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Die Philosophie aufheben

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Eine Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert

Kein Ding gerät, an dem nicht

der Übermut seinen Anteil hat.

F. Nietzsche

Auf die Frage, wie eine Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert zu schreiben wäre und mittels welcher Leitfäden sie aufzurollen sei, lautet eine naheliegende Antwort: Man könnte eine Geschichte der Namen schreiben, eine Geschichte der Namen großer Philosophen, beginnend beispielsweise mit Husserl und Heidegger, Wittgenstein und Russell und endend in der Gegenwart mit Rorty und Derrida. Man könnte sich an deren Hauptwerken orientieren oder anhand von Porträts die Grundgedanken dieser herausragenden Gestalten entwickeln. Das wird häufig gemacht, manchmal auch, um sich den Großteil der gedanklichen Arbeit zu ersparen. Man hält sich dabei mehr oder weniger strikt an die Ausführungen, die ein Philosoph jeweils zu dieser oder jener Frage gemacht hat.

Ein anderes Verfahren wäre, sich an bestimmten Themen zu orientieren; dieses Vorgehen ist deshalb anspruchsvoller, weil man sich überlegen muss, welche Fragen – offen oder eher hintergründig – bedeutende Knotenpunkte der Diskussion während der letzten 100 oder 150 Jahre gewesen sind. Recht schnell kommen einem hervorstechende Anliegen in den Sinn. Zum Beispiel das Thema „Existenz“, es gibt einen breiten Strom der Existenzphilosophie, der sich von der Mitte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts durch Europa wälzt. Ein anderes zentrales Anliegen der Philosophie war und ist die „Sprache“ und/oder auch die „Wissenschaft“. Es ist das Zeitalter des forcierten Aufstiegs der Wissenschaften, sowohl der Natur- als auch der Sozialwissenschaften. Sehr häufig – und auch zu Recht – wird die Geschichte der neueren Philosophie in einer Auseinandersetzung mit der oder den Wissenschaft(en) betrachtet. Ein anderer Begriff, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hochkonjunktur hatte, dann wieder abebbte und in der Gegenwart, seit ungefähr 20 Jahren wieder einen Boom erlebt, ist „Kultur“.

Man könnte also eine Rekonstruktion der Geschichte der Philosophie entlang solcher Großbegriffe betreiben, reizvoll wäre aber auch die umgekehrte Fragestellung: Was war im 20. Jahrhundert denn so gut wie gar kein Thema? Zum Beispiel kommt ein (der) Fragenkomplex, der ganze Jahrhunderte bewegt hat – „Gott“ – in den Hauptströmungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts nicht mehr vor, während im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der Religionskritik, noch sehr darum gestritten wurde. Noch erstaunlicher aber ist, dass in den Hauptströmungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die „Ethik“ nur eine geringe und untergeordnete Rolle gespielt hat. Eine intensive Diskussion über die Ethik setzt erst wieder in den 60er- und 70er-Jahren ein. Auch vor dieser Zeit gab es Debatten über Ethik, z. B. im Neukantianismus, aber ein solch überragendes Interesse, wie wir es gegen Ende des 20. Jahrhunderts erleben, hat es während seiner ersten Hälfte nicht gegeben. Das könnte ein geradezu aufregendes Faktum sein, über dessen Gründe und Zusammenhänge sich nachzudenken lohnte. Kurz, man könnte sich an bestimmten Themen entlanghangeln und in der Rekonstruktion darauf verweisen, wann, wo und wie intensiv diese Themen behandelt worden sind.

Die Geschichte der Philosophie ließe sich aber auch in Orientierung an den Schulen und Strömungen organisieren, die sich in den letzten 100 bis 150 Jahren entwickelt haben, also: „Existenzphilosophie“, „Phänomenologie“, „Hermeneutik“, „Kritische Theorie“, „Marxismus“, „Wissenschaftstheorie“, „Analytische Philosophie“. Das wären – in Ausrichtung und Gewicht – ganz unterschiedliche Strömungen, die das ganze Jahrhundert mehr oder weniger kontinuierlich begleiten, und manchmal schon auf dem Sprung stehen, den Charakter einer Disziplin auszubilden. Ebenso könnte man sich an die Hauptdisziplinen der Philosophie halten: Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik, Logik, Rechtsphilosophie, Anthropologie – und fragen: Welche Entwicklung haben diese Fächer, diese Disziplinen, jeweils im Verlauf des Jahrhunderts genommen? Aber auch das ist nicht eigentlich eine philosophische Geschichtsschreibung, gibt man doch einen von außen gesetzten, mindestens in Teilen kontingenten Rahmen vor.

Existiert nicht vielleicht ein inneres Band? Wie könnte man eine Geschichte der Philosophie schreiben, ohne dass alle Namen und Themen, Strömungen und herausragenden Ereignisse in ein Mosaik unzusammenhängender Teile zerfallen, das kein wirkliches Bild oder keinen relevanten Begriff erkennen lässt? Das Einfachste – aber auch ganz und gar unphilosophisch – wäre es, der Chronologie zu folgen. Das hieße, die Geschichte umfassend, d. h. enzyklopädisch zu schreiben und so gut wie alles, was Rang und Namen hat, aufzulisten. Eine Enzyklopädie definiert sich darüber, dass die wichtigsten Tendenzen und Autoren genannt werden.

In einem gewissen Gegensatz zur Enzyklopädie stünde eine paradigmatische Geschichtsschreibung: Man wählt exemplarisch einige Positionen aus, von denen man glaubt, dass sie bedeutsam und fruchtbar (gewesen) sind, dass sie im Zentrum des Denkens und Argumentierens gestanden und bis in die Peripherie der Probleme ausgestrahlt haben. Beispielsweise käme man dann sicherlich auf einen Begriff wie den der Existenz zu sprechen oder auch auf die Sprache.

Der Philosoph Walter Schulz hat sich auf eine andere Weise beholfen, indem er Großtendenzen für das 20. Jahrhundert beschrieben und versucht hat, eine Art Diagnose der gegenwärtigen Situation zu leisten. Seinem umfangreichen Werk zufolge gibt es vier Zentraltendenzen. Die erste sieht er in der „Verwissenschaftlichung“ unserer Welt, eine zweite in der „Verinnerlichung“ – lernen die Menschen doch mehr und mehr, sich in ihrer Individualität, d. h. sich von der Psychologie ihres Innenlebens her zu begreifen. Eine dritte Tendenz findet er in der „Verleiblichung“. Der Mensch entdeckt im 19. und 20. Jahrhundert seinen Leib bzw. seinen Körper neu, und zwar auf eine so nachdrückliche Weise, wie es in den vorangegangenen Jahrhunderten nicht der Fall gewesen ist. Zu diesen Themen oder Strömungen tritt viertens – gerade auch im Zusammenhang mit der Verwissenschaftlichung und Technisierung – die „Verantwortung“. Je mehr die Menschen beherrschen, je mehr sie in der Lage sind, ihre innere und äußere Natur wissenschaftlich und technisch umzugestalten, desto mehr fühlen sie sich auch verpflichtet, für ihre Handlungen die Verantwortung (oder die Rhetorik der Verantwortung) zu übernehmen.1 In einer stark themenorientierten Lektüre wird in diesem Buch ein anderer Vorschlag gemacht.

Selbstverständigung – Vorüberlegungen zu diesem Buch

Im Verlauf des 19. – des „großen Jahrhunderts“, wie Thomas Mann es bei Gelegenheit genannt hat, wurde die Idee, Philosophie bestehe darin, das zeitlose und unveränderliche Wesen der Dinge zu begreifen, immer fraglicher. Stattdessen trat die Philosophie, wie man im Rückblick sagen kann, in einen Prozess ununterbrochener Selbstverständigung über sich und die Welt ein. Karl Marx war einer der Ersten, der dieses Anliegen für seine philosophischen und ökonomischen Schriften in Anspruch genommen hat. Zwar dient sein Hauptwerk, Das Kapital, der Analyse einer ökonomisch bestimmten Gesellschaftsformation, der „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“. Es ist aber auch eine methodische Selbstverständigung über den Status der eigenen wissenschaftlichen und philosophischen Arbeit sowie darüber, in welcher historischen Realität die Menschen ihr Leben fristen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sie arbeiten und sich reproduzieren müssen, welche Aussichten auf eine Änderung ihres Lebens sie haben, was sie dafür tun können, um sich aus dieser neuen Abhängigkeit und Herrschaft, die der Kapitalismus um sie gelegt hat, zu befreien.

Die Philosophie erwacht zu einem neuen Selbstbewusstsein, interessanterweise durch die Orientierung an zwei Einsichten bzw. Aufgaben, deren an Spannungen reiches Verhältnis in ein diffuses Licht getaucht bleibt. Auf der einen Seite schöpft es seine Kraft daraus, dass es sieht, wie abhängig das vorgeblich reine Denken der Philosophie von außer- oder vorphilosophischen (ökonomischen, sozialen, sprachlichen usf.) Voraussetzungen ist. Auf der anderen Seite steht es ganz im Zeichen des Aufbruchs: Die Menschen können – weit mehr, als es ihnen jemals zuvor bewusst gewesen ist – die Welt verändern. Es ist, als ob das Zeitalter unzähliger „Wenden“, „Aufbrüche“, „Anfänge“, „Herausforderungen“, „Übergänge“, „Reformen“ und „Revolutionen“ anbräche. In der Philosophie wird die Kategorie des Möglichen gegen die Übermacht des Wirklichen in den Zeugenstand gerufen. Das Schicksal der Menschen wird nicht von Gott oder von irgendwelchen außerweltlichen Kräften bewegt, sondern von denen, die durch Arbeit und politische Organisation, durch Wissenschaft und Technik eine bestimmte neue gesellschaftliche Ordnung anstreben. Die Philosophie sieht sich in einen gesellschaftlichen Diskussionsprozess verwickelt; weniger darüber, wer die Menschen ihrem Wesen nach eigentlich sind oder welches die unerschütterlichen Grundlagen jeder gesellschaftlichen Ordnung, die nicht in den Naturzustand zurückfallen will, sind. Es geht eher um die Frage: An welchem Punkt stehen wir, wohin gehen wir? Und, eng damit verbunden, jene nach dem Spielraum unserer Selbstbestimmung.

Die Philosophie der Neuzeit sagt, der Mensch sei prinzipiell frei, liege aber überall in Ketten. Selbstbestimmung und Selbstthematisierung rücken immer stärker ins Zentrum des philosophischen Diskurses, u. a. auch deshalb, weil der historische, religiöse, metaphysische Hintergrund, das Aufgehobensein in einem durch göttliches Wirken gesicherten Kosmos, wegbricht. Es ist ja eines der Großereignisse dieses „langen“ 19. Jahrhunderts, dass die Rückversicherung in einem welttranszendenten, göttlichen Wesen als einem fundamentum inconcussum veritatis (einem unerschütterlichen Grund der Wahrheit) nicht mehr recht gelingen will. An diese Rückbindung (religio) glauben immer weniger Menschen. Die gesellschaftliche, in den Institutionen und Symbolsystemen verankerte Realität des christlichen Glaubens wird schwächer. Schon L. Feuerbach schreibt, dass sie „nichts weiter mehr ist, als eine fixe Idee, welche mit unseren Feuer- und Lebensversicherungs-Anstalten, unseren Eisenbahn- und Dampfwägen, unseren Pinakotheken und Glyptotheken, unseren Kriegs- und Gewerbeschulen, unseren Theatern und Naturalienkabinetten im schreiensten Widerspruch steht“.2

Die Menschen fragen zunehmend nach sich selbst und nach der Zeit, in der sie als Zeitgenossen leben. Bei Marx, Darwin, Nietzsche u. a. fragen sie gleichsam in großen Bögen und langen Zeiträumen. Sie versuchen sich selbst, die Spuren der Menschen und der Menschheit als die eines großen Projekts zu verstehen: Woher sie kommen, wohin sie gehen, was sie tun und worauf sie hoffen können.

Anders gesagt, auf diese Fragen gibt es keine selbstverständlichen Antworten mehr. Ein Philosoph des 20. Jahrhunderts – Ernst Cassirer – schreibt: „Unsere Welt wird zu einem Kosmos, der in sich selbst ruht und in sich seinen Schwerpunkt haben muß.“ Und: „Der Anspruch des Menschen auf die Position im Zentrum ist bodenlos geworden. Er agiert jetzt im unendlichen Raum […]. Er ist umgeben von einem stummen Universum, von einer Welt, die auf seine religiösen Empfindungen und moralischen Forderungen mit Schweigen reagiert.“3

Insofern sie ohne eine transzendente oder göttliche Offenbarung auskommen muss, wird die Welt auf einen eigenen, ihr immanenten Schwerpunkt verwiesen. Jürgen Habermas, ein anderer zeitgenössischer Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, geht davon aus, dass es charakteristisch für die Moderne sei, dass die Vernunft sich aus sich selbst begründen müsse: „die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen.“4 Sie kann sich nicht mehr an eine Offenbarung, an eine außerweltliche Heilsordnung wenden. Auch auf „die Natur“ kann sie nicht mehr ohne Weiteres zählen, auch wenn sie hofft – im 19. wie im 20. Jahrhundert – aus der Natur, insbesondere aus der „Evolution“ und ihren Gesetzmäßigkeiten Aufschluss über das menschliche Leben zu gewinnen. Doch zuletzt muss sie sich verständigen über das, was sie als „vernünftig“ oder „natürlich“ akzeptieren will. Und das Wissen darüber kann sie nur aus ihren eigenen Überlegungen und Erfahrungen schöpfen und nicht mehr aus zweifelhaft autorisierten Instanzen – sei es aus „Gott“ oder aus der „Natur“.

Man kann in diesem Zusammenhang einen weiteren Gedanken anschließen: „Die Geschichte“ wird wichtig – aber auch problematisch. Nicht nur die Geschichte der Natur, deren Evolution, sondern auch die Geschichte der menschlichen Gesellschaften gerät in den Fokus philosophischen Interesses, insofern sie sowohl als konstitutiv für die zeitgenössische Weise der Bezugnahme auf Selbst und Welt wie auch als zu bewältigende Aufgabe begriffen wird: als eine Geschichte religiöser Entfremdung, wirtschaftlicher Unterdrückung und wissenschaftsförmiger Verdinglichung des Menschen, aus der es gilt, sich herauszuarbeiten. Dieser Aspekt verweist auf ein weiteres Charakteristikum – die Zeit. Vor allem die Zukunft wird wichtiger, also das, was vor den Menschen liegt. Entsprechend erhält im Modernisierungsprozess das Neue einen unendlichen Wert. Im 20. Jahrhundert scheint sich die Entwicklung zu überschlagen, das Neue überhaupt einen Wert an sich selbst zu bekommen.

Programm

Vor diesem allgemeinen Hintergrund sollen in diesem Buch vier Hinsichten entwickelt werden, die für die Philosophie im Verlauf des 20. Jahrhunderts zentral erscheinen. Und zwar ausgehend von einem Gedanken, der wiederum von Marx stammt, aber auch von anderen Philosophen um die Mitte des 19. Jahrhunderts geteilt wurde. Man sprach davon, die Philosophie „aufheben“ zu müssen.5 Die Philosophie stürzt in heftige Selbstzweifel, wie sie sie immer wieder erfahren hat: Zweifel hinsichtlich des Sinns oder Unsinns dessen, was sie tut. Was soll Philosophie eigentlich? Wozu taugt sie? Diese Zweifel werden um die Mitte des 19. Jahrhunderts stark und abgründig. Der Philosoph L. Feuerbach spricht von einem Prozess notwendiger „Selbstenttäuschung“, durch den die Philosophie hindurchgehen müsse. Das philosophische Denken tritt geradezu in ein Stadium der Selbstenttäuschung ein – in des Wortes doppelter Bedeutung. Das, was die Philosophie glaubte über die Welt mit Fug und Recht feststellen zu können – das kann sie gar nicht. Und in diesem dräuenden Schatten der Aufhebung der Philosophie oder auch ihrer Selbstaufhebung, ihres Selbstzweifels, ihrer Selbstzerstörung, kann sie nach neuen Fragen und Antworten Ausschau halten, eine Neubegründung initiieren, sie sollte sich radikal von der alten unterscheiden.

Welche Antworten hat die Philosophie angeboten, um in diesem Zusammenhang der Selbstbegründung mit ihrem radikalen Selbstzweifel fertigzuwerden? Was kann die Philosophie eigentlich noch leisten? Worin also besteht das Besondere, das sie in der modernen Welt von derjenigen anderer Epochen unterscheidet?

Anders gesagt, diese kleine Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert folgt nicht jenem beliebten Schema, nach dem gesagt wird, die ganze Geschichte der Philosophie bestünde lediglich aus Fußnoten zu Platon – ein berühmter Satz A. N. Whiteheads. Es könnte auch so sein, dass es besondere, durch historische Konstellationen spezifizierte Fragen sind, vor denen die Philosophie in den letzten zwei Jahrhunderten gestanden hat und steht.

Vorphilosophische Welterfahrung

Einen ersten Gedanken, der wichtig erscheint, kann man wie folgt umschreiben: Das, was nicht philosophiert, drängt sich, beginnend im 19. Jahrhundert – und wie zu ihrem Erstaunen –, ins Bewusstsein der Philosophen, man könnte es die vorphilosophische Welterfahrung nennen. Offensichtlich hat die Philosophie versäumt, auf eine besondere Art der Erfahrung Acht zu geben. Diesen Mangel, der von vielen Autoren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts angemahnt wird, sind wir im 20. Jahrhundert ständig bemüht zu beheben. ‚Vortheoretische Weltbedeutsamkeit‘ ist ein anderer Ausdruck, der – im Zusammenhang mit Lebenswelt – auf vergleichbare Bedenklichkeiten verweist.

Worum handelt es sich dabei? Programmatisch erklärt Feuerbach: „Der Philosoph muß das im Menschen, was nicht philosophiert, was vielmehr gegen die Philosophie ist, dem abstrakten Denken opponiert, das also, was bei Hegel zur Anmerkung herabgesetzt ist, in den Text der Philosophie aufnehmen. […] Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, der Nichtphilosophie“6, zu beginnen. Man kann diese wenigen Zeilen des Philosophen Ludwig Feuerbach nicht hoch genug veranschlagen. Vor allem erschließen sie eine große Anstrengung der Philosophie der modernen Welt. Es müssen Erfahrungen in den Text der Philosophie aufgenommen werden, die für sie zuvor in einem gewissen Sinne nicht existiert haben oder vorschnell als irrelevant oder irrational abgetan worden sind.

Worin artikuliert sich diese vorphilosophische Welterfahrung? Wie verschafft sie sich ihren Ausdruck? Sobald die entsprechenden Begriffe genannt werden, erhellt sich sehr schnell, was damit gemeint ist. Es kommen Begriffe wie Leben, Praxis, Leib, Unbewusstes, aber auch Grenzerfahrungen wie Angst, Verzweiflung, Wahnsinn, Tod usw. ins Spiel, Themen, die für die philosophische Tradition eher eine marginale Rolle gespielt haben: unbewusste Motive, soziale, politische und ökonomische Zusammenhänge. Das alles lag nicht unbedingt vollständig außerhalb des philosophischen Interesses, aber es gerät nun in einer anderen Konstellation und mit einem anderen Gewicht in die philosophische Diskussion.7 Die Welt verändert sich (Industrialisierung, Mobilisierung, Demokratisierung, Aufstieg und Ausdifferenzierung der Wissenschaften, Säkularisierung, moderne Kunst, Expansion des (Aus-)Bildungssektors usf.) und mit ihr auch die Ordnung der Begriffe und Diskurse. Jene Topoi gelangen in den Blick als wirkungsstarke Hintergrundfaktoren, die unser Leben immer schon bestimmen, ohne dass wir uns ihrer, also z. B. dessen, dass ökonomische Zusammenhänge, unbewusste Konflikte, bestimmte Leidenschaften, sprachliche Strukturen oder auch das Alltägliche das Denken der Philosophen in ‚reinen‘ Begriffen bestimmen, bewusst sind.

Die Philosophie versucht, ausgehend von dieser vorphilosophischen Welterfahrung – man könnte auch sagen, vom „Leben“ – eine Perspektive zu gewinnen: nämlich die, wofür und in welcher Hinsicht Philosophie wichtig wird. Der erste Teil dieses Buches beschäftigt sich mit der Diskussion über das Leben und den Begriff, mit der ständigen Revolte des Lebens gegen den Begriff, die sich anhand von vier wichtigen Erfahrungsdimensionen – Existenz, Leib, Praxis und Unbewusstes – artikuliert.

In Auseinandersetzung mit den Wissenschaften

Ein zweiter leitender Gesichtspunkt ist die Auseinandersetzung der Philosophie mit den neu entstehenden Wissensagenturen, nämlich mit den Wissenschaften. Das 19. und das 20. Jahrhundert sind vor allem Zeitalter der modernen, empirisch-experimentellen Wissenschaften, ihres Aufstiegs und ihrer Ausdifferenzierung. Auch von dort her muss sich die Philosophie neu positionieren: Was eigentlich kann sie noch an Wissen, an Erkenntnissen beitragen, wenn die Natur, die Gesellschaft, der Mensch unter den verschiedenen Wissenschaften aufgeteilt und zu ihrer Erforschung freigegeben werden? Welche Aufgabe hat in diesem Augenblick noch die Philosophie? Das ist eine weitere Anfrage an die Philosophie, durch die sie in tiefe Selbstzweifel verstrickt wird. Was kann sie noch leisten in Bezug auf die Domäne, die über zweitausend Jahre enorm wichtig für sie war, nämlich das Wissen, das Wissen von der Welt, das Wissen von den Menschen, das Wissen von der Gesellschaft und der Natur?

Die Hoheit über das Wissen von den Menschen wird von der Psychologie und Soziologie, aber auch der Medizin reklamiert, das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der materiellen Welt fällt an die Physik, die Chemie und an die Biologie – was also bleibt für die Philosophie? Die Philosophen des 20. Jahrhundert sind bemüht, eine neue Arbeitsteilung zu etablieren, sie überlassen das positive, empirische Wissen den mit Experiment und Statistik operierenden Wissenschaften und fragen nur noch oder in erster Linie nach den begrifflichen und logischen Grundlagen, mit denen die Wissenschaften die Welt zu erklären versuchen. Damit einher geht der Aufschwung der Wissenschafts- und der Erkenntnistheorie. Sie werden vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Hauptarbeitsfeldern der Philosophie – also nicht die gegenständliche Erkenntnis der Welt, sondern Metatheorie wissenschaftlichen Erkennens. Wissenschafts- und Erkenntnistheorien konzentrieren sich in erster Linie auf die erkenntnismäßigen Mittel, die die Wissenschaften verwenden, um die Welt zu erforschen, kurz, sie leisten Methodenkritik.

In Anlehnung an die Sprache

Der dritte leitende Gesichtspunkt entwickelt sich in einem großen Umfang und in einer enormen Intensität im Ausgang der großen klassischen Philosophie, anschließend an die Gedanken Kants, W. von Humboldts und Hegels. Der Grundimpuls der berühmten kopernikanischen Wende Kants, die Welt vom Subjekt oder vom Bewusstsein des Menschen, von seinem Denken her auszulegen, wird im Folgenden immer weiter vertieft. Die Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts untersuchen die sprachlichen Voraussetzungen, auf denen unser Denken beruht, die syntaktischen, d. h. die grammatikalischen, die semantischen, also die bedeutungsmäßigen, und die pragmatischen, d. h. die handlungsförmigen Voraussetzungen unseres Denkens und Sprechens. Die Philosophen fragen immer genauer danach, auf welchen sprachlichen Voraussetzungen unser Denken eigentlich beruht, in welchem Umfang es durch die Grammatik und die Logik unseres Sprechens bestimmt wird. Der Erste, der das in neuerer Zeit in Form von Aphorismen und Sentenzen thematisiert hat, war, nahe Darmstadt geboren, Georg Christoph Lichtenberg.

Nietzsche, Wittgenstein und die Folgenden haben ein überaus empfindliches Organ dafür entwickelt, wie tief unser Denken in sprachlichen Strukturen verhaftet ist. Das soll die dritte, überaus wichtige Perspektive sein: die Auseinandersetzung der Philosophie mit der Sprache. Aber so, dass sie zeigt, auf welche überraschend vielfältige Weise die „Wende zur Sprache“, der berühmt-berüchtigte linguistic turn, vollzogen wird – sowohl in Bezug auf die Sprache als Medium (des Philosophierens) als auch als Gegenstand (der Selbstkritik). Die Wende reicht von der sprachanalytischen Philosophie bis hin zur Hermeneutik und zu den philosophischen Strömungen, die das Narrative (Erzählende) und die Alltagssprache zum Dreh- und Angelpunkt einer Philosophie der Sprache gemacht haben. Noch überraschender ist indes zu sehen, wie gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch der Glanz dieses großen Paradigmas verblasst und das Zutrauen schwindet, alle philosophisch bedeutsamen Fragen im Medium sprachlicher Zeichen erörtern zu können. Wie gegenüber einer Philosophie, die generell als Wissenschaft auftreten wollte, Skepsis sich breit macht – auf vergleichbare Weise scheint auch der Anspruch der Sprachphilosophie, prima philosophia (‚Erste Philosophie‘) zu sein, nicht eingelöst werden zu können.

Im Zeitalter der Extreme

Bleibt ein letzter Gesichtspunkt, von dem angenommen wird, dass er ganz wesentlich das philosophische Denken im 20. Jahrhundert bestimmt hat. Der britische Historiker Eric Hobsbawm hat über das 20. Jahrhundert gesagt, es sei das Zeitalter der Extreme gewesen: Ein ungeheurer gesellschaftlicher Fortschritt, vor allem im Westen, kontrastiert mit einem Rückfall in die Barbarei unvorstellbaren Ausmaßes, der – in unseren Breiten – seine Chiffre im Namen Auschwitz gefunden hat. Es sei, so schreibt Hobsbawm, „ohne Zweifel das mörderischste Jahrhundert von allen“8 gewesen. Nicht nur aufgrund der Weltkriege, andere apokalyptische Namen in einer langen Kette unvorstellbar großer Verbrechen lauten Hiroshima, Kolyma, Ruanda. Nach den moralischen Katastrophen dieses mörderischsten Jahrhunderts muss man sich fragen, inwieweit die Philosophie, die Vernunft und das Denken überhaupt einen humanitären Wert haben. Angesichts dessen, was geschehen ist, haben sie versagt.

Was soll Philosophie, wenn sie nichts dazu beiträgt oder dazu beitragen kann, diese menschheitlichen Katastrophen oder, wie der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman sagt, den „kategorialen Mord“ zu verhindern? Auch von dieser Warte aus werden die Philosophie und ihr Plädoyer für die Einrichtung vernünftiger Zustände zutiefst infrage gestellt. Der Philosophie – wie aller höheren Kultur Alteuropas – wird der Vorwurf gemacht, angesichts der beispiellosen Verbrechen des 20. Jahrhunderts keinen nennenswerten Widerstand entwickelt zu haben. Der schlimmste Verdacht gegen die Philosophie ist der, dass mit diesen Katastrophen auch die Begriffe zerstört worden sind, um über Ereignisse dieser Tragweite noch sprechen, um sie diagnostizieren und klären zu können. Das heißt, dass auch die begrifflichen Mittel der Philosophie angegriffen werden durch die Unvorstellbarkeit der Verbrechen jenes Jahrhunderts. Ein Teil der Philosophie setzt sich diesem (zwiespältigen) Zweifel aus. Offenbar ist die humanitäre Substanz im 20. Jahrhundert so weit aufgebraucht, dass der Gebrauch traditioneller philosophischer Begriffe von vornherein gewissen Täuschungen unterliegt, er sich eigentlich verbietet.

Das sind die vier Gesichtspunkte, in deren Schatten die Philosophie im 20. Jahrhundert nach Antworten sucht. Zunächst: Wie kann die vorphilosophische Welterfahrung jedes Einzelnen – die Erfahrung des Alltäglichen wie die von Grenzsituationen – in die Reichweite der Philosophie gebracht werden? Dann, zweitens: Wie sollen wir uns positionieren angesichts der Wissenschaften, die immer größere Felder des Wissens für sich reklamieren? Was bleibt der Philosophie? Erschließen sich ihr neue Themen? Durch neue Vokabulare? Durch Umschichtungen im kulturellen Gedächtnis? Muss sie vielleicht im Prozess der Kultur nicht stärker als je zuvor den Widerstreit zwischen Wissen und Weisheit, Wissenschaft und Kunst/Literatur, zwischen Diskursivität und dem, was an den Rändern des Diskursiven sich abspielt, austragen? Die dritte Frage lautet: Welche Rolle spielt die Sprache? Wie verstehen wir uns und die Anderen von den Strukturen sprachlicher Verständigung her? Der letzte Gesichtspunkt stellt die Philosophie unter einen Generalverdacht: Taugen ihre begrifflichen Instrumente überhaupt noch, um sich über eine Welt zu verständigen, die Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes wie Auschwitz und Hiroshima, den Gulag und den Faschismus in seinen unterschiedlichen europäischen (und außereuropäischen) Gestalten hervorgebracht hat?

Philosophie im Zeitalter der Extreme

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