Читать книгу Philosophie im Zeitalter der Extreme - Gerhard Gamm - Страница 10

Der Mensch als geworfener Entwurf

Оглавление

M. Heidegger

Was uns denken heißt,

gibt zu denken.

M. Heidegger

Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit ist 1927 veröffentlicht worden und zählt zu den ganz großen Werken der Philosophie im 20. Jahrhundert.11 Seine Philosophie kann man nur schwer einer Richtung zuordnen, am ehesten noch der Existenzphilosophie. Existenzontologie ist der Name, den Heidegger selbst für sein frühes Hauptwerk benutzt.

Man könnte sagen, alles dreht sich bei Heidegger (1889–1976) um den Gedanken des Daseins. Existieren bedeutet – wie bei Kierkegaard und Jaspers – Sich-befinden-in-einer-Welt, in einer Situation, und Heidegger beschreibt dieses Sich-in-der-Welt-befinden als „Geworfenheit“. Aber auch – und das ist der zweite Gedanke – die Welt und sich entwerfend. Daher die Überschrift: das Dasein (des Menschen) als geworfener Entwurf. Für Heidegger ist der Mensch niemals ein Ding unter anderen Dingen. Er ist ein Wesen, dem es in seinem Sein um ihn selber geht. Daran schließen sich unmittelbar zwei Gedanken an: Von Anfang an steckt dieses Dasein logisch wie existenziell in einem Selbstverhältnis, das Dasein ist ein Wesen, das sich zu sich selbst verhalten muss. Heidegger bezieht sich u. a. auf Kierkegaard, der das menschliche Selbst als Selbstverhältnis definiert hat: Der Mensch ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.12

Heidegger nennt den Menschen oder die menschliche Subjektivität das „Dasein“. Er spricht nicht vom „Menschen“, vom „Individuum“, vom „Subjekt“, vom „Ich“, sondern sein Ausdruck in Sein und Zeit ist „Dasein“. „Dasein“ ist der Begriff für dasjenige Seiende, das sich aufgrund seiner Subjektivität von allem anderen Seienden in der Welt unterscheidet. Dieses Dasein ist in der Welt, und zwar als ein geworfenes Wesen, aber es muss sich auch selbst entwerfen und es kann sich selbst entwerfen, weil es von Anfang an, oder wie Heidegger sagt, „immer schon“ in einem Selbstverhältnis steckt. Wir können das Selbstverhältnis nicht loswerden. Dieses Sich-vorentwerfen geschieht – das ist sachlich der nächste Gedanke, den Heidegger anschließt – im Bewusstsein seiner Sterblichkeit, im Blick auf den eigenen Tod. Heideggers Ausdruck: Leben ist Vorlaufen zum Tode oder Dasein zum Tode. Wenn aber der Mensch sein Leben im Schatten des Todesbewusstseins fristen muss, dann stellt sich Heidegger zufolge das Problem des Existierens als Problem des Sinns von Sein. Was hat das Leben für einen Sinn, wenn es immer schon gelebt wird im Horizont der Endlichkeit oder der Unwiderruflichkeit des kommenden Todes?

Es gibt einen zweiten Strang in Sein und Zeit, dem es darum geht, wie unter diesen Bedingungen ein eigenes Ganzseinkönnen möglich sein könnte. Zunächst, Heidegger verteidigt in diesem Buch oder insgesamt in seinem Denken die innere Freiheit des Menschen, wenn auch in einer für uns zum Teil befremdlichen Sprache. Er verteidigt sie gegen eine wissenschaftlich-technisch verstandene Organisation der Welt, und sein Zentralbegriff Sein ist in gewisser Weise ein Gegenbegriff, ein Gegenprogramm zu einer Welt, die glaubt, allein vom Seienden her denken zu können. Seiendes ist die Art von Sein, das wir als kategorisierbare, messbare, berechenbare, technisch herstellbare Objektivität der Welt verstehen. Seiendes ist das, was wir gegenständlich oder dinglich fassen können, worüber wir verfügen, d. h., worauf wir Kategorien anwenden können.

Heidegger wirft nun der gesamten abendländischen Philosophie bis zu ihm hin vor, dass sie (das) Sein immer unter der Form des (vor- und herstellbaren) Seienden gedacht habe. Die gesamte Philosophie habe darin versagt zu verstehen, was Sein und der Sinn von Sein ist, und dieses Sein immer als gegenständlich Seiendes ausgelegt und verstanden. Für diese Diagnose besitzt er eine Formel: Man muss von der ontologischen Differenz her denken. Zwischen beidem, zwischen Sein und Seiendem, gibt es eine wesensmäßige Differenz. Und was heißt es jetzt für Heidegger, im Sinne des Seinsdenkens zu verfahren? Da gibt es eine Reihe von Begriffen, die helfen, wenigstens andeutungsweise zu verstehen, was mit diesem Sein gemeint ist, nämlich Sein im Sinne der Existenz, des Daseins als Entwurf, der Offenheit für die Zukunft, Erinnerung, Erwartung, Furcht und Hoffnung, Angst, Verzweiflung. Das ist der Hintergrund seiner gesamten Philosophie: Er glaubt, dass die Art und Weise, wie die Menschen in der Welt sind, nicht vollständig kategorial im Rahmen eines berechenbaren, eines justierbaren, eines technisch organisierbaren Seienden verstanden werden kann und auch nicht so verstanden werden darf. Das ist der Grundgedanke, der in seiner späteren Philosophie – nach der „Kehre“ – gegenüber Sein und Zeit nochmals radikalisiert wird.

Dasein ist je seine Möglichkeit

Soweit, so gut, könnte man sagen, es erhebt sich aber sogleich die Frage, wie wir an dieses Sein, das so gar nicht unserem gegenständlichen Verstandesgebrauch gehorcht, herankommen können? Heidegger hat darauf im Verlauf seines fast fünfzigjährigen Philosophierens ganz unterschiedliche Antworten gefunden; mal glaubte er, dass wir mithilfe der Kunst, der Dichtung näher an diese Weise des In-der-Welt-Seins herankommen als in der Wissenschaft, mal spricht er von einer bestimmten Form des Denkens oder des Andenkens des Seins. Grundlegend ist, dass Heidegger versucht, in Form eines neuen Vokabulars, einer neuen Sprache der Reduktion des Menschen auf ein Seiendes zu entgehen.

Man könnte sagen, in Sein und Zeit entwickelt er die Strukturmomente des Daseins oder die Strukturmomente der menschlichen Existenz. Diese nennt er Existenzialien. Sie beschreiben den Grundbegriff des Daseins. Was charakterisiert das Dasein (das man vorläufig auch mit „menschliche Subjektivität“ übersetzen kann)? Die Existenzialien erfüllen dieselbe Funktion wie für Kant die Kategorien als Strukturformeln für unser Denken. Heidegger wird Strukturformeln für unser Existieren entwickeln, er geht nicht vom Denken aus, sondern davon, wie die Menschen in der Welt existieren. Die Kategorien sind bei Kant bezogen auf unsere Urteile, auf unser Erkennen, während Heidegger im Unterschied dazu Grundbegriffe für unser – das ist eine erste Charakteristik – In-der-Welt-Sein zu entwickeln sucht. Er will nicht die Grundbegriffe unseres Urteilens über die Welt entwickeln, sondern die Existenzialien als elementare oder fundamentale Seinsweisen unseres Lebens, hinter die wir nicht zurückkönnen. So ein Begriff ist zum Beispiel die Möglichkeit. Bei Kant ist der Begriff der Möglichkeit ein Modalbegriff, dem unser Urteil, unser Verstandesurteil in der Unterscheidung nach Wirklichem, Möglichem und Notwendigem folgt. Heideggers Begriff für „Möglichkeit“ als Existenzial ist Sein-Können. Das Existenzial Sein-Können beschreibt einen fundamentalen Modus unseres In-der-Welt-Seins. Es betrifft unsere Existenz. Heidegger zufolge sind wir nicht festgelegt, sondern dieser Seinsmodus der Möglichkeit gestattet uns, wählen zu können. Heideggers Formulierung lautet, Dasein ist je seine Möglichkeit. Nicht irgendeine Möglichkeit, sondern eine wesensmäßige Möglichkeit dieses Daseins: In eine bestimmte Spannung gestellt zu sein, die uns herausfordert, uns zur Welt, zu den anderen in ein durch eine Entscheidung bestimmtes Verhältnis zu bringen.

Diese Betroffenheit unserer Existenz ist auch ein Grund, weshalb Heidegger nicht mehr vom Subjekt und dem Objekt als dessen Korrelat spricht. In Absetzung von der gesamten neuzeitlichen Philosophie setzt er an diese Stelle das Dasein und dessen In-der-Welt-Sein. Was ist Heideggers Motiv, sich derart von der traditionellen Terminologie unseres Denkens in Subjekt/Objekt-Begriffen zu lösen und einen für unsere Ohren etwas befremdlichen Jargon zu entwickeln?

Wenn wir die Welt unter der Vorgabe einer Subjekt/Objekt-Struktur betrachten, dann sieht es so aus, als ob wir immer zunächst und fundamental als Erkennende in der Welt wären. Das ist der implizite Primat des Erkennens in der traditionellen neuzeitlichen Philosophie. Subjekt und Objekt, anders gesagt das Vorstellende und das Vorgestellte, verengen unser Selbst- und Weltverhältnis, indem sie sich vorrangig auf die kognitive Organisation unseres Weltverhaltens beziehen, auf eine Organisation, die wesentlich durch Denken und Erkennen bestimmt ist. Heidegger sagt, das aber sei nicht der fundamentale Bezug, den die Menschen zu sich selbst, zu den anderen Menschen und zur Welt insgesamt hätten. Sie seien nicht ursprünglich als Erkennende da, vielmehr gebe es „vor“ dem Erkennen noch viel grundlegendere oder elementarere Bezüge des Menschen zur Welt. Bevor wir nämlich überhaupt anfangen, etwas zu erkennen, Gegenstände und Ereignisse als Objekte zu betrachten, sind wir in der Welt immer schon gestimmt oder befinden wir uns irgendwie immer schon in einer bestimmten Lage.

In-der-Welt-Sein

Die fundamentalste Fassung des Daseins ist für Heidegger sein In-der-Welt-Sein, dessen drei Modi oder Strukturmomente, nämlich Befindlichkeit, Verstehen und Rede, im Folgenden erläutert werden.

Zunächst jedoch nimmt sich Heidegger den Terminus „In-der-Welt-Sein“ Wort für Wort vor. Was heißt „Welt“ in der Philosophie? Im herkömmlichen Verständnis ist Welt der Inbegriff der Tatsachen, der Inbegriff allen Seins, der Inbegriff aller Dinge. Heidegger setzt einen anderen Akzent: Die Weltlichkeit des Menschen besteht darin, dass die Welt ein Horizont ist, der sich in gewisser Weise schließt, in der Schließung sich aber wiederum öffnet, anders als die Umwelt der Tiere. Diese ist eine geschlossene Welt von Nischen; die Zecke lebt in der Umwelt der Buttersäure, der Darwinfink lebt in der Umwelt, in der dem Darwinfinken ein Überleben möglich ist. Der Mensch hat keine Umwelt, er hat Welt, einerseits eine von „Horizonten“, die sich immer wieder neu aufbauen – wir können endlos um die Erde herumgehen, aber den Horizont erreichen wir nie –, und das genau ist der Punkt: die Unerreichbarkeit des Horizonts, der gleichwohl unsere Sicht zeitlich, räumlich oder auch begrifflich begrenzt oder im übertragenen Sinne je vorläufig unser Tun und Lassen abzuschließen versteht.

Welt wird bei Heidegger gegen zwei andere Begriffe abgesetzt, der eine ist, wie gesagt, die Umwelt (im Sinne einer geschlossenen Welt13), der andere die Außenwelt. ‚Außenwelt‘ ist der Begriff der philosophischen Tradition – von Descartes bis in das 20. Jahrhundert – als Welt der res extensa, der in ihr räumlich (wie zeitlich) ausgedehnten körperlichen Dinge, wie sie die Naturwissenschaften untersuchen. Der neuzeitlichen Philosophie hat der Begriff der Außenwelt dazu gedient, die Welt der erfahrbaren Dinge und Relationen zu verstehen und zu erklären.

Welches andere Strukturmoment ist unhintergehbar für das Dasein als ein In-der-Welt-Sein? Heidegger sagt: das Mit-Sein. Und damit bezeichnet er die einfache Tatsache, dass wir nicht als einzelne und isolierte Wesen in der Welt sind, wir stehen nicht gleichgültig nebeneinander wie eine Pflanze neben der anderen Pflanze oder ein Stein neben oder über dem anderen liegt, wir sind immer schon mit den anderen in der Welt. Daraus erwachsen eine ganze Reihe Probleme. Dennoch ist eine unhintergehbare Bedingung des Daseins, sich durch einen besonderen Modus des Mit-anderen-da-zu-sein von anderen Wesen zu unterscheiden. Auch das hatte die neuzeitliche Tradition im Ausgang von Descartes verkürzt gedacht, indem sie von einem einzelnen Wesen ausging, das gleichsam nur neben den anderen stand, aber nicht von Anfang an mit den anderen verstanden wurde.

Es gibt schöne Studien, auch mit Bezug auf Heidegger, die den Unterschied zwischen Computern bzw. Robotern und Menschen beschreiben. So gibt es Experimente, in denen Roboter in der Lage sind, sich beispielsweise in eine Schlange einzureihen, um Kaffee zu holen, dabei verhalten sie sich heute richtiggehend höflich, sie „verstehen“ eine ganze Reihe Dinge. So läuft ein Roboter an der Schlange vorbei und fragt nach Kaffee, worauf ein anderer antwortet: „Hey, warte doch, du bist noch nicht dran.“ Also geht der Roboter wieder brav zurück, nachdem er sich zuvor entschuldigt hat. Es ist interessant zu sehen, wie der Roboter soziale Verhaltensweisen, nämlich warten und vorrücken, fragen und sich entschuldigen, spielen kann. Aber ein Roboter, und das wird an diesem Beispiel deutlich, steht immer nur neben den anderen, er agiert nicht mit ihnen, was immer geschieht, er ist ganz unbeeindruckt davon; er schämt sich nicht, weil er sich vorgedrängelt hat, er agiert nicht in einer sozialen Situation, die für ihn mehr oder weniger bedeutsam ist. Er kennt die sozial bedeutsamen und symbolisch vermittelten Schwerkräfte nicht, die im menschlichen Verhalten kommuniziert werden. Das Mit-Sein ist etwas anderes als ein Nur-neben-Sein. Heidegger beschreibt sehr schön, worin die Roboterkommunikation sich von der menschlichen Kommunikationssituation unterscheidet, auch wenn er das nicht in einer Sprache tut, die heute gewöhnlich verwendet wird. Wir ahnen den Unterschied manchmal, wenn wir von Nebenmenschen sprechen. Ein Nebenmensch wäre einer, zu dem wir keine richtige Beziehung haben, den wir nicht erreichen, wo sich keine Differenz mit dem anderen bildet, in der gleichzeitig gewusst und gefühlt, geurteilt und vorhergesehen wird, dass und wie der Andere ein Anderer ist. Stattdessen immer nur Sender und Empfänger, actio und reactio, nicht aber Frage und Antwort eines Wesens, das in allem, was es tut, fühlt, erhofft und ermuntert, sich bewusst oder vorbewusst, intentional oder habituell sich zu sich und zu anderen verhält. Diese lebenspraktisch gestimmte und getaktete Grundierung des Zu-Seins ist und äußert sich in der Sorge, sie durchstimmt das Dasein in jedem Augenblick und als Ganzes.

Heidegger versucht auf eine besondere Weise, das Mit-Sein zu qualifizieren. Es ist etwas anderes, ob wir mit Menschen, mit Tieren, mit Pflanzen oder mit Steinen zusammen sind. Die (Natur-)Wissenschaften können das nur schwer sehen. Und das Mit-Sein ist eine besondere Form wiederum des In-der-Welt-Seins zur näheren Qualifikation des Daseins.

Wir hatten gesagt, die drei hauptsächlichen Existenzialien in diesem Zusammenhang seien die Befindlichkeit, das Verstehen und die Rede. Es handelt sich um fundamentale Modi des In-der-Welt-Seins – wenn von Modi die Rede ist, dann heißt das immer „Art und Weise“. Keine dieser elementaren Weisen unseres In-der-Welt-Seins ist von anderen abgeleitet, sie treten immer nur im Dreierpack auf. Heidegger sagt, sie seien gleichursprünglich (da), man kann sich die eine gar nicht ohne die andere denken. Dass etwas gleichzeitig auftaucht und auf nichts anderes zurückgeführt werden kann, das nennt er gleichursprünglich. Das menschliche In-der-Welt-Sein ist immer durch diese Trias charakterisiert. Man kann sich das als einen großen Cluster vorstellen, in dem Heidegger weitere Differenzierungen vornimmt. Wenn er die Befindlichkeit analysiert, dann gibt es wieder neue Kategorien, und ein Submoment der Befindlichkeit des Daseins ist das Dasein als „Geworfenheit“. Die Geworfenheit ist ebenso eine fundamentale Seinsweise des Menschen in der Welt. Der Mensch erfährt die Geworfenheit, man könnte sagen, dass er da ist. Er erfährt das als Unumstößlichkeit, da zu sein, er hat sich nicht freiwillig in die Welt gesetzt, sondern er erfährt sich irgendwie in die Welt geworfen, durch den Geburtskanal gepresst. Keiner hat ihn gefragt, ob er da sein will.

Dieses Geworfensein in die Welt, das benennt Heidegger wiederum mit einem neuen Begriff: Faktizität. Wenn er sagt, der Mensch sei Faktizität, dann meint er, er ist in die Welt geworfen, ohne dass er darüber entschieden hat, ob er da sein will oder nicht. Wir sind einmal da, als Einzelne in dem, was je meinig ist, allein und verloren, aber wir können dem, dass wir da sind, nicht ausweichen, das Da-sein betrifft uns. Das ist einer der Gründe, warum Heidegger vom Da-Sein spricht. Wir sind (im (onto)logischen Sinne) nicht als Erkennende da, nicht als Handelnde da – das wohl auch, aber nicht in erster Linie –, sondern er meint zunächst dieses bloß Faktische. Daher dieses Existenzial oder diese weitere Beschreibung der Geworfenheit. Wir sind in unserem Dasein, ohne gefragt zu werden: geworfen, gestoßen, gedrängt, gepresst usw., sodass der Mensch da ist: verloren und fremd, unumstößlich und zufällig, jeder für sich. Das offenbart sich spätestens im Angesicht des Todes. Jeder stirbt für sich allein.

Dieses Geworfensein in die Welt assoziiert man auch allgemein, wenn man von Existenz, Existenzialismus spricht, mit der Möglichkeit, auch sich selbst und die Welt entwerfen zu können; in dieser Spannung, in dieser Differenz lebt das Dasein nach Heidegger, Sartre und anderen. Wir müssen auch in dem Augenblick, wenn wir als Geworfene in der Welt sind, mit dieser Tatsache, mit diesem Faktum, da zu sein, fertigwerden und ihm – dem Unfertigen – eine bestimmte Verfassung geben, eine Lebensverfassung, einen Lebensentwurf.

Dieses Damit-Fertigwerden ist die Aufgabe der Existenz, die man wiederum nicht einfach instrumentell beherrschen kann. Das hatte bereits Aristoteles sehr genau gesehen. Wir können unser Leben nicht einfach durchplanen, auf Gewinne und Verluste hin durchkalkulieren, sondern wir stehen in dieser Doppelung, einerseits hineingeworfen zu sein, abhängig zu sein von den unendlichen und komplexen Bedingungen, die uns umgeben, aber auf der anderen Seite immer auch dazu aufgerufen, zu uns selbst Stellung zu nehmen, also ein Verhältnis zu uns (und d. h. auch ein Verständnis) zu entwickeln. Das kann man bewusst oder unbewusst praktizieren. Durch jedes Verhalten und jede Entscheidung fällt ein Schatten (mitlaufender) Reflexion auf uns selbst, indem man über sich spricht, indem man seine Gefühle zeigt oder darstellt, indem man malt, arbeitet oder ein Tagebuch schreibt oder was auch immer. Es sind solche Verhältnisse, die uns daran erinnern, dass wir nicht einfach in der Welt leben, nicht einfach geworfen sind, sondern gleichzeitig nicht anders können, als uns zu dem, was wir erleben, was wir erfahren, wie wir denken, immer auch verhalten zu müssen, z. B. in Form von Stellungnahmen oder Argumenten, von künstlerischen Gestaltungen, von naturwissenschaftlichen Beschreibungen oder technischen Verfahren. All das sind Formen des Sich-verhaltens zu diesem Umstand, dass wir in die Welt geworfen sind.

Verstehen und Rede

Die Welt, in die wir uns geworfen finden, präsentiert sich als eine je schon erschlossene. Sie liegt uns immer schon in einem gewissen Verstandensein vor, und die Verständlichkeit dieser Welt in ihrer Erschlossenheit ist wiederum ein bestimmtes Strukturmerkmal des Daseins – das Verstehen.

Wir können gar nicht anders, wenn wir in der Welt sind, als sie in irgendeiner Weise aufzuschließen oder zu verstehen, z. B. Beziehungen zwischen verschiedenen Ereignissen herzustellen. Aber das Verstehen ist nicht von vornherein wieder eine Unterart des Erkennens, sondern Verstehen meint zunächst vor allem, wie die Welt sich uns in großer Selbstverständlichkeit darbietet und erschließt. Das tut sie als ein Bedeutungsganzes, nicht getrennt nach den einzelnen Aufgaben oder Funktionen, oder getrennt nach den Kräften eines eher kognitiven oder eher affektiven oder spielerischen Weltumgangs, sondern als ein Ganzes symbolischer Erfahrungen, das sich wie von selbst ergibt.

Verstehen ist dann gegeben, wenn ein Kind sich meldet und nach der Mutter ruft oder sich darum bemüht, dass die Mutter auf es aufmerksam wird, auch ohne sprachlich differenziert auf die Dinge oder körperliche Zustände verweisen zu können, um die es geht. Auch das ist ein Verstehen, denn diese durch ungestüme Gebärden oder Gesten oder Blicke angestoßene Aktion erschließt und ‚formt‘ die Welt in einer vortheoretischen Bedeutsamkeit, durch auch dann, wenn es sich noch nicht in dem Sinne um ein Erkennen handelt, durch das eine bestimmte Situation identifiziert wird. Verstehen ist nicht wiederum eine Abart des Erkennens, sondern Verstehen ist ein unumgänglicher Modus, durch den wir in der Welt sind, wir können gar nicht anders: In-der-Welt-zu-Sein heißt, die Welt irgendwie zu verstehen, oder besser noch, sie immer schon erschlossen zu haben. Verstehen ist daher vor allem Medium – wie Wasser oder Luft, Sprache oder Geld – in dem wir uns, ohne groß Notiz von ihm zu nehmen, über den in Zeichen artikulierten Anschluss von Sinn an Sinn bewegen.14

Wir sind, wenn wir in der Welt sind, schon immer mit ihr vertraut. Nur deshalb, weil wir wie selbstverständlich Vertrauen in die Welt haben, bemerken wir manchmal die Fremdheit, die uns ein Gefühl vermittelt, als ob wir aus der Welt fielen oder die Welt für uns versinke; dem geht ein elementares Vertrautsein oder Verstandenhaben voraus.

Das dritte Existenzial ist die Rede, von der her Heidegger die Sprache thematisiert. Er unterscheidet deutlich und genau zwischen Rede und Sprache; man könnte das auf eine Formel bringen, der Mensch hat Sprache, aber er ist in der Rede. Im 20. Jahrhundert wird manchmal von der „Sprachlichkeit des Menschen“ gesprochen, und das ist hiermit gemeint: der Umstand, dass der Mensch oder das Dasein nicht aus der Rede heraus kann, er steckt in ihr wie in einem Futteral. Was für das Selbstverhältnis gilt, gilt auch für die Rede, insofern er in einer immer schon sprachlich oder symbolisch erschlossenen Welt lebt. In sie wächst er hinein, in ihr lernt er sich zu orientieren.

Wird in der Welt, wie sie ist, die Rede zum Gerede – und auch davon handelt Sein und Zeit –, dann handelt es sich um eine Weise, in der die Erschlossenheit des Daseins durch die Rede zu einem uneigentlichen Modus des In-der-Welt-Seins degeneriert. Das Gerede ist nicht authentisch. Es ist die Rede, die „man“ führt. Sprache kann man besitzen als gegenständliche, als geradezu handwerkliche Fähigkeit. Mit der Sprache kann man über Gegenstände verfügen, indem man sie bezeichnet, man kann die Sprache als Instrument nutzen, beispielsweise zur Mitteilung von Informationen, zur Benennung von Sachverhalten, zum Appell an Einsichten und Gefühle. Das Erschlossensein der Welt aber ist gegeben über die Trias von Befindlichkeit, Verstehen und eben Rede. Darin erschließt sich uns die je gegebene Situation in ihrer vortheoretischen Weltbedeutsamkeit. Danach liegen Gegenstände nicht einfach vor, um nachträglich bezeichnet zu werden, wir verstehen sie vielmehr über von uns in der Rede erworbene Zeichen und Begriffe. Erst dadurch, dass wir uns in die Redezeichen hineinfinden, bekommen wir es mit Gegenständen zu tun.

Das Vorlaufen zum Tode und das Leben als Ganzes

Wie gezeigt, sind für Heidegger das Selbstverhältnis und der Selbstbezug des Daseins zentral, in seiner Sprache: „Das ‚Wesen‘ dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein.“15 Da das Dasein unterschiedliche Lebensmöglichkeiten kennt, kann es sich auch verfehlen. Es kann sich zu seiner Struktur bekennen, es kann sie aber auch verleugnen. Zwei Extreme in der ‚Verständigung‘ über sich selbst sind das eigentliche und das uneigentliche Daseinsverständnis. Das uneigentliche geht im alltäglichen Leben auf, in seiner Durchschnittlichkeit ist es charakterisiert durch das, was man tut, es weicht darin seiner Selbstkonfrontation aus.16 Das anonyme Man bestimmt das Tun und Lassen. Näherhin wird es nach Heidegger durch Gerede, Neugier und Aufenthaltslosigkeit gekennzeichnet, er spricht auch von Entfremdung und einem Verfallensein an das Man. Das ist weniger moralisch gemeint denn existenziell.

Den radikalen Gegensatz dazu bildet das eigentliche Daseinsverständnis. In einem authentischen Selbst übernimmt sich das Dasein dadurch, dass es sich in seiner Doppelung als Geworfenheit und Entwurf anerkennt. Es versteht sich von seiner zeitlichen Struktur her, aber so, dass es um sich und sein In-der-Welt-sein besorgt ist. In der Sorge um sich selbst kann es nicht anders, als sich-vorweg-zu-sein. Es lebt im mächtigen Schatten der Antizipation seines Lebens als eines durch den Tod begrenzten Ganzen. Davon spricht Heidegger auch als Vorlaufen zum Tode, es strahlt auf das Leben vor dem Tode ab: „Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt, es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode.“17

Der Tod ist in diesem Kontext kein innerzeitliches biologisches Ereignis, das uns irgendwann bevorsteht, vielmehr ist er nur anwesend im Voraussein auf unser Ende. Das Man verdrängt das retroaktiv wirksame Bewusstsein des Todes, das authentische Dasein vergegenwärtigt es und bekennt sich dazu. Auf diese (heroische) Weise gewinnt es seine Ganzheit gegen alle Fragmentierungen des Lebens zurück.18

Philosophie im Zeitalter der Extreme

Подняться наверх