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Der Flusstunnel

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„Wir kommen jetzt zu einem Thema, das Sie überraschen wird: zu den sogenannten ‚Flusstunnels’. Das sind Tunnels, die Flüsse unterqueren. Davon gibt es diverse. Auch unter dem Rhein, beispielweise den Rheindüker in Basel, einen Fernwärmetunnel in Köln oder den Tunnel unter der Nieuwe Maas in den Niederlanden.

Der allererste Flusstunnel wurde in London gegraben und 1843 für den Verkehr mit Pferdekutschen freigegeben. Er unterquerte die Themse und war so hoch bemessen, dass auch für die Kutscher und ihre Peitschen ausreichend Platz vorhanden war. 1869 wurde der erste amerikanische Flusstunnel in Chicago eröffnet. In Deutschland behaupten die Stadtstaaten Berlin und Hamburg, jeweils den ersten Flusstunnel gebaut zu haben: Berlin 1899 unter der Spree und Hamburg 1911 unter der Elbe.“

Anne Nielsen unterbrach ihren Vortrag kurz, um zu kontrollieren, ob sie noch alle ihre Schäfchen beisammen hatte. Vierzehn Männlein und Weiblein verschiedenen Alters hatte sie vor einer guten Stunde vor der Stadtinformation am Großen Markt zu einer ‚Stadtführung durch das historische Wesel’ abgeholt, und alle vierzehn standen jetzt um sie herum.

Anne war eine vor mehreren freiberuflichen Mitarbeiterinnen des Weseler Verkehrsvereins, die einmal in der Woche interessierte Tou­risten, manchmal aber auch Einheimische durch die Stadt führten.

„Keine der beiden Städte hat recht“, fuhr Anne fort.

„Der erste deutsche Flusstunnel ist hier bei uns in Wesel gebuddelt worden, und zwar in den Jahren 1872 bis 1874. Er unterquert den Rhein von der Promenade auf der rechtsrheinischen Seite - etwa hier, wo wir jetzt stehen - bis nach Büderich auf der gegenüberliegenden Seite.“

Anne hatte lange überlegt, ob sie heute schon von dem Weseler Rheintunnel berichten sollte. Eigentlich wusste sie noch viel zu wenig darüber. Andererseits war sie offenbar die Einzige, die überhaupt Kenntnis von dem Tunnel hatte. Diesen Vorsprung wollte sie ausnutzen.

Eine kurze atemlose Stille folgte ihren Ausführungen. Dann ein wirres Durcheinander von aufgeregten Stimmen:

„Davon habe ich noch nie gehört.“

„Wo soll der Tunnel denn sein?“

„Sie wollen uns wohl verschaukeln!“

„So ein Quatsch!“

„Der erste April ist doch längst gewesen!“

Anne nickte verständnisvoll: „Ich kann Sie gut verstehen“, versuchte sie ihre aufgeregten Zuhörer zu beschwichti­gen. „Bis vor ein paar Tagen hätte ich genauso reagiert. Aber dann habe ich zufällig Unterlagen über den Bau des We­seler Rheintunnels in die Hände bekommen. Danach steht ohne Zweifel fest, dass es hier ganz in der Nähe einen Tunnel gibt, der früher für militärische Zwecke genutzt worden ist.“

„Wann soll der gebaut worden sein?“, fragte einer der Zuhörer, jetzt wieder in sachlichem Ton.

„Wie ich schon sagte: zwischen 1872 und 1874.“

„Das war ja noch lange vorm Ersten Weltkrieg. Welchen Sinn hätte ein solcher Tunnel denn damals gemacht?“

„Der Tunnel war nur für Fußgänger vorgesehen. Genauer gesagt, für geheime Fußgänger. Wesel war seit ewigen Zeiten Garnisonsstadt. Und die Soldaten, zur Zeit des Tunnelbaues preußische, wussten immer gern, was sich auf beiden Seiten des Rheins abspielte. Der war nämlich schon immer eine natürliche Grenze: für die alten Römer, für die Franzosen und in unserer jüngeren Vergangenheit - zum Ende des Zweiten Weltkrieges - kurzfristig auch für die Alliierten.“

Anne sammelte sich kurz und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Sie würde wohl doch etwas detaillierter Auskunft geben müssen. Die Vierzehn sahen sie erwartungsvoll an.

„Als 1872 hier genau vor uns mit dem Bau der Weseler Eisenbahnbrücke begonnen wurde, gab die Garnison - mit Einwilligung des preußischen Staates, der auch die Finanzierung übernahm - gleichzeitig die Untertunnelung des Rheins in Auftrag. Das Militär wollte damit sicherstellen, dass der Wechsel von einem zum anderen Rheinufer jederzeit möglich war, auch im Falle einer Zerstörung der Eisenbahnbrücke durch feindliche Mächte.“

Anne zeigte auf den wuchtigen Brückenkopf ein paar Meter vor ihnen.

„Stellen Sie sich eine Verbindung von diesem Brückenkopf - über den Rhein - bis zu dem Gegenstück da drüben auf dem Büdericher Ufer vor. Da überquerte damals die Eisenbahnbrücke den Rhein. Der Tunnel ist vermutlich nicht sehr weit davon entfernt. Aber wo er genau verläuft, ob man ihn flussaufwärts oder flussabwärts suchen muss, das weiß ich leider auch nicht.“

Die Zuhörer waren jetzt ganz still. Einer wandte vorsichtig ein: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein solches Projekt ohne Zeugen über die Bühne gegangen sein soll.“

Anne antwortete: „Das Ganze wurde tatsächlich völlig geheim abgewickelt. Dazu wurde das Baugebiet auf beiden Seiten des Rheins weiträumig abgesperrt, und die Beteiligten waren zu absolutem Stillschweigen verpflichtet über alles, was sie hörten und sahen.“

Eine Zuhörerin meinte: „Ich kann das immer noch nicht glauben. Ich bin alte Weselerin und habe noch nie von einem solchen Tunnel gehört. Auch nicht von meinen Eltern oder Großeltern. Da müsste doch irgendwann mal etwas durchgesickert sein. Vor allem in den letzten Jahrzehnten. In der Zitadelle gibt es doch seit ewigen Zeiten keine Soldaten mehr.“

„Ich weiß auch nur, dass es diesen Tunnel gibt, und dass er ungefähr hier beginnt beziehungsweise endet. Alles Weitere müsste erst noch untersucht werden. Sie sind die Ersten, die überhaupt von der Existenz des Tunnels erfahren.“

Anne konnte ihre Zuhörerinnen und Zuhörer damit natürlich nicht zufriedenstellen. Schließlich ließen sie sich aber doch dazu bewegen, ihre Runde durch Wesel fortzusetzen. Bis zum Dom war dann eine aufgeregte Diskussion im Gang.

Der Fall de Mol

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