wo er das Wohnzimmer vermutete. Dann sah er ihn: Mitten zwischen uralten dunklen Möbeln, im kargen Licht von ein paar Sonnenstrahlen, lag ein etwa 80 Jahre alter Mann mit wuseligem weißen Bart und weit aufgerisse­nen Augen. Um seinen Kopf herum war eine Anzahl roher Kartoffeln verstreut, und daneben lag ein verbeulter Aluminiumkochtopf.

Lüdenkamp stellte fest, dass der alte Mann tot war, und er schloss ihm die Augen.

Elsa Bullmeier saß jetzt auf einem roten Plüschsofa an der Stirnseite des Wohnzimmers, gegenüber der Tür, und betrachtete von dort aus das Geschehen. Sie hatte einen breitrandigen schwarzen Hut mit Schleier aufgesetzt und stellte offenbar die trauernde Witwe dar. Brasche blickte sie verwundert an.

Elsa erklärte: „Der ist noch von der Beerdigung meiner Schwester - vor 13 Jahren. Aber noch wie neu. Möchten Sie Kekse?“

„Nein, danke“, kam unisono die Antwort von Lüdenkamp und Brasche.

Lüdenkamp verließ den Raum. Er informierte seine Kollegen vom K 11 und forderte den Polizeiarzt an. Dann ging er in die Küche, wo Brasche und Elsa Bullmeier inzwischen wie­der an dem Tisch mit der rotblauen Plastikdecke saßen. Die lag jetzt gerade. Die Befragung wurde fortgesetzt.

„Seit wann liegt Ihr Mann hier so?“, fragte Brasche.

„Seit das mit den Kartoffeln passiert ist.“

„Was ist denn nun eigentlich geschehen?“, wollte Lüdenkamp wissen.

„Das ist alles nur gekommen, weil Egon so schlecht hört. Er sollte mir die Pantoffeln bringen.“

„Ja, und dann?“

„Dann hat es ewig gedauert, bis er endlich wiederkam.“

„Ja, und dann?“ Brasche versuchte, das Ganze ein biss­chen zu beschleunigen.

„Dann hat er mir den Topf mit den Kartoffeln in die Hand gedrückt.“

„Ja, …?“

„Dann hat er gesagt: Da hast du Deine Kartoffeln.“

„Und dann?“

„Dann hat er gesagt, ich hätte gesagt, er sollte Kartoffeln holen. Dabei habe ich doch gesagt, er sollte mir die Pantoffeln bringen. Doch keine Kartoffeln! So'n Quatsch! Dann hat er gesagt, ich würde immer so nuscheln. Und manchmal wüsste ich überhaupt nicht, was ich wollte.

Das ginge ihm alles ziemlich auf die Nerven. Und das nicht erst seit gestern, sondern schon fast 40 Jahre. Und wenn er das alles früher gewusst hätte, dann hätte er gar nicht erst geheiratet; jedenfalls nicht zum zweiten Mal. In der Zeit vor unserer Hochzeit wäre alles viel besser gewe­sen. Und hören könnte ich auch nicht mehr richtig. Und ir­gendwie wäre ich manchmal nicht ganz bei Trost. Ich bildete mir ein, dass wir eine Katze hätten. Und meine ver­dammten Pantoffeln sollte ich gefälligst selbst holen.“

Berta machte eine Pause und seufzte tief. Dann fuhr sie

fort: „Da war auf einmal der Topf mit den Kartoffeln auf

seinem Kopf, und es hat so ein merkwürdiges Geräusch gemacht. Und dann war alles ruhig. Möchten Sie vielleicht ein Schnäpschen?“

Brasche und Lüdenkamp wollten kein Schnäpschen. Lü­denkamp telefonierte noch einmal und forderte auch die Spurensicherung an. Es dauerte nicht lange, bis der Arzt und die Kollegen erschienen und ihre Arbeit machten. Elsa Bullmeier wurde zur Untersuchung in die psychiatrische Abteilung des St. Vinzenz-Hospitals in Dinslaken gebracht.

Der Fall de Mol

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