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Mon corps propre

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M. Merleau-Ponty

Man nimmt in mir wahr,

nicht ich nehme wahr.

M. Merleau-Ponty

Das Verhältnis des Leibes zu Bewusstsein und Wille, zu Sprache und anderen Formen des gestischen, motorischen und bildlichen Ausdrucks verfolgt die Philosophie auch im 20. Jahrhundert auf vielfältige Weise. Allerdings unter Bedingungen, unter denen ihr in Gestalt der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie und der modernen Medizin, eine mächtige Konkurrenz erwachsen ist. Es gibt einen bunten Strauß von Philosophen, die versuchen, den Leib aus den Fängen des Geistes und der Vernunft, und d. h. auch aus denen der Wissenschaften, zu befreien. Neben Wilhelm Dilthey (1833–1911)46 sind es vor allem die Lebensphilosophen Henri Bergson (1859–1941) und Ludwig Klages (1872–1956), die vergleichbare Absichten verfolgen. In Deutschland war es vor allem die philosophische Anthropologie, die mit Max Scheler (1874–1928), Helmuth Plessner (1892–1985) und Arnold Gehlen (1904–1976) ihre bedeutendsten Repräsentanten hat und in den 20erbis 40er-Jahren einen Höhepunkt erlebt. Sie nimmt die Herausforderung vonseiten der Wissenschaften an, indem sie versucht, deren Resultate in die philosophische Bestimmung des Menschen zu integrieren. Angesichts der Wege, die die Philosophie im 20. Jahrhundert eingeschlagen hat, hat man von der philosophischen Anthropologie – nicht ganz zu Unrecht – von einem deutschen Sonderweg gesprochen, der über weite Strecken der traditionellen Anthropologie und ihrem Dualismus von Geist und Körper, Trieb und Vernunft verhaftet geblieben ist. Der Mensch ist Geist (Scheler), ein exzentrisches Wesen (Plessner), ein handelndes Wesen (Gehlen). Gesamtdeutungen dieser Art können sich – trotz gegenteiliger Beteuerungen – nur schwer des Verdachts erwehren, philosophische Anthropologie im traditionellen Sinne: einer Suche nach Wesensbestimmungen des Menschen zu sein. Sie führen leicht in die Sackgasse des „Menschen selbst“ und seiner vermeintlichen Überlegenheit über den Körper und dessen Affekte. Überholt scheint vor allem die Geste, mit der sie die Philosophie verteidigen: sie aus einem starken Gedanken oder Gesichtspunkt heraus als Lehre oder Weltanschauung über den Menschen zu entwerfen.

Eine andere Möglichkeit, den Leib und damit zusammenhängende Fragen zu thematisieren, zeigt exemplarisch das Werk von Maurice Merleau-Ponty (1908–1961), insbesondere sein Buch Phänomenologie der Wahrnehmung (1945, dt. 1966). Auch in ihm spielt der Leib eine herausragende Rolle. Dabei bezieht es sich weniger auf Nietzsche und die im letzten Kapitel angesprochene Tradition – eine Verwandtschaft in der methodischen Orientierung ist gleichwohl zu erkennen.

Merleau-Ponty war eng mit Sartre befreundet, der sich gleichfalls stark für leibliche Phänomene, z. B. den Ekel, interessiert hat. Zusammen haben sie 1945 die legendär gewordene Zeitschrift Les Temps modernes gegründet. Später kam es jedoch zu Konflikten, und 1951 hat Merleau-Ponty die Redaktion verlassen. Die Diskussionen der Nachkriegszeit, die in Frankreich wesentlich durch Merleau-Ponty und Sartre mitbestimmt worden sind, waren immer auch Auseinandersetzungen über die Topoi des Humanismus. Sartre zeigt sich in diesem Zusammenhang als außerordentlich wandlungsfähig. Nachdem er zunächst den Existenzialismus verteidigt hatte, sympathisierte er später stark mit bestimmten Spielarten des Marxismus (z. B. dem Maoismus). Für die kommunistische Partei und die Intellektuellen, die ihr nahestanden, war der Existenzialismus als kleinbürgerliche Ideologie verschrien: Er schätze die menschliche Individualität und Freiheit viel zu hoch gegenüber den Rechten und Möglichkeiten des Kollektivs.

Sartre war der Starintellektuelle jener Zeit – zuständig für alle Fragen und Kommentare von der Politik über die Literatur bis zur Weltgeschichte. Im Zentrum der Kontroversen mit Merleau-Ponty stand immer wieder die Frage: Worin besteht der wahre Humanismus − im Marxismus oder im Existenzialismus? Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gehörten Repräsentanten beider Strömungen der Widerstandsbewegung (résistance) an, und beide erhoben den Anspruch, den Humanismus zu vertreten, der sich alsbald – im Kontext der Überlegungen von Heidegger, Lévi-Strauss u. a. – als fragwürdig erweisen sollte.47 Die Massenverfolgungen in der Sowjetunion und die öffentlich inszenierten Schauprozesse gegen unliebsame Intellektuelle Ende der 40er-Jahre haben Merleau-Ponty, der gleichfalls mit dem Marxismus sympathisierte, dazu bewogen, sich deutlich von dieser Variante des Kommunismus (Stalinismus) zu distanzieren. Er schrieb ein zweibändiges Buch Humanismus und Terror (1947, dt. 1966), in dem er das, was in Russland passierte, als eine Widerlegung aller kommunistischen Träume darstellt und dem Kommunismus bzw. Marxismus-Leninismus humanistische Züge abspricht. Dasselbe Thema hat er dann auch in seinem nach wie vor lesenswerten Buch: Die Abenteuer der Dialektik (1955, dt. 1968) ausgebreitet. In diesem geht er in teils theoretischen, teils politischen Analysen auf die Situation in den 40er- und 50er-Jahren ein, auch auf die Diskussion in Frankreich. Dabei sollte man nicht vergessen, dass zu dieser Zeit in Frankreich noch eine starke kommunistische Partei den (linken) Ton angab, der in der Politik mit entsprechendem Gewicht bis in die 70er- und 80er-Jahre zu hören war. So stand Merleau-Ponty in einem permanenten Zweifrontenkrieg: gegen die Kommunistische Partei, die ihre (vormals sympathisierenden) Kritiker bzw. Antagonisten als Verräter, als kleinbürgerliche Ideologen und Intellektuelle brandmarkte, sowie gegen die, die, wie Sartre in den 50er-Jahren, mit ihren Theorien den Kommunismus zu rechtfertigen suchten.

Phänomenologie der Wahrnehmung

Im Jahr des Kriegsendes, 1945, erscheint Merleau-Pontys Klassiker: Phänomenologie der Wahrnehmung. Das Buch hat seitdem viele Auflagen erlebt. Was heißt „Phänomenologie“? Man könnte vereinfacht sagen: Rückgang auf die Phänomene, auf die Erscheinungen (der Dinge, der Erlebnisse und der Intentionen), kurz, auf das, „was sich zeigt“. Entsprechend der Aufruf: Zu den Sachen selbst! Die Sachen sind die Phänomene, die vorurteilslos beschrieben werden sollen.

Edmund Husserl (1859–1938) hatte die Phänomenologie aus der Taufe gehoben und sie über die phänomenologische Methode definiert. Er bestimmt ihr Ziel darin, dass „die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung […] zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinns zu bringen ist“.48 Diese Forschungsmaxime wird Merleau-Ponty Zeit seines Lebens begleiten.49 Weder dürfen unser Vorwissen noch unsere theoretischen Konstruktionen als gleichsam sachfremde Filter unsere Selbst- und Weltwahrnehmung verzerren. Sie müssen ‚eingeklammert‘ werden, um herauszufinden, was diese Phänomene von sich aus zeigen. Die Beschreibung geht jeder Analyse und jedem Verständnis voraus: Am Anfang soll die unvoreingenommene Erfahrung von dem stehen, was sich zeigt. Für Merleau-Ponty öffnet sich diese Erfahrung eben in der Wahrnehmung, die im Leib gründet und die Bedingung dafür darstellt, dass die Welt und ihre Phänomene konstituiert, erfahren und beschrieben werden können.

Im Unterschied zu Nietzsche geht Merleau-Ponty weit weniger aphoristisch vor. Sein Programm steht unter drei systematischen Gesichtspunkten – drei Kritiken: der Kritik am Sensualismus, am Assoziationismus und am Intellektualismus. Der Sensualismus bezieht sich auf unsere sinnliche Erfahrung, der Assoziationismus dagegen auf eine psychologische Theorie, die glaubt, dass unsere sinnliche Wahrnehmung sich am besten erklären lasse, wenn man die äußere Welt, auf die unsere Wahrnehmung reagiert, aus Einzelreizen zusammengesetzt auffasst. Dem Assoziationismus steht eine Theorie gegenüber, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts großen Anklang gefunden hat: die Gestalttheorie. Diese behauptet, dass unsere Wahrnehmung in „Gestalten“ erfolgt, für die es bestimmte „Gesetze“ gibt. Ein Beispiel:

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Die Wahrnehmung dessen, was sich zeigt, zerfällt nicht in eine Ansammlung einzelner, isolierter Punkte, vielmehr erweist sich unsere Wahrnehmung unwillkürlich durch die „Gestalt“ der ‚Linie‘ bestimmt. Wir sehen die Punkte als Linie. Die Gestaltwahrnehmung, in diesem Falle die Linie, verschwindet, wenn man die Punkte über einen gewissen Abstand hinaus voneinander entfernt (oder sich auf die Wahrnehmung einzelner Punkte konzentriert). Entsprechend nimmt die Gestalttheorie an, ein „Gesetz der Nähe“ beherrsche das Wahrnehmungsszenario. Wenn bestimmte Reize (Töne, Geschmackseindrücke, visuelle oder taktile Sinnesreize usf.) in einer gewissen räumlichen oder auch zeitlichen Nähe zueinander stehen, dann werden sie nicht als einzelne, isolierte Sinnesatome wahrgenommen, sondern als Gestalten, die, wie in unserem Beispiel die Linie, ein neues Ganzes ergeben. Die Linie im strengen Sinne (als ausgezogener Strich) wird ja nicht gesehen, zwischen den Punkten bleiben Leerstellen, für sie gibt es keine sensorischen Korrelate, die im Auge abgebildet werden können. Es scheint eine von Natur aus verdrahtete Konstruktionsleistung des Wahrnehmungssystems zu sein.

Entsprechend hat die Gestalttheorie, was unser sinnliches und kognitives, aber auch unser psychisches, affektives Wahrnehmen betrifft, bestimmte überindividuelle Ordnungsfiguren, „Gestalten“ des Wahrnehmens und Erlebens zu identifizieren versucht. Sie spricht in diesem Zusammenhang von Übersummativität und Transponierbarkeit. In unserer Wahrnehmung summierten wir wie selbstverständlich die einzelnen Punkte zu einer Linie auf, ohne dass wir sie aktiv oder willentlich miteinander in Beziehung setzten – ein „Dreiklang“ wiederholt sich auf unterschiedlichen Tonhöhen. Unsere Wahrnehmung gestaltete sich auch ohne unser Dazutun nach solchen Gesetzen, in diesem Fall nach dem „Gesetz der Nähe“. Darüber hinaus besitzen Wahrnehmungs- und Denkakte, aber auch Erlebnisse und psychische Befindlichkeiten eine mehr oder weniger hohe Prägnanz, d. h. eine Nach- oder Eindrücklichkeit, die sie in besonderer Weise aus der Umgebung herausgehoben sein lässt. Es gibt mehrere dieser „Gesetze“, z. B. auch das Gesetz der „guten Gestalt“.

Es ist klar, dass sowohl im Blick auf die Struktur unserer Wahrnehmungsmodi als auch in Bezug auf unsere Erlebnisse diese Überlegungen umstritten sind. Aber sie haben dazu beigetragen, eine andere Intuition vieler Theorien zu plausibilisieren: Dass das Ganze „mehr“ sei als die Summe der Teile oder, wie es mit der Gestalttheorie genauer heißen muss, dass es verschieden sei von der Summe seiner Teile.

In dieser Kontroverse über die Wahrnehmung ist der Assoziationismus, die seit der Aufklärung vorherrschende Theorie, der Widerpart der stärker ganzheitlich orientierten Auffassung der Gestalttheorie.

Merleau-Ponty geht, wie gesagt, gegen drei philosophische Positionen vor: den Sensualismus, den Assoziationismus und den Intellektualismus. Letzterer ist davon überzeugt, alles vom Bewusstsein, vom Intellekt her erklären zu können. Gegen alle drei Positionen erhebt Merleau-Ponty einen einzigen, generellen Einwand: Sie alle nähmen die äußere Welt, die unserer Erfahrung gegenübersteht, als eine fixe und fertige an. Die Behauptung, die er dagegenhält, ist die, dass wir sie erst fertig machen. Der Wahrnehmende in seinen willkürlichen oder unwillkürlichen Konstruktionen macht diese Erfahrung erst fertig – so wie man davon gesprochen hat, dass der Betrachter eines Bildes das Bild in seiner Wahrnehmung und Interpretation erst zu Ende malt. Der Vorwurf gegenüber den genannten Positionen lautet also, alle drei konzipierten die Welt als Tatsachen- und Ideenkomplexe, die in sich fertig vorlägen.

Dies wiederum ist der Ausgangspunkt zweier weiterer grundlegender Behauptungen: erstens, dass die Wahrnehmung uns den Weg zur Wahrheit bahnt und nicht das Denken. Die Wahrnehmung bildet einen Zugang zur Wahrheit jenseits der prädikativen Unterscheidungen von wahr und falsch. Zweitens, die Wahrnehmung ist das, was das Faktische und das Vernünftige verbindet, d. h. unter kontingenten Bedingungen Sinn stiftet. Ihr entstammt zugleich die Offenheit und Mehrdeutigkeit der Erfahrung. Das Vernünftige lässt sich zunächst übersetzen mit dem Verstehbaren oder dem Sinnvollen. Die Wahrnehmung aber sei grundlegend, weil sie uns den Horizont der Welt eröffnet. Über sie sind wir primordial (ursprünglich) mit der Welt verbunden.

Der Gesichtspunkt des Leibes

Der erste Hauptteil der Phänomenologie der Wahrnehmung ist mit „Le corps“ überschrieben – gemeint ist weniger der Körper, denn der Leib. Es geht um den corps propre, um den „eigenen Leib“, er ist ein lebendiger, fungierender Leib, der Erfahrung in des Wortes doppelter Bedeutung „macht“, sie zustande bringt als auch in ihrer (leiblichen) Wahrnehmung gegenwärtig ist. Dieser Leib ist ein véhicule de l`être du monde, ein „Vehikel des Zur-Welt-Seins“. Wie für Nietzsche erschließt sich die Welt für Merleau-Ponty nicht über das Bewusstsein, sondern über den Körper/Leib. Er ist dasjenige, von dem aus wir fundamental unser Verhältnis zu uns selbst und zur äußeren Welt klären können. Die Funktion und Gegebenheitsweise des Leibes ist nur zu verstehen, wenn „ich sie selbst vollziehe, und in dem Maße, in dem ich selbst dieser einer Welt sich zuwendende Leib bin“.50 Was ist das Besondere daran?

Es heißt zunächst, dass der Leib nicht einfach der gegenständliche Körper ist. Das ist die Perspektive der Naturwissenschaften, diese betrachten den Körper als einen Gegenstand, der nach den gleichen räumlichen und zeitlichen Regeln und Gesetzmäßigkeiten wie alle anderen materiellen Objekte auch funktioniert. Ein zwar hoch komplizierter, aber dennoch prinzipiell durchschaubarer Funktionszusammenhang, dem man mit den Erkenntniswerkzeugen der Physik, Chemie und Biologie beikommen kann. Betrachtet man das leibliche, fleischliche Substrat des Menschen, seine Muskeln und Drüsen, in dieser Weise, ist er Körper. Es ist eine Betrachtung von außen. Beim Leib ist das Selbstverhältnis mitgemeint, die besondere Weise, wie wir zu uns stehen, uns passivisch oder aktivisch wahrnehmen – wobei gerade diese letzte Unterscheidung am Leib verschwimmt. Es ist eines, eine massierte Reaktion von Nervenimpulsen in bestimmten Gehirnregionen mittels CT sichtbar zu machen und ihr einen Gefühlszustand, z. B. Angst, zuzuordnen, etwas anderes (von anderer Qualität) ist es, Angst zu fühlen oder zu ‚wissen‘, wie sie sich anfühlt. Der Leib ist kein Objekt der Untersuchung, sondern der Ausgangspunkt oder besser, wie Merleau-Ponty sagt: point de vue, also der Gesichtspunkt aller Wahrnehmung, von dem aus versucht wird, die Welt zu verstehen und zu interpretieren. Man könnte ein wenig übertrieben sagen: sehen mit den Augen des Leibes. Aber was heißt das? Operieren wir nicht zuletzt doch immer mit dem Bewusstsein? Merleau-Pontys Frage ist: Was und wie zeigt sich die Welt, wenn der Gesichtspunkt nicht das Bewusstsein, sondern unser Leib ist? Wie zeigt er sich, noch bevor die Wissenschaften ihre objektivierenden, objektiven Raster darüberlegen? Oder, was gleichbedeutend ist, in seiner vortheoretischen Weltzugewandtheit?

Das gesamte erste Kapitel des betreffenden Buches handelt von dieser Frage. Wie erscheint uns die Welt, wenn wir sie und uns selbst vom Gesichtspunkt des Leibes aus verstehen? Selbst die Sprache, glaubt Merleau-Ponty, wurzelt im Leib. „Sprache“ nennt er die intentionale Ausdrucksmöglichkeit des Leibes, also Gesten, Gebärden, Mimik, Sprache. Sie sind Ausdrucksformen des Leibes, mit denen wir uns, in ihm verkörpert, ein Weltverhältnis erschaffen. Für Merleau-Ponty wird der Leib zum Medium der menschlichen Existenz. Das Ich selbst ist leiblich, es ist im Leib „inkarniert“. Dadurch erhält der Leib den Charakter des Ich, er zeigt eine dem Bewusstsein vergleichbare Intentionalität. „Seinen Leib bewegen heißt immer, durch ihn hindurch auf die Dinge abzielen, ihn einer Aufforderung entsprechen lassen, die an ihn ohne den Umweg über irgendeine Vorstellung ergeht.“51

Für den philosophisch geschulten Verstand ist das eine starke Provokation. Von Augustinus bis zu Descartes und weit darüber hinaus wurde stets vom „inneren“ Menschen her gedacht. Für Merleau-Ponty bewohnt die Wahrheit aber nicht den inneren Menschen, es gibt keinen inneren Menschen. Die traditionelle Unterscheidung zwischen Innerem und Äußerem wird hinfällig. „Der Mensch ist zur Welt [est au monde], er kennt sich allein in der Welt.“52 Der innere Mensch meint in dieser Terminologie das reine Bewusstsein. Als rein denkendes Wesen ist er das, worauf sich Descartes mittels seiner Zweifelsmethode zurückzieht: den Zweifel nicht auch noch bezweifeln zu können. Die Innerlichkeit ist nicht unser inneres Gefühlsleben, sondern der Punkt der Reflexion, von dem wir in keiner Weise absehen können, wenn wir „Ich“ sagen. Für Descartes ist „Ich“ ein weltloser Punkt reiner Reflexion. Er bzw. es ist nichts anderes als der Gedanke, dass ich hinter mich als Denkenden nicht zurück kann. Die Gewissheit des „ich denke“ ist für ihn der archimedische Punkt, auf den er hofft, die ganze Welt beziehen und gründen zu können.

Merleau-Ponty bestreitet diese Möglichkeit vehement, weil es sich bei dem vermeintlich archimedischen Punkt um eine bloße Fiktion handelt. Denn bevor ich zu meinem „Ich“ komme, muss ich von meinen leiblichen Affektionen und Qualitäten absehen. Aber als ein solches „Ich“ bin ich nicht in der Welt, das „Ich“ ist ein Kunstprodukt, ein Artefakt des Denkens. Von Anfang an bin ich mit meinem Leib in der Welt und mit all den Erfahrungen, die mich in/über ihn mit der Welt verbinden. Es gibt kein sicheres Fundament, das Ich ist kein inneres, sondern ich bin von Anfang an ein in die Welt geworfenes Wesen, das, je älter es wird, sich seiner Endlichkeit, seiner Leiblichkeit und Kontingenz ausgesetzt sieht.

Das Subjekt (und indirekt darüber die Welt) erreicht man klassischerweise über den Blick nach innen: ‚Geh in dich selbst zurück, die Wahrheit wohnt im inneren Menschen.‘ Merleau-Ponty versucht eine Kritik dieses cartesianischen Ausgangsgedankens. Er macht geltend, dass das menschliche Subjekt immer schon in der Welt ist, noch bevor es sich als bewusstseinsmäßiges Wesen erkannt und konstituiert hat. Die Menschen sind von Anfang an in der Welt und mit ihr verbunden – über ihre sinnlichen Erfahrungen, aber auch mit anderen sozialen Wesen, über die die sinnlichen und affektiven Erfahrungen angeeignet und vermittelt sind. Die Menschen sind nicht primär als bewusst Erkennende, sondern als Dasein, wie Heidegger gesagt hat, als geworfene Wesen in der Welt. Das Subjekt ist über seinen Leib sehr viel enger mit der Welt verbunden als je ein Ich, ein denkendes Ding, mit der Welt verbunden sein kann. Descartes kommt mit seiner Argumentation in Teufels Küche. Er erwirbt mit dem Rekurs auf das Ich eine ‚überirdische‘ Sicherheit, opfert dieser aber den Bezug, den Zugang zur Welt; er ist sich seiner selbst unendlich gewiss, keiner kann ihm das bestreiten. Aber vor der Frage: Was ist mit dem Verhältnis zur Welt? muss er passen. Er hat Sicherheit hinsichtlich seines Ichs gewonnen, aber eine ebenso große Ungewissheit angesichts seiner Erfahrung der Welt geerntet. Und was macht Descartes in seiner Verzweiflung? Er ruft Gott zuhilfe. Er erfindet Gott neu, den er eigentlich verabschiedet hat, und konzipiert ihn als einen gütigen Weltenlenker. Dieser verbürgt – im Gegensatz zu Descartes’ Arbeitshypothese eines deus malignus, der den Menschen in seinem Erkenntnisstreben täuschen kann – die Isomorphie, d. h. die strukturelle Gleichförmigkeit der Welt und des menschlichen Erkenntnisvermögens. Der gütige Gott stellt sicher, dass unser Wahrnehmungsapparat richtig kalibriert ist und unsere Sinnesdaten uns im Prinzip nicht täuschen. Unsere Erkenntnis und die Welt, auf die sich unsere Erkenntnis richtet, passen zueinander. Das Problem: In diesem Fall hängt die Gewissheit und Wahrheit der Welterkenntnis an der Existenz und der Güte des allmächtigen Gottes. Wenn ich beweisen kann, dass erstens Gott existiert, zweitens, dass er ein gütiger Gott ist, dann wird er drittens die Menschen nicht hinters Licht führen wollen.53

Der Leib als Medium menschlicher Existenz

Merleau-Pontys Überlegung ist nun, dass der Ausgangspunkt problematisch ist. Nicht beim Bewusstsein, sondern beim Leib muss man ansetzen. Weil wir von Anfang an schon als in unseren Leib inkarnierte Wesen in der Welt sind, stellt der Überstieg zu den anderen menschlichen Wesen (die Entstehung und Herstellung von Intersubjektivität) kein so gravierendes Problem dar, wie es der Phänomenologie vor ihm erscheinen konnte. In der Regel werden wir von den Eltern, von Geschwistern, von der Nachbarschaft oder von anderen Bezugspersonen und -kollektiven in die Welt gebracht. Dieses In-die-Welt-Bringen prägt sich primordial dem Leib ein, sodass der leiblich-affektive Selbstbezug von Anfang an in interpersonelle Strukturen eingebettet ist und durch sie mitbestimmt wird. Über unseren Leib und unsere Sinne sind wir in der Welt verankert. In sie wiederum sind die sozialen Fäden unsichtbar und außerordentlich fest eingesponnen. Alle Sinnlichkeit erscheint so mit Sinn imprägniert. Leib-Sein und In-der-Welt-Sein bedingen sich wechselseitig. Um dieses Verhältnis möglichst angemessen zu beschreiben, sind Wahrnehmungsprozesse und ihre ‚vorwissenschaftlichen‘ (phänomenologischen) Voraussetzungen besonders geeignet. Es sind Orte privilegierter Erfahrung, weil alle anderen Weltzugänge auf ihnen aufbauen. In diesem Zusammenhang bietet ein anderer Begriff aus der Phänomenologie Husserls Schützenhilfe.

Wir werden nicht in ein abstraktes Subjekt-Objekt-Verhältnis hineingeboren, sondern in die Welt der „natürlichen Dinge“, die in Gestalt der Familie oder der näheren Umgebung die Grundlagen unserer Erfahrung legen. Wir leben in einer natürlichen, (wie) selbstverständlich gegebenen Welt. Wir leben nicht in der Wissenschaft und ihren abstrakten Begriffen, die von außen oder objektiv mittels bestimmter Beobachtungsinstrumente die Wahrnehmungswelten zu erforschen suchen. In derlei Institutionen treten wir erst später ein. Den ursprünglichen Zusammenhang, in dem wir leben, nennt Merleau-Ponty in Übernahme eines Husserl’schen Begriffs: Lebenswelt. Sein Unternehmen besteht dann darin, herauszufinden, worauf die konkreten Bestimmungen für den Leib beruhen, wenn er sich in dieser lebensweltlichen Ordnung befindet und sich zu orientieren lernt.

Als Ausgangspunkt der Philosophie den Leib zu wählen, ist lehrreich, weil die cartesianischen Unterscheidungen von Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Ding, aktiv und passiv, bewusst und unbewusst, sichtbar und unsichtbar unterlaufen werden. Nicht die Außenperspektive lässt mich die Phänomene verstehen, sondern erst die phänomenologische Beschreibung, die zeigt, dass der Ausweg nicht im Rückzug auf die Innenperspektive liegt, sondern in einem zwischen Innen und Außen. Erst in ihrem Zwischen lassen sich die Funktionen und Verhältnisse des Leibes in ihrer Genese beschreiben und verstehen.

Am Leitfaden von Merleau-Pontys Interpretation des Phantomschmerzes bzw. des Phantomgliedes lässt sich das verdeutlichen. „Verständlich wird dieses Phänomen, das physiologische und psychologische Erklärungen gleichermaßen entstellen, aus der Perspektive des Zur-Welt-seins. Was in uns sich der Verstümmelung und dem Gebrechen verweigert, ist das in einer physischen und zwischenmenschlichen Welt engagierte Ich, das sich allen Mängeln oder der Amputation zum Trotz weiterhin auf die Welt hin spannt und insofern Amputation oder Mangel de jure nicht anerkennt. Die Nichtanerkennung des Mangels ist nur die Kehrseite unserer Weltzugehörigkeit. Den Phantomarm haben heißt, für alles Tun, dessen allein der Arm fähig ist, offen bleiben, heißt das vor der Verstümmelung besessene praktische Feld sich bewahren. Der Leib ist das Vehikel des Zur-Welt-seins, und einen Leib haben heißt für den Lebenden, sich einem bestimmten Milieu zugesellen, sich mit bestimmten Vorhaben identifizieren und darin beständig sich engagieren.“54

Der Leib ist nicht Objekt der Reflexion oder der Wissenschaft, vielmehr wird er von Merleau-Ponty als sich zur Welt verhaltend betrachtet. Darin ist er phänomenaler Leib, der nicht ausreichend über die körperlichen, d. h. physiologischen Reaktionen beschrieben wäre. Merleau-Ponty konstatiert unterschiedliche Weisen des Leib-Seins zur Welt und mit ihnen bestimmte, der Kommunikation mit dem Leib immanente Bedeutungen. Über sie begegnet er der Welt. „Indem ich meine Hand an mein Knie führe, erfahre ich in jedem Moment der Bewegung die Realisierung einer Intention, die nicht auf mein Knie als Idee oder auch nur als Gegenstand abzielt, sondern als gegenwärtigen und wirklichen Teil meines lebendigen Leibes, und d. h. letztlich als Durchgangspunkt meiner beständigen Bewegung auf die Welt zu.“55 Der Leib hat eine ihm eigene Weise des Verstehens. Später hat man vom „Spüren“ als einer eigenständigen, eigenleiblichen Wahrnehmungsweise gesprochen.56 Es handle sich um ein „unbezweifelbares Begreifen“, das man nicht mit dem Verstehen im Sinne einer kognitiven Operation, der logischen Subsumtion unter eine Idee, verwechseln dürfe. Auf diese Art und Weise, auf die sich mein Leib in einem lumen naturale (einem natürlichen Licht)57 selbst empfindet, spiegelt sich eine Synthese von Sinn und Sinnlichkeit, ein in der sinnlichen Erfahrung gestifteter Sinn. Der Leib in diesem Sinne steckt sich – in gleichsam Schopenhauer’scher Manier – in seiner leiblichen Selbstpräsenz ein Licht (Sinn) auf. Dieser phänomenale Leib geht als natürliches Ich dem personalen Ich voraus. Merleau-Ponty trägt weitere Unterscheidungen („Schichten“) auf dem phänomenalen Leib ab: den habituellen und den aktuellen Leib. Beide wiederum sind nichtkognitive Weisen des Wissens, der habituelle Leib verkörpert die vorgängigen und erworbenen Vermögen des Zur-Welt-Seins, er verkörpert meine Vorgeschichte, gleichsam eine Ablagerungsstätte geschichtlicher Erfahrung. Der aktuelle Leib spielt an den Grenzen der Erfahrung.

Im Verhalten zeigt sich, wie der Leib reagiert, was er ‚will‘, was ihn anzieht oder abstößt. Merleau-Ponty betrachtet auch die Sprache als eine der Verhaltensweisen, in denen der Leib „sich zum Ausdruck verhilft“. Der Leib hat verschiedene Möglichkeiten des Ausdrucks. Die Sprache ist eine außerordentlich prominente Weise des Zur-Welt-Seins. In dieser Perspektive erscheinen das sprechende Subjekt und seine Sprache als leibliche Gebärde, die ihren Sinn in sich trägt und nicht bloß ein äußerliches Zeichen ist. Andere Möglichkeiten des Ausdrucks sind die Mimik und die Motorik. Wir sind zwar nicht in allem perfekt, aber doch ziemlich gut, wenn wir unseren Körper als Instrument gebrauchen: z. B. unsere Hände und unsere Augen. Mittels dieser Instrumente sind wir in der Lage, uns auch auf diese Weise vom Leib zu distanzieren, wir können die Motorik, die Bewegungen des Körpers einsetzen, um bestimmten Erfahrungen des Leibes zum Ausdruck zu verhelfen. Merleau-Pontys Hauptsatz besagt entsprechend: Der Leib ist der sichtbare Ausdruck eines konkreten Egos.

Man kann verstehen, weshalb viele Philosophen, Kultur- und Sozialwissenschaftler in jüngster Zeit an Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes Anschluss gesucht haben: Jeder hat seinen Leib. Und dieser Leib ist durch die Sozialisation und durch die Lebensgeschichte, durch alle kulturellen Prozesse und Erziehungsbemühungen hindurchgegangen. All das hat auf dem Leib Spuren hinterlassen. Die Lebensgeschichte, die jeder hat, das Triebschicksal, das jedes Leben konstituiert, hat sich – um die beliebte Metapher aufzugreifen – in den Leib eingeschrieben. In welcher Weise, ist außerordentlich schwer zu entziffern. Wenn ein Kind in einer bestimmten Phase des Spracherwerbs zu stottern anfängt und man alle organischen Schädigungen ausschließen kann, dann scheint das ein Teil einer Lebensgeschichte zu sein, in der leibliche und seelische, bewusste und unbewusste, individuelle und soziale Erfahrungen in einer Zone des Zwischen zusammenlaufen. Der Leib, „mon corps propre“, gibt Aufschluss über ein durch Symbole, Evidenzen und Bedeutsamkeiten gerahmtes präpersonales Wissen, das Medizin und Wissenschaften nicht wahrhaben wollen. Als „Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen“ entwickelt der Körper einen Eigensinn, der vielleicht so lange vorhält, bis eine Therapie durchgeführt wird, worauf es durchaus sein kann, dass er seine Symptome wieder verliert. Als „präpersonale Subjekte“ sind wir ständig kulturellen Prägungsprozessen ausgesetzt. Noch bevor man eine Person ist, hat der Leib eine Geschichte gespeichert, in der man relativ feststeckt. Er ist das anonyme Existenzurteil über einen jeden.

Philosophie im Zeitalter der Extreme

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