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I Vorphilosophische Welterfahrung

Begriff und Leben

Zum Einstieg

[…] das in uns, was nicht philosophiert, soll in den

Text der Philosophie aufgenommen werden.

L. Feuerbach

Eine Herausforderung, vor der die Philosophie im 19. und mehr noch im 20. Jahrhundert steht, ist die auffällige Lücke, die zwischen der Philosophie und dem Leben klafft. Eindrucksvoll wird sie von Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) auf den Punkt gebracht: „Worin man befangen ist, was man selbst ist, das kann man nicht erkennen. Man muss aus ihm herausgehen, auf einen Standpunct außerhalb […]. Dieses Herausgehen aus dem wirklichen Leben […] ist die Speculation […]. Man kann leben ohne das Leben zu erkennen; aber kann man nicht das Leben erkennen, ohne zu speculiren […]. Leben ist ganz eigentlich Nicht-Philosophiren; Philosophiren ist ganz eigentlich Nicht-Leben, und ich kenne keine treffendere Bestimmung beider Begriffe, als diese. Es ist hier eine vollkommene Antithesis, und ein Vereingigungspunct ist […] unmöglich.“1

Es muss offenbleiben, ob die Antithese von Begriff und Leben, wie Fichte glaubte, zwangsläufig und eine für die Philosophie notwendige Annahme ist, oder aber, ob es sich um eine tiefe Entfremdung (Erkrankung) handelt, von der die Philosophie an der Wende zum 19. Jahrhundert befallen ist. Im Horizont dieser Antithese jedenfalls werden sich weite Teile der modernen Philosophie bewegen.

Für Fichte heißt Leben, im Leben befangen (zu) sein. Wer im Leben befangen ist, kann es nicht erkennen. Philosophieren ist – nicht nur für Fichte – die große und schwierige Verführung, es dennoch zu versuchen (zu schaffen): uns eben doch – und wer weiß schon wie weit – aus der Befangenheit des Lebens herauszulösen.

Ein geeignetes Mittel, einen gewissen Abstand zur relativen Blindheit, die vor allem aus dem Vollzug des Lebens resultiert, herzustellen, ist die Reflexion (Besinnung) oder, wie Fichte sagt, die Spekulation. Aber weder Philosophie und Leben noch Selbstreflexion und Existenz können zur Deckung gebracht werden. Philosophie als Erfahrung im Medium begrifflicher Reflexion steht dabei „über“ oder besser, „neben“ dem Leben: Das Leben ist das Andere zur Philosophie.2

Dass das Leben seine Befangenheit und die Philosophie ihre Lebensferne nicht grundsätzlich abstreifen können, heißt aber weder, dass der Lebensvollzug in seinen alltäglichen Routinen unfrei oder unbedacht ist, noch, dass die Philosophie desinteressiert am Leben vorbeigeht: Was genau es besagt, wird zum eigentlichen Kampfplatz der Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert. Auch wenn das Leben und seine Erkenntnis im Widerstreit stehen, kann von ihm und seiner Erfahrung doch weit mehr und auch anderes, als in der traditionellen Philosophie üblich, Aufnahme in den Text der Philosophie finden. Es könnte sein, dass sich unter dem Ansturm des Lebens sowohl die Formate wie die Gewichte verschieben.

Jedenfalls machen sich das Gefühl und die kämpferische Einstellung breit, dass die klassische Philosophie, repräsentiert durch Kant und den Deutschen Idealismus (Fichte, Hegel, Schelling), das wirkliche Leben nicht erreichen kann, dass der Kontakt zur Basis abgerissen ist und die Vokabulare, die sie benutzt, um die Welt zu beschreiben und der Erfahrung des Einzelnen zum Ausdruck zu verhelfen, eigentümlich schemenhaft, abstrakt und unwirklich bleiben. Immer wieder werden die „wirkliche Welt“ und der „wirkliche Mensch“, das „Leben“ und der Verlust der lebendigen Beziehungen beschworen.3 Es geht um eine Auffassung von Philosophie als Teil des alltäglich erfahrenen, politischen und kulturellen Lebens, dem die Philosophie nicht als ein davon getrennter und geschützter Raum reiner und abstrakter Begriffe gegenübersteht.

Dabei hat die Emphase, mit der auf der „wirklichen Welt“ und dem „leibhaftigen Subjekt“ der individuellen Existenz eines jeden bestanden wird, eine betont kritische Spitze, nämlich die einer ständigen Revolte gegen das vorzüglichste Organ der Philosophie: den Begriff. Denn einer allgemein verbreiteten Auffassung der Philosophie zufolge ist nur das real/rational, was in Begriffen klar und deutlich bestimmt (erkannt) und im Zusammenhang anderer Begriffe sowie ihrer Korrespondenz zur wirklichen Welt erklärt und abgeleitet werden kann. Nur was sich im Rahmen begrifflich kontrollierten Denkens klar sagen und diskursiv explizieren lässt, ist philosophisch kreditwürdig. Das begriffliche Denken ist die Grenze, bis zu der das Leben etwas zu sagen hat. Jenseits dieser Grenze verliert es seinen Wert: seine Mitsprache- und Teilhaberechte am philosophischen Diskurs. Es sinkt in die Bedeutungslosigkeit bloßer (subjektiver) Meinung zurück.

Die vorphilosophische Selbst- und Welterfahrung, wie sie in Gestalt der Existenz leibhaftiger Subjekte und eines in gesellschaftliche Mechanismen verstrickten Lebens kommuniziert wird, sperrt sich gegen die glatte Vereinnahmung durch begriffliches Denken. Mit ihr revoltieren die neuen, meist am Rande von Akademien und Universitäten tätigen Philosophen gegen die traditionelle wie selbstverständliche Unterstellung: Alle Erfahrung ende in Erkenntnis, alles Leben im Urteil und alle Anschauung im Begriff.

Die Philosophen versuchen die Zwänge, die das begriffliche Denken auferlegt, zu unterlaufen, indem sie ex negativo zeigen, wo seine Grenzen liegen: was am Leben durch die Maschen der rationalen Begriffe hindurchschlüpft oder auf bedenkliche Weise in ihnen hängen bleibt. Innerhalb und außerhalb der Philosophie wird nach neuen Wegen des sprachlichen Ausdrucks und/oder ihrer literarischen Darstellung gesucht. Offensichtlich eignet sich nicht jedes Darstellungsmedium für jedes Thema gleich gut.

Diese Suche steht im engen Zusammenhang zu einer anderen Überlegung, die alle Philosophie der modernen Welt, wenngleich auf unterschiedlichen Niveaus, bewegt: Sie denkt nach über die Öffnung der Zeit, sie reflektiert auf Augenblicke und Umstände, unter denen sich etwas (grundlegend) ändern könnte. Philosophie wird zu einer im experimentellen Sinne riskanten Reflexion, nicht nur im Blick auf die notwendigen und hinreichenden Voraussetzungen möglicher Probleme, Projekte und Programme, sondern auch in ungesicherten Vorgriffen auf prekäre, im Entstehen begriffene Dinge. Ihr mächtigstes Instrument, der Begriff und mithin die Logik, helfen an dieser Stelle nur bedingt weiter, vor allem dann nicht, wenn eine neue Herausforderung laut wird: Die gegenwärtigen Grenzen bestehender Verhältnisse (der Gesellschaft, der Kunst und der Technik, der Philosophie und der Kultur) zu überschreiten, mindestens aber Vorbereitungen für ihre Überschreitung zu treffen. Philosophie wird zu einer Reflexion auf Orte und Ereignisse, an denen Übergänge möglich werden könnten.

Dazu sucht sie Unterstützung bei den Wissenschaften, aber mehr noch nimmt sie Zuflucht bei Kunst und Literatur. Auch die Politik wird auf eine neue und überragende Weise bedeutsam. Man sieht die Philosophie auf der Suche nach neuen Unterscheidungen von Gewicht, die die alten ersetzen könn(t)en: als erprobten die Analytiker des Geistes und der Kultur wechselnde Diskursrollen und Perspektiven; als bastelten sie an Hypothesen; als verschmähten sie – so Nietzsche über sich selbst – alle Dinge und Fragen, die das Experiment nicht zulassen. Sie suchen nach Bezügen, die quer zur üblichen Ordnung liegen, nach Spuren, die undeutlich bleiben, nach einer Schrift, die umwegig ist, nach Mitteilungen, die indirekt gegeben werden, d. h. in alledem nach Erfahrungen, deren Ausgang offen und ungewiss bleibt.

Die Kategorien, die dabei hoch im Kurs stehen, sind solche, die bereits in ihrem Anblick schwindeln machen: Das Offene und Veränderliche, das Schöpferische und Intuitive, das Plötzliche und das Zufällige, das Explorative und das Experimentelle, das Fremde und das Verdrängte, das Endliche und das Problematische usf. Diese Kategorien lenken den Blick unweigerlich in die Zonen der Sinnzusammenbrüche und Neuanfänge. Der Sinn selbst gerät wegen seiner Zentraltendenz zur Mitte und zur Beschwichtigung in Verdacht, auch ein Agent der Unterdrückung zu sein.

Philosophie im Zeitalter der Extreme

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