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Abstraktes Denken und konkrete Existenz

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S. Kierkegaard

Die Wahrheit ist die Subjektivität.

S. Kierkegaard

Auch durch die Schriften Søren Kierkegaards (1813–1855) weht der Geist des Experimentierens, eines Denkens (und Lebens) auf Probe. Sein bevorzugter Gegenstand ist das, was es für den einzelnen Menschen heißt: zu existieren. Kierkegaard gilt als der Denker, der diese Frage mit großer Eloquenz gestellt hat. „Mein Leben ist bis zum äußersten gebracht; es ekelt mich des Daseins, welches unschmackhaft ist, ohne Salz und Sinn […]. Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welch einem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt denn das: die Welt? Was bedeutet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hineinbetrogen, und läßt mich nun dastehen? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum hat man mich nicht vorher gefragt, warum hat man mich nicht erst bekannt gemacht mit Sitten und Gewohnheiten, sondern mich hineingestukt in Reih und Glied, als wäre ich gekauft von einem Menschenhändler? Wie bin ich Teilhaber geworden in dem großen Unternehmen, das man Wirklichkeit nennt? […] Gibt es einen verantwortlichen Leiter? An wen soll ich mich wenden mit meiner Klage? […] Alles, was in meinem Wesen enthalten ist, schreit auf in Widerspruch zu sich selbst. Wie ist es zugegangen, daß ich schuldig wart? Oder bin ich etwa nicht schuldig?“4

Existenzialismus

Vorweg eine allgemeine, sehr vorläufige Definition dieser philosophischen Strömung, die man als Existenzialismus meist mit Kierkegaard beginnen lässt. Sie gründet im 19. Jahrhundert, um dann im 20. mit Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Albert Camus auf französischer, mit Martin Heidegger und Karl Jaspers auf deutscher Seite großartige Höhepunkte zu erleben. Dem Existenzialismus geht es in allgemeiner Weise um die Problemanzeige eines bestimmten Verhältnisses, um das von Innerlichkeit, Seele und Freiheit, d. h. um das spannungsvolle Selbstverständnis des Einzelnen auf der einen Seite und die Rationalisierung des Lebens auf der anderen. Rationalisierung heißt hier die Bestimmung des Lebens durch Wissenschaft und Technik. Die Existenzialisten gehen von einer Doppelung der menschlichen Existenz aus und fragen, wie man diese beiden Momente überhaupt aufeinander beziehen kann, wie die Innerlichkeit, die Seele, die Freiheit – kurz, die Existenz des Einzelnen im Verhältnis zur Rationalisierung durch Wissenschaft und Technik zu denken ist.

„Existenzialismus“ deshalb, weil in dieser Art philosophischen Denkens das Faktum der Existenz des Einzelnen eine bedeutende Rolle spielt. Die Existenz des Einzelnen wird in den Mittelpunkt gestellt als die besondere Weise, wie der Mensch in der Welt ist, wie er sich darin (be-)findet und zu sich selbst, zu seinem Denken und seinen Gefühlen, seinem Geschlecht und seinem Stand, seinen ethischen und ästhetischen Anschauungen verhält. Dem Existenzialismus ist es weniger um das universelle Wesen des Menschen zu tun, also um das, was man unter so berühmte Begriffe gefasst hat wie: animal rationale, das „vernunftbegabte Lebewesen“, sondern darum, ausgehend von mir und meinem Einzelschicksal zu fragen, was es heißt, dass ein Einzelner in der Welt und in bestimmten Lebensvollzügen denkt und fühlt, handelt und auf sich selbst Bezug nimmt. Der zentrale Begriff ist die konkrete, sinnliche Existenz des Einzelnen. Es sollte keinen allgemeinen Begriff geben, der über alle gestülpt wird, sondern es soll aus der Innenperspektive des Einzelnen, aus der Teilnehmerperspektive dessen, der mit seinem höchst eigenen Leben zurechtkommen muss, gedacht werden. Man könnte sagen, dem Existenzialismus geht es auch darum aufzuzeigen, dass niemand in so abstrakten Definitionen über seine Existenz sprechen kann, wie es die Philosophie seit Platon getan hat.

Besonders der Wechsel der Perspektive ist interessant. Ich gehe aus vom Verhältnis des Einzelnen zur Welt, das sich eigentlich nur in dem zeigen kann, was man die konkreten (alltäglichen) Lebensvollzüge nennt. Diese Einsicht lässt sich zuspitzen: Das, was den Menschen charakterisiert, ist der je besondere Vollzug des Lebens, wie ihn der Einzelne in der existenziellen Konkretheit seines durch bestimmte Situationen bezeichneten Lebens bewältigen muss. Dabei macht er eine Erfahrung: Er stößt auf seine eigene, einzelne, unwiederholbare, allen Kontingenzen des Lebens ausgelieferte Existenz. Er sieht sich mit der unverwechselbaren Singularität seiner selbst konfrontiert. Die Anderen sind die Anderen, und ich allein muss in einer mir bestimmten Weise Erfahrungen machen, die mir die Welt verständlich werden lassen.

Einer der wichtigsten Philosophen, der in diesem Sinne gedacht hat, war eben S. Kierkegaard, ein Schriftsteller, der durch seine Biographie wie durch die Art und Weise der Veröffentlichung seiner Werke bekannt geworden ist. Kierkegaard war Däne. Er fällt denkerisch aus der akademischen Tradition heraus, wie fast alle „großen“ Philosophen des 19. Jahrhunderts, die keine Universitätslehrer waren: Marx, Nietzsche, Feuerbach, Freud, und eben Kierkegaard. Seine Werke veröffentlichte er unter wechselnden Pseudonymen, obwohl alle Leser in Kopenhagen alsbald wussten, wer dahinter steckte. Für ihn war die Philosophie weniger ein an der Wissenschaft orientiertes Nachdenken über sich selbst, als Ausdruck seiner ganz persönlichen Sicht, seiner ganz persönlichen Erfahrung, die – welche Ironie – für uns wichtig wird, weil sie in ihm exemplarische Gestalt gewonnen hat.5

Abstraktes Denken und konkrete Existenz

Kierkegaards provozierende These lautet, dass die eigentlichen Probleme des Lebensvollzugs in der Philosophie nicht zur Sprache kommen. Und zwar deshalb nicht, weil die Philosophie einem abstrakten Denken folgt, dem der einzigartige Sinn des Wirklichen entgeht. Die Philosophie erreicht nicht die konkrete Existenz des Einzelnen, weil sie immer die Sprache der Abstraktion spricht. Dass es sich so verhält, ist keine böswillige Absicht der Philosophen, es ist kein Versäumnis, sondern liegt vielmehr daran, dass das Denken immer abstrakt ist. Es gibt kein nicht-abstraktes Denken. Die konkrete Einzelexistenz kann nicht gedacht werden, weil sie sich ständig ändert. Jeder steckt in immer neuen Situationen, in immer anderen Lebensvollzügen; dergestalt ist es für das begriffliche, das abstrakte Denken gar nicht möglich, den Fluss, in dem sich die konkrete Existenz bewegt, zu erfassen. Die Philosophie ist von Anfang an anders gepolt, nämlich auf das, was sie durch ihre Begriffe denken kann, und das ist das Bleibende (Platon hat es als erster klar erfasst) oder das Wesen der Dinge, nicht die konkrete einzelne Existenz, die an ihre Zufälligkeit verloren scheint. Also das Bleibende, das im Wandel sich Durchhaltende, nämlich das Wesen, die ousia, die Ideen – also das, was aller konkreten Existenz zugrunde liegt – das kann gedacht werden, aber die Einzelheit, die Konkretheit, sie lässt sich im Denken nicht erreichen. Um Einsicht in das Wesen zu erlangen, muss man immer vom Einzelnen absehen. Genau das meint abstrahieren, es heißt, absehen vom Singulären, um etwas über das (allgemeine) Wesen der Sache herauszufinden. Philosophie (wie auch Wissenschaft) verfährt in ihrem Denken immer abstrahierend.

Und Kierkegaard behauptet nun: Der Höhepunkt dieser abstrakten Methode ist der Deutsche Idealismus, repräsentiert insbesondere durch Hegel. Dieser Philosoph hat die Abstraktionsmethode erprobt, auf die Spitze getrieben und einen Begriff entwickelt, der für Kierkegaard sozusagen zum roten Tuch geworden ist: das reine Ich. Wenn wir von einem Ich sprechen, dann kann dieses Wort „Ich“ jeder für sich gebrauchen, es kann aber auch von allen anderen in Anspruch genommen werden. „Ich“ umfasst alle, die das Wörtchen, in Referenz auf sich (auf sie/sich selbst) verweisend, benutzen; jeder kann sich als „Ich“ bezeichnen oder genauer, „Ich“ ist ein allgemeiner Begriff, in dem nur enthalten ist, dass ein Sprecher in seinem Gebrauch auf sich selbst verweist. Was aber bedeutet, mit dem Gebrauch von „ich“ erreiche ich gerade nicht, was ich im Unterschied zu anderen sein möchte: die Beschreibung der eigenen Existenz. Ich sage nur, was alle (anderen) auch sagen, wenn sie sich mit diesem Wort auf sich selbst beziehen. Jeder ist Ich, alle sind Ich.

Und diese begriffliche oder abstrakte Reinheit des Ich ist dasjenige, woran Kierkegaard Anstoß nimmt, wogegen er denkt und polemisiert. Kierkegaard glaubt, dass das Denken, wie erwähnt, unumgänglich abstrakt ist. Andererseits ist der Mensch immer ein konkretes sinnliches Wesen: Und doch kann er gar nicht als konkretes Wesen denken, sondern steckt, wenn er denkt, immer in der Abstraktionsmethode. Die Schwierigkeit für die Philosophie besteht darin, dass der konkrete Mensch einerseits in seinen sinnlich und situativ bestimmten Lebensvollzügen agiert und andererseits in seinem Denken verhaftet ist. Der Einzelne denkt und existiert, er ist in seine konkreten Lebenszusammenhänge verstrickt, in seine Stimmungen, in sein Temperament, in seine Erfahrungen mit den Anderen, mit denen er existierend umgehen muss, und er kann gleichzeitig nicht davon absehen, dass er sich, wenn er über diese Situationen nachdenkt, in abstrakten, von diesen besonderen Umständen absehenden Begriffen bewegt. Existieren kann er nur im Kontext seiner Lebensbezüge und Gefühle, seiner Erwartungen und sinnlichen Reaktionen. Denken kann er nur abstrakt.

Zwischen Denken und Existenz besteht also ein Widerspruch, der sich in dem Moment auf die Philosophie überträgt, wenn sie versucht, sich des Konkreten, Einzelnen, Kontingenten mittels Spekulation in Begriffen reinen Denkens zu vergewissern. Kierkegaard fasst das wie folgt zusammen: Die Existenz des Einzelnen ist das Dasein eines lebendigen Widerspruchs, „weil sich das Existieren nicht denken läßt und der Existierende doch nur denkend ist“.6

Der Idealismus, beispielsweise Hegel, hatte gehofft, dass man, indem man Schritt für Schritt die gesellschaftlichen und geschichtlichen, die affektiven und kognitiven Bedingungen begreift, unter denen der Mensch lebt, der konkreten Existenz des Einzelnen nahekommt. Hegel klärt die allgemeinen Bedingungen, unter denen die Individualität (konkret) gedacht werden kann. Sein Begriff ist das „konkret Allgemeine“. Kierkegaard misstraut diesem Ansinnen zutiefst. Wer ein reiner Denker sein wolle wie Hegel, sei eine phantastische, ja eine tragikomische Figur.

Für die philosophische Reflexion bedeutet das die Verabschiedung abstrakter Prinzipien, z. B. der Identität von Sein und Denken, Begriff und Sache, als oberste Grundsätze des Denkens zugunsten, wie Kierkegaard sagt, des konkreten Interesses des Existierenden an sich und seinem In-der-Welt-Sein. Der Existierende, glaubt er weiter, nimmt ein leidenschaftliches Interesse an sich selbst, an dem, was es für ihn bedeutet, zu existieren. Dabei liegt das Sein des Existierenden im inter-esse, im Dazwischen-Sein: zwischen Endlichem und Unendlichem, Sinnlichem und Denkendem, dem Willentlichen und dem Getriebenwerden, es ist eine Synthese, die ständig neu hergestellt und ausbalanciert werden muss. Sich von der Notwendigkeit alltäglicher Zwänge erdrücken zu lassen, ist ebenso gefährlich wie sie aus dem Auge zu verlieren und sie in Richtung einer phantastischen Existenz zu überfliegen. Der Mensch begreift, dass er immer dazwischen steht, eine Zwischenexistenz leben muss. Das ist seine Aufgabe, die ihm aus der Existenz eines Hybridwesens erwächst. Die entscheidende Bestimmung aus Die Krankheit zum Tode lautet: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder das an dem Verhältnis, daß das Verhältnis zu sich selbst verhält.“7 Diese Grundstruktur des Sich-zu-sich-Verhaltens ist für Kierkegaard nicht nur eine Art Dispositiv menschlicher Existenz, sie wird als Aufgabe begriffen, die aber keine ‚Lösung‘, keinen vernünftigen Ausgleich (mehr) kennt. Sie kann die Gegensätze, die sie in sich trägt, nicht mehr „aufheben“, daraus resultiert das Leiden an der Existenz.8 Und dennoch kommt es darauf an, wirklich in diesem Sinne zu existieren. ‚Selbst‘ ist man nur im Vollzug des Selbst oder darin, dass man tatsächlich entscheidet.

Nun ist es interessant zu sehen, wie sich Kierkegaards Gedanken weiterverzweigen. Wir stecken also stets in diesem Widerspruch, der sich darin äußert, dass jemand ein Interesse an sich nimmt, ein leidenschaftliches Interesse, und nur er an sich selbst. Heidegger wird später sagen, dass unser Leben ganz und gar von Sorge durchstimmt sei. Sorge ist der Bezug, der sich in all unsere Reaktionen, Verhaltensweisen, Absichten und Erfahrungen einmischt. Bei Kierkegaard heißt das zunächst inter-esse.

Leben zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit

Kierkegaards Überlegungen gelten den Kategorien, mit denen wir dieses Zwischenwesen näher bestimmen: den Modalkategorien, die elementar sind wie keine anderen – Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit. Kant hatte von diesen Kategorien angenommen, es seien vor allem Denkkategorien, Denkbestimmungen; unser Denken und Urteilen steckt immer schon in diesen fundamentalen Unterscheidungen: Ob wir die Dinge als wirklich, als möglich oder als notwendig charakterisieren, das macht einen Unterschied. Für Kierkegaard sind es existenziale Kategorien, grundlegende Bestimmungen weniger des Denkens als der Existenz und des Lebens. Bei Heidegger werden wir das noch einmal sehen. Kategorien beziehen sich jetzt auf die Art, wie zu leben ist. Wie können wir sie auf unser Existieren beziehen? Kierkegaard sagt, dass wir im Blick auf unsere Existenz Veränderungen in der Gewichtung der Kategorien vornehmen müssen. Er behauptet zunächst – was eine unglaubliche Provokation für die Philosophie ist –, dass die Möglichkeitskategorie höher stehe als die der Wirklichkeit. Die letzten zwei Jahrhunderte, die uns in den Knochen stecken, stehen im Schatten dieser gravierenden Umstellung, dieses Kampfes einer Neueinstellung zu Möglichkeit und Wirklichkeit – sowohl ethisch als auch ästhetisch und kognitiv (intellektuell). Die Möglichkeit steht höher, aber in welcher Hinsicht und aus welchem Grund?

Kierkegaard orientiert sich an Aristoteles und seiner Ästhetik und schätzt sie deshalb höher, weil wir im Horizont des Möglichen sehen können, was sein könnte. Was sein könnte, zeigt uns eine viel größere Spanne von dem, was mit unserer Existenz passieren kann. Die Kunst ist für ihn insofern wichtig, als sie uns mit Möglichkeiten vertraut macht, die der alltäglichen Erfahrung verschlossen bleiben. In dieser orientieren wir uns am Wirklichen, an den wenigen Alternativen, die uns in der Regel bleiben. Das Mögliche hat von der Kunst her eine welt- und selbstöffnende und erweiternde Perspektive. Die Kunst, insbesondere die Poesie, bewegt sich in ihren Sprachspielen an den a-topischen und u-topischen Rändern des Möglichen. Sie steht darum, wie Kierkegaard mit Hinweis auf Aristoteles darlegt, „über“ der Historie, die sich „nur“ mit dem Wirklichem beschäftigt: „Aristoteles bemerkt in seiner Poetik, daß die Poesie höher stehe als die Historie, weil die Historie nur darstelle, was geschehen sei, die Poesie, was hätte geschehen können und sollen, das heißt die Poesie verfügt über die Möglichkeit. Im Verhältnis zur Wirklichkeit ist Möglichkeit, poetisch und intellektuell, höher, das Ästhetische und Intellektuelle interesselos. Aber es gibt nur ein Interesse, das Existieren; die Interesselosigkeit ist Ausdruck für die Gleichgültigkeit gegenüber der Wirklichkeit.“9

Das gilt interessanterweise aber auch für das reine Denken der Philosophie. Sie zeigt sich jetzt als Versuch, durchsichtig zu machen, dass sie sich in ihrem reinen Denken (in der Suche nach Definitionen) immer schon in diesem Raum des Wesens aufgehalten hat, nämlich, wenn sie von den Ideen gesprochen hat. Auch den Ideen kommt der höhere Rang gegenüber dem Endlichen zu, was wir nur durch den Bezug auf die im Alltag gefesselte Existenz verstehen können. Diese Sicht von der Warte des Möglichen, behauptet Kierkegaard dann weiter, müsse man nicht unbedingt negativ bewerten, bewegt sich doch auch ein freies und verantwortungsbewusstes Handeln in deren Umkreis.

Aufmerksamkeit verdient, was er im Verhältnis zu einem ethisch sich im Alltag orientierenden Denken nahelegt: dass es einen entscheidenden Mangel bei Wissenschaft und Kunst gibt. In ihrem Primat des Möglichen herrsche eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der konkreten Existenz. Die Wissenschaft und die Philosophie wie auch die Kunst sind in ihrer Abstraktheit interesselos im Blick auf die Existenz. Mit dem Selbstinteresse jedoch bewegt man sich immer schon im Bereich der Ethik. Das konkrete Denken bringt sofort die Ethik ins Spiel. Wenn wir anfangen, nach der konkreten Existenz des Einzelnen zu fragen, behauptet Kierkegaard, fragen wir immer ethisch. Mit dem Interesse am Existierenden und d. h. gegen Kunst und Wissenschaft, welche die Möglichkeit vor der Wirklichkeit favorisieren, bringen wir den Standpunkt der Ethik wieder ins Spiel: eine höhere Betrachtung des Wirklichen vor dem Möglichen. Wenn wir ethisch denken, dann kehrt sich dieses Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit um. Wobei es wichtig ist, daran zu erinnern, dass es eine ethische Reflexion nur auf uns selbst oder auf uns als Existierende gibt. Das ist eine starke Behauptung, das hieße nämlich, wenn man alles – einschließlich des eigenen Lebens – künstlerisch gestalten könnte, verlören wir wieder dieses Inter-esse, die Leidenschaftlichkeit, die jeder an sich selbst – qua Zwischenwesen – nimmt.

Eine ethische Beziehung unterhält man vor allem zu sich selbst: An sich selbst adressiert man ethische Forderungen, sich selbst beurteilt man ethisch. Ein Urteil über die Anderen steht uns nicht zu. Warum nicht? Der äußere Grund besteht darin, dass das individuelle Selbst der anderen gar nicht zu erreichen ist. Ihre Moralität bleibt unserem Verständnis zuletzt verschlossen, sie kann ich gar nicht beurteilen, weil ich immer von außen, in der Perspektive eines Beobachters auf sie blicke. Das Ethische ist eine Bestimmung der Innerlichkeit, meines Selbstverhältnisses, da ist jeder mit sich allein, sie ist nicht dazu da, um den/dem anderen moralische Vorschriften zu machen, wie er sich verhalten soll. Das geht nicht, weil das Ethische nur aus einer ihm eigenen Teilnehmerperspektive verstanden werden kann. Das ethische Sollen richtet sich nicht an die Allgemeinheit: Es ist zwar allgemein verpflichtend, aber seine Verbindlichkeit findet einzig in mir seine Adresse. Es ist schamlos, einem anderen ethische Vorwürfe zu machen. Jede Adresse, die die Ethik entwickelt, ist vor allem eine Selbstadresse.

Zwar kann man sich im Vor- wie im Nachhinein in einen anderen versetzen, das versuchen wir ständig, den Standpunkt zu wechseln und uns in jemand anderen hineinzuversetzen – aber was machen wir in dieser Lage? Kierkegaard: Wir werden wieder ästhetisch. Wir bilden uns nämlich von dem Anderen eine Art Modell seines Innenlebens. Aber jedes Modell seines Innenlebens bleibt im Horizont einer Reihe von möglichen Beschreibungen meinerseits oder desjenigen, der glaubt, sich in einen anderen hineinfühlen zu können, und das ist – wegen des Vorrangs des Möglichkeitssinns – durch und durch ästhetisch. Überdies ist mit dem Ästhetischen, wie mehrfach betont, das Abstrakte verbunden. Von daher ist es nicht nur politisch, sondern auch moralisch problematisch. Moralisch natürlich in besonderer Weise, weil jedes Bild oder jedes Modell, das ich mir vom Innenleben des Anderen und seiner moralischen Konstitution mache, immer der Gefahr ausgesetzt ist, dass ich sein Innenleben – und d. h. ihn im Zentrum seines Existierens als eines Werdenden – auf ein Bild von ihm, das ich gemacht habe, festlege: ihn vereinnahme.

„Ethisch gesehen ist die Wirklichkeit höher als die Möglichkeit. Das Ethische will gerade die Interesselosigkeit der Möglichkeit dadurch zunichte machen, daß es das Existieren zum unendlichen Interesse macht. Das Ethische will daher jeden Konfusionsversuch verhindern, wie z. B. den, ethisch die Welt und die Menschen betrachten zu wollen. Ethisch kann man nämlich nicht betrachten, denn es gibt nur eine ethische Betrachtung: die Selbstbetrachtung. Das Ethische umschließt augenblicklich den Einzelnen mit der Forderung an ihn, ethisch existieren zu sollen […], das Ethische fordert sich selbst von jedem Menschen, und wenn es urteilt, dann urteilt es wieder über jeden Einzelnen […], das Ethische ergreift den Einzelnen und fordert von ihm, daß er sich von allem Betrachten, besonders der Welt und der Menschen enthalte; denn das Ethische als das Innere läßt sich von jemand, der draußen steht, gar nicht betrachten, es läßt sich nur von dem einzelnen Subjekt realisieren.“

„In Richtung auf das Ästhetische und Intellektuelle zu fragen: ist dies oder jenes nur wirklich […], ist ein Mißverstand, der die ästhetische und intellektuelle Idealität nicht als Möglichkeit begreift […]. Ethisch wird richtig gefragt, wenn man fragt: ist das wirklich, doch wohl bemerkt so, daß das einzelne Subjekt sich selbst ethisch nach seiner eigenen Wirklichkeit fragt. Die ethische Wirklichkeit eines anderen Menschen kann von ihm wieder nur begriffen werden, indem er sie denkt, das heißt als Möglichkeit.“ Da auf der ganzen Linie das Mögliche unter seinen Formen des Intellektuellen (des Kognitiv-Instrumentellen) und des Ästhetischen auf dem Vormarsch ist und in der modernen Welt seinen Vorrang behauptet, werden diese „Zeit und die Menschen […] immer unwirklicher, daher diese Surrogate, die das Verlorene ersetzen sollen“. Kierkegaards Diagnose (und Befürchtung) ist die, dass man, in diesem Zusammenspiel von Ethischem, Ästhetischem und Kognitivem, das „Ethische […] mehr und mehr aufgibt“. Das Leben des Einzelnen gerät entweder – ästhetisch und/oder kognitiv – unter die Räder eines rein experimentell eingestellten Selbst- und Weltverhältnisses („Leben auf Probe“) oder es wird, „weltgeschichtlich beunruhigt und dadurch an seiner ethischen Existenz verhindert“.10 Dieser letzte Vorwurf wiederum zielt auf die Geschichtsphilosophie Hegels.

Philosophie im Zeitalter der Extreme

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