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Streng geheim

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Anne Nielsen war ziemlich unglücklich über den plötzlichen Tod ihres Opas. Und besonders die Begleitumstände machten ihr natürlich zu schaffen. Sie hatte zwar, vor allem in den letzten Monaten, ab und zu Auseinandersetzungen zwischen ihren Großeltern mitbekommen, aber das war nach ihrer Einschätzung das übliche Gekabbel zwischen langjährigen Eheleuten. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass ihre Oma fähig war, gegen den Opa gewalttätig zu werden. Aber nachdem der Arzt jetzt eine Demenz in fortgeschrittenem Stadium festgestellt hatte, war die Oma ja auch nicht wirklich für ihre Tat verantwortlich. Das Ganze war zwar schwer zu begreifen, aber letztlich nicht zu ändern. Und Anne hätte es auch nicht verhindern können.

Sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Ihre Oma würde wohl nicht mehr in den Kotten auf der Bislicher Insel zurückkehren. Und der war im momentanen Zustand kaum bewohnbar. Zu einer Renovierung fehlte ihr aber das Geld. Außerdem fühlte sie sich in ihrem kleinen Appartement richtig wohl. Also schaute sie zuerst einmal nach, was sonst noch in dem Kotten vorhanden war.

Mit den Büchern konnte sie nichts anfangen. Alle stammten offenbar aus der Jugendzeit ihrer Großeltern und waren schon ziemlich zerlesen: meterweise Karl-May-Abenteuer und Ganghofer-Romane sowie ein zwölfbändiges, in Leder gebundenes Konversationslexikon und diverse inzwischen braun angelaufene Papiere. Ganz zum Schluss fand Anne noch, versteckt im Regal hinter dem Lexikon, einen flachen Pappkarton mit dem leuchtend roten Stempelaufdruck „STRENG GEHEIM!“, der mit Einweckglas-Gummibändern verschlossen war. Den Karton nahm Anne mit, sperrte sorgfältig die Haustür zu und machte sich wieder auf den Heimweg. Unterwegs begegnete ihr ein kleiner Trecker, grün wie ein Laubfrosch, mit diversen Roststellen. Der Fahrer, vermutlich ein Bauer von der Bislicher Insel, winkte ihr freundlich zu.

Als sie später zu Hause voller Neugier den Pappkarton öffnete, fand sie darin eine Reihe von Papieren und Dokumenten, die jeweils mit dem aufgestempelten Vermerk „STRENG GEHEIM“ versehen waren. Ganz oben lagen zwei mit einer Schreibmaschine getippte Blätter, von denen das Erste unvollständig war. Das obere Drittel war abgerissen. Der restliche, noch erhaltene Schreibmaschinentext lautete:

… DEN BEI DER EIGENART DER HIESIGEN VER-HAELTNISSE AUCH IM AUSLANDE UNMITTELBAR ZU BE- NUTZENDE VORBILDER NICHT VORHANDEN WAREN, WIE BEI ALLEN NEUEN UNTERNEHMUNGEN NEBEN DEN KINDERKRANKHEITEN VIELFACHE ERNSTE SCHWIERIGKEITEN ZU UEBERWINDEN WAREN, DIE EINE STETE AUFMERKSAMKEIT DER ARBEITER ERFORDERTEN. VON ALLGEMEINER BEDEUTUNG DUERFTE DIE THATSACHE SEIN, DASS ES TROTZ DER SICH AUS DER NEUHEIT DES UN-TERNEHMENS ERGEBENDEN SCHWIERIGKEITEN GELUNGEN IST, DIE TUNNELANLAGE IN ZWECKENTSPRECHENDER ANORDNUNG, IN GEPLANTER RICHTUNG UND STANDFESTER UND DAUERHAFTER BESCHAFFENHEIT HERZSTELLEN UND SO ABZUDICHTEN, DASS DER TUNNEL WOHL ZU DEN TROCKENSTEN SEINER ART ZU RECHNEN SEIN WIRD. BESONDERS ERFREULICH IST AUCH, DASS NENNENSWERTE UNFAELLE BEI DEM TUNNELBAU NICHT VORGEKOMMEN SIND, UND DASS DIE ARBEITER DIE ZWEIJAEHRIGE THAETIGKEIT IN DER PRESSLUFT OHNE NACHTEIL ERTRAGEN HABEN. DER EINZIGE UEBELSTAND, DER SICH WAEHREND DES TUNNELBAUES HERAUSSTELLTE, WAR, DASS MANCHMAL DER INHALT DER GEFOERDERTEN BODENMASSEN ETWAS GROESSER WAR, ALS DER RAUM, DER VON DEM FORTSCHREITENDEN TUNNELROHR AUSGEFUELLT WURDE, SODASS SACKUNGEN DES GELAENDES UEBER UND DICHT NEBEN DEM TUNNEL ENTSTANDEN. DIESER AUF EINEN MANGEL DES BRUSTSCHILDES ZURUECKZUFUEHRENDE UEBELSTAND KONNTE NATUERLICH WAEHREND DES ARBEITSVORGANGES NICHT BESEITIGT WERDEN, DA EINE AENDERUNG DES IM UN-TERGRUND BEFINDLICHEN SCHILDES NICHT MEHR MOEGLICH WAR. DERARTIGE SACKUNGEN HATTEN UEBRIGENS AUF DEN BAU DES RHEINTUNNELS KEINERLEI NACHTEILE.

ERWAEHNENSWERT BLEIBT NOCH, DASS DER WESELER RHEINTUNNEL DER ERSTE IN DEUTSCHLAND MIT DEM BRUSTSCHILDE VORGETRIEBENE TUNNEL IST.

WESEL, IM FEBRUAR 1875

WALTHER MOELLERING, BERGBAUINGENIEUR

Anne amüsierte sich über die ungewöhnliche Schreibweise: ‚Verhaeltnisse, ueberwinden, moeglich’ und so weiter; die von dem Verfasser des Textes benutzte Schreibmaschine hatte wohl nur große Buchstaben und noch keine Umlaute gekannt. Sie wunderte sich auch über das ‚Th’ bei den Wörtern ‚Thatsache’ und ‚Thaetigkeit’. Das war vermutlich die damals übliche Schreibweise.

Und sie las zu ihrem großen Erstaunen, dass es in Wesel einen Rheintunnel gab. Davon hatte sie noch nie gehört.

Anne wusste, dass ihre Oma Elsa eine geborene Möllering war. Und die hatte öfter von ihrem Urgroßvater erzählt, der ein berühmter Bergbauingenieur gewesen sei. Dass der auch in Wesel seine Spuren hinterlassen hatte, davon war allerdings nie die Rede gewesen. Komisch.

Aus den übrigen Unterlagen ging hervor, dass der in den Jahren 1872 bis 1874 gebaute Rheintunnel zu den Befestigungsanlagen der Weseler Garnison gehörte. Er sollte militärischen und geheimdienstlichen Zwecken dienen, und seine Existenz war außer den Arbeitern nur einem ganz kleinen Personenkreis bekannt. Diesen war es bei Androhung ‚des Todes durch ein Erschießungskommando’ verboten, „die Existenz oder Einzelheiten des Weseler Rheintunnels an Unbefugte zu verraten.“

Diese Drohung hatte offenbar 130 Jahre gewirkt. Nur so war es zu erklären, dass kein Weseler, Weselaner oder Weselinski bis heute von einem Rheintunnel in Wesel erfahren hatte.

Anne konnte sich nicht vorstellen, wie es zu den damaligen Zeiten möglich gewesen sein sollte, einen solchen Tunnel unter dem doch ziemlich breiten Rhein zu bauen. Sie sah in ihrer Fantasie lange Kolonnen von Arbeitern, die sich mit Schüppen und Eimern in einer Reihe aufstellten, um sich dann unter dem Fluss Meter für Meter durch Sand und Kies buddelten. Wenn es damals schon Satellitenfotos gegeben hätte, hätten die Arbeiter von oben bestimmt wie eine Ameisenkolonne ausgesehen.

Anne fiel siedend heiß ein, dass sie ihre Freundin Enna noch gar nicht über den Beerdigungstermin ihres Opas informiert hatte. Die Beerdigung sollte schon am nächsten Tag stattfinden. Wohl im ganz kleinen Kreis. Annes Großeltern hatten seit Jahren nur noch ganz wenige Kontakte gepflegt. Auch die wenigen Nachbarn auf der Bislicher Insel kannten sie kaum. Deshalb hatte Anne sich Trauerbriefe und -anzeigen erspart.

Anne rief Enna an und bat sie, zur Beerdigung zu kommen.

„Du hast Opa Egon doch gekannt“, meinte sie ein bisschen traurig. „Und sonst weiß ich keinen, der dabei sein könnte. Oma Elsa auf gar keinen Fall. Die weiß nicht ein-mal, dass Opa nicht mehr lebt.“

Enna sagte zu. Sie würde pünktlich da sein. Hinterher wollten die beiden noch einen Kaffee zusammen trinken.

Das Gespräch dauerte nur ein paar Minuten. Normalerweise hätte Anne und Enna mindestens eine Stunde gebraucht, um ‚das Wichtigste’ auszutauschen. Heute hatten aber beide nicht viel Zeit. Deswegen beschränkte sich Anne zum Schluss auf einen ganz kurzen Bericht über die ‚Rheintunnel-Sensation’.

Anne wühlte weiter in den ‚streng geheimen’ Unterlagen und fand weitere Informationen über den Bau des Rheintunnels. Danach wurde in Wesel zum allerersten Mal ein aus dem Bergbau bekanntes Verfahren, der sogenannte ‚Brust-Schildvortrieb’, angewandt. Die eigentliche Tunnelröhre setzte sich aus Eisenplatten zusammen, die bei Krupp in Essen gepresst wurden. Je fünf solcher Platten wurden zu einem kreisförmigen Ring mit einem Durchmesser von drei Metern zusammengeschraubt. Dann wurden mehrere dieser Ringe zusammengefügt und mit hydraulischen Pressen nach vorn geschoben. So wurde die Tunnelröhre täglich um ein bis zwei Meter verlängert.

Ganz vorn in der Röhre, in dem ‚Brustschild’, befanden sich die Arbeiter. Sie gruben das Erdreich aus, das dann durch die Röhre nach hinten transportiert wurde.

Um die Arbeiter vor Grundwasser zu schützen, wurde komprimierte Luft in den abgeschotteten Schild geblasen. Damit wurde das Eindringen von Wasser verhindert. Bevor die Arbeiter in die Röhre gingen, mussten sie sich je-des Mal zuerst ein paar Minuten in einer Luftschleuse auf­halten, in der der Luftdruck allmählich gesteigert wurde, bis er dem Druck in dem Brustschild entsprach.

Anne fand das Ganze ziemlich spannend. Besonders den Hinweis, dass manchmal ein kleiner Affe in den Brustschild mitgenommen wurde, der auch kleinste Veränderungen des Luftdrucks sofort spüren und signalisieren konnte. Der Affe wurde von den Arbeitern liebevoll ‚Luftikus’ genannt. Auch er hatte seine Einsätze unbeschadet überstanden.

Der Fall de Mol

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