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3. Die Bibel ist ein vollkommener Text

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Nach rabbinischer Ansicht ist die Schrift ein von Gott stammender und in seinen kleinsten Details von ihm so gewollter Text. Diese Hermeneutische Prämisse des vollkommenen Texteshermeneutische Prämisse des vollkommenen Textes macht es geradezu notwendig, Abweichungen in der Schreibweise, Doppelungen, grammatische Unstimmigkeiten zu erklären. Die Tora ist bereits vor der Schöpfung vorhanden, die Welt selbst hat nur durch sie Bestand (BerR 1.1). Der Text ist durch seine Sprache, das Hebräische, bestimmt. Der den Rabbinen vorliegende Text entspricht überwiegend der protomasoretischen Version (vgl. Tov, Textual Criticism). Dabei ist weit mehr als nur bloßer Konsonantentext überliefert. „Häkchen“ und „Kronen“, Linierung der Torarolle, Zierstriche, Punkte auf bestimmten Wörtern (SifBem § 69 etc.), vor allem Abweichungen von Ketiv und Qere, also zwischen dem geschriebenen und (anders) gelesenen Wort, sind Gegenstand der Auslegung.

Häufig tritt das so genannte al-tiqre („lies nicht!“) Motiv auf. Hier wird aus exegetischen Gründen eine alternative Lesart dem vorhandenen Text hinzugefügt.

Hierzu nur ein Beispiel. In ShirR 1.5.3ShirR I.5.3 heißt es:

„Töchter Jerusalems“ (Hld 2,7Hld 2,7): Die Rabbanan sagen: Lies nicht „benot Jeruschalajim“, sondern „bonot Jeruschalajim“ (= „die Jerusalem erbauen“). Das ist die große Versammlung von Israel, die sitzt und sie (die Israeliten) unterrichtet über jede Frage und Rechtsmeinung.

Die textliche „Veränderung“ ist sehr gering und fördert doch eine grundlegend neue Bedeutung zutage.

An einer Reihe von rabbinischen Belegen wird deutlich gemacht, dass die Buchstaben der Tora als Bausteine der WeltBuchstaben der Tora als Bausteine der Welt – an bestimmten |45|Stellen mit den Gottesnamen identifiziert – fungieren und daher wirkmächtig sind. Schreiber müssen sorgfältig auf Genauigkeit achten und dürfen keinen Buchstaben hinzufügen oder weglassen (bEruvin 13a etc.). Verschreibungen sehr ähnlicher und daher verwechselbarer Buchstaben können fatale Folgen haben. Hierzu ein Beispiel aus WaR 19.2//ShirR 5.11.2:

Es steht geschrieben: „Höre Israel, JHWH, unser Gott, ist ein JHWH“. Wenn du das Dalet (von echad = einer) zu einem Resch machst (zu acher = ein anderer), zerstörst du die ganze Welt.

„Du sollst dich nicht niederwerfen vor einem anderen (acher) Gott“ (Ex 34,4). Wenn du das Resch zu einem Dalet machst (zu echad), zerstörst du die Welt.

Es steht geschrieben: „Du sollst meinen heiligen Namen nicht entweihen (jechallelu)“ (Lev 22,2). Wenn du das Chet zu einem He machst (zu jehallelu = preist), zerstörst du die Welt.

„Jedes Leben preist (tehallel) JH“ (Ps 150,6). Wenn du das He zu einem Chet machst (zu techallel = entweihst), zerstörst du die Welt.

Es steht geschrieben: „Sie verleugnen gegenüber (kichaschu ba-) JHWH“ (Jer 5,12). Wenn du das Bet zu einem Kaph machst (= kichaschu ka-JHWH = sie verleugnen wie JHWH), zerstörst du die Welt.

Es steht geschrieben: „Sie haben gegenüber JHWH die Treue gebrochen (ba-JHWH baggadu), sie haben Bastarde geboren“ (Hos 5,7). Wenn du das Bet zu einem Kaph machst (= ka-JHWH baggadu = wie JHWH haben sie die Treue gebrochen), zerstörst du die Welt.

Die Warnung vor der „Verwandlung“ des Dalet (ד) in ein Resch (ר) geht auf die Ähnlichkeit der beiden Buchstaben zurück. Im erstgenannten Fall würde aus dem echad (einer) ein acher (anderer). Weil man ja nur die Konsonanten schreibt, kann man aleph – chet – dalet leicht mit aleph – chet – resch verwechseln. Unsachgemäßer Umgang beim Schreiben oder gar absichtliche Falschschreibung hätten fatale Folgen. Das gleiche gilt auch für die Buchstaben Chet (ח) und He (ה), Kaph (כ) und Bet (ב). Aus einem Preisen würde ein Entweihen, aus einem bösartigen Handeln gegen Gott würde ein schlimmes Handeln Gottes. Änderungen in der Schrift, wie die von der paläohebräischen zur Quadratschrift, werden in rabbinischen Belegen durchaus als von Gott gewollte Entwicklungen dargestellt, die als Reaktion auf Israels Verhalten gelten (tSanhedrin 4.7).

Der scheinbar nach vielen Seiten für die Auslegung offene Text, dessen bloßer Konsonantenbestand ohne Verseinteilung viele Verbindungsmöglichkeiten bietet, wurde nach BerR 36.8 bereits seit Esra (Neh 8,8) festgelegt, und nach bNedarim 37b sind auch „jene Wörter, die man liest, aber nicht schreibt oder schreibt, aber nicht liest, bereits Halacha an Moses vom Sinai“. Bereits Arnold Goldberg hat in seinem Aufsatz Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger betont, dass die Schrift

|46|eine genau definierte Menge graphischer Zeichen (ist). Das Artefakt ‚Schrift‘ ist präzise festgelegt und kann keiner Veränderung unterliegen. Dieser bestimmten, endlichen Menge graphischer Zeichen entspricht eine noch offene Menge sprachlicher Zeichen. Die Menge der sprachlichen Zeichen nimmt in der Auslegung zu, weil immer mehr entdeckt wird, was alles sprachliches Zeichen ist. (Goldberg, Die Schrift, S. 14)

Doch nicht jegliche Bestimmung, die von den Rabbinen erlassen wurde, wird gleichzeitig als biblisch verankert betrachtet. Nicht selten wird zwischen einer rabbinischen Anordnung und der biblischen Halacha unterschieden (z.B. bKetubbot 28b in Bezug auf das Zeugnis eines Kindes).

Der biblische Text will jedenfalls in seinen Tiefendimensionen verstanden werden, seine sprachlichen Zeichen müssen identifiziert und gedeutet, seine Widersprüche geklärt, seine Doppelungen aufgelöst, seine vielen Textmarker von der kleinsten bis zur größten Einheit in Auslegung erläutert werden (vgl. dazu Stemberger, Grundzüge rabbinischer Hermeneutik). Der häufig zitierte Talmudabschnitt bSchabbat 88b spricht von den siebzig Zungen, in die sich jedes Wort aus dem Mund Gottes teilte. Dies stützt sich auf Bibelverse wie Ps 62,12 oder Jer 23,29. Der dort genannte Fels wird in viele Splitter zerhauen.

Die Mehrdeutigkeit der SchriftMehrdeutigkeit der Schrift ist Gegenstand einer über Jahrhunderte weiterentwickelten Hermeneutik, deren Grundlage nicht nur die Vollkommenheit der Schrift als göttliche Mitteilung, sondern vor allem ihre Dauerhafte Gültigkeitdauerhafte Gültigkeit ist.

Der religiöse Charakter der Schrift richtet sich gegen jegliche verächtliche Betrachtung des Textes und gegen die Behauptung, die Schrift habe keine tiefere Bedeutung. Ein Beispiel ist das Auflösen der Namenslisten in den Chronikbüchern an verschiedenen Stellen der rabbinischen Literatur.

Traditionell wird ein unterschiedlicher Zugang zur Schrift auch mit den Namen der Schulen R. Jischmaels und R. Aqivas verbunden. Diese werden uns noch in Bezug auf die halachischen Midraschim begegnen. R. Jischmael habe den Grundsatz vertreten, dass die Tora in der Sprache der Menschen rede (SifBem § 112). Dies bedeutet jedoch keine historisch-kritische Exegese im modernen Sinn. Denn auch für die Schule Jischmaels bleibt die Tora Wort Gottes vom Sinai. Moses schreibt nach Gottes Diktat. Aber Gott passt sich darin menschlicher Ausdrucksweise an. R. Aqivas Schule sieht die Schrift in ihrer aufzudeckenden Tiefendimension, in der jedes Detail Auslegung nach sich zieht. Hier nur ein Beispiel:

R. Jischmael fragte R. Aqiva: Da du Nachum aus Gamzu 22 Jahre lang als Schüler gedient hast (hast du gelernt, dass die hebräischen Partikel) ach und raq („nur“) dazu dienen, einzuschränken, während et (Akkusativpartikel) |47|und gam („auch“) dazu dienen, auszuweiten/einzuschließen. Was bedeutet dann et hier (in Gen 1,1: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“ = be-reschit bara elohim et ha-schamajim we-et ha-aretz)?

Er (Aqiva) sagte zu ihm: (?)

(Jischmael): Wenn die Bibel gesagt hätte: es schuf(en) im Anfang Elohim (pl.), (nämlich) Himmel und Erde, könnten wir sagen, dass auch Himmel und Erde Gottheiten sind.

Er (Aqiva) sagte: „Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre (ki lo davar req hu mikkem)“ (Dtn 32,47). Und wenn es leer ist, dann liegt es an euch (mikkem), weil ihr nicht wisst, wie ihr es auslegen (li-drosch) sollt;

et ha-schamajim (den Himmel)“ (steht) um einzuschließen (le-rabbot) Sonne, Mond, Sterne und Gestirne; „we-et ha-aretz (und die Erde)“ (steht) um einzuschließen (le-rabbot) Bäume, Gräser und den Garten Eden. (BerR 1.14)

Dieser öfter emendierte, nicht ganz eindeutige Text (mit Visotzky, Jots, S. 259–260, der sich wiederum an einen Vorschlag von Graetz hält, muss man wohl die erste Antwort als Rede Jischmaels verstehen) ist letztlich in seiner Aussage klar. Während Jischmael et als Akkusativpartikel für notwendig erachtet, um – nicht zuletzt angeregt durch die Pluralform elohim – nicht in den Irrtum zu verfallen, Himmel und Erde seien Subjekt und nicht Objekt der Aussage und daher auch Götter, nützt Aqiva dieselbe Partikel als hermeneutischen Anker. Wenn ein gam oder et steht, ist es ein Indiz dafür, dass die Bibel etwas einschließen will, was nicht direkt im Text steht. Aqiva wendet hier ein Verfahren an, das als Ribbui (Einschließung) bzw. Miut (Ausschließung) bekannt ist (vgl. IV.5).

Stemberger (Grundzüge rabbinischer Hermeneutik. In: JM I, S. 115–116) erwähnt neben Ribbui und Miut beispielhaft den Analogieschluss sowie Gematria und NotarikonNotarikon. Die Methode des Notarikon (ein Wort, das sich vom Schnellschreiber, dem Notarius, ableitet) versteht Buchstaben eines Wortes als Anfangsbuchstaben neuer Wörter oder zerlegt die Worte in ihre Silben, die wiederum als Worte verstanden werden.

So wird etwa in BerR 7.1 zu Gen 1,20 („Das Wasser wimmle von [lebenden] Wesen“ = jischretzu hammajim scheretz [nefesch]) durch Buchstabenumstellung „Er schuf eine Form im Wasser“ (tzar tzura bammajim) gelesen.

Die GematriaGematria versteht Buchstaben als Zahlen, da jeder hebräische Buchstabe einem Zahlenwert entspricht (aleph = 1; jod = 10; taw = 400). So wird bis heute gern – vor allem im Zusammenhang mit dem Fest Schawuot – darauf verwiesen, dass der Zahlenwert des Namens Rut (resch = 200; waw = 6; taw = 400) 606 beträgt. Da Rut als Moabiterin bereits sieben noachidische Gebote hielt, verweist nach traditioneller Lesart der Zahlenwert 613, der sich |48|aus ihrem Namen + 7 ergibt, dass sie die Vollzahl der 613 Gebote und Verbote gehalten hat, also Konvertitin war.

In BerR 43.2 wird Gen 14,14 ausgelegt: „Als Abram hörte, sein Bruder sei gefangen, musterte er seine ausgebildete Mannschaft, 318 Mann, die alle in seinem Haus geboren waren, und nahm die Verfolgung auf bis nach Dan“. Die 318 Männer sind demnach nur einer, nämlich Eliezer, da der Zahlenwert des Namens 318 beträgt (aleph = 1; lamed = 30; jod = 10; ajin = 70; zajin = 7; resch = 200).

Jegliche Redundanz, jegliches als unnötig empfundene Wort ist den Rabbinen Grund zur Auslegung. Sie gehen eben von einem klaren, schnörkellosen und logischen Text aus. Gibt es also Hinweise, dass er diesen Kriterien nicht entspricht, verweisen diese auf eine aufzudeckende Botschaft.

Hier ein Beispiel aus BerR 55.7BerR 55.7: In Gen 22,2 heißt es: „Gott sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak“. Diese Information hätte logischerweise auch viel kürzer sein können – z.B. „Nimm Isaak“. Die lange Formulierung bedarf daher einer Erklärung. Sie kann nicht ohne Absicht und Bedeutung sein:

Er sagte: „Nimm deinen Sohn“.

Er (Abraham) antwortete: Welchen Sohn?

Er sagte zu ihm: „deinen einzigen“.

Er antwortete: Dieser ist der einzige seiner Mutter und jener ist der einzige seiner Mutter.

Er sagte: „den du liebst“.

Er antwortete: Gibt es denn im Inneren Grenzen?

Er sagte zu ihm: „Isaak“.

Warum hat er es ihm nicht offenbart?

Um ihm Belohnung für jedes einzelne Wort zu geben.

Das ist die Ansicht von R. Jochai:

„Zieh weg aus deinem Land, [von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde]“ (Gen 12,1) – das ist deine Provinz (Eparchie);

„von deiner Verwandtschaft“ – das ist deine Nachbarschaft;

„und aus deinem Vaterhaus“ – das ist dein Vaterhaus;

„in das Land, das ich dir zeigen werde“.

Warum hat er es ihm nicht offenbart?

Um es wertvoll zu machen in seinen Augen und ihm für jeden einzelnen Schritt Belohnung zu geben.

Neben der Begründung, warum jeder einzelne Satzteil Sinn ergibt und Bedeutung hat, wird hier die naheliegende Verbindung zu einem verwandten Bibeltext hergestellt und daraus eine gemeinsame Folgerung gezogen.

Zum vollkommenen Text gehört, dass Scheinbar Überflüssiges gedeutetscheinbar Überflüssiges gedeutet, Doppelungen exegetisch erläutert oder unklare Namen erklärt werden. Dies kann, wie schon erwähnt, z.B. durch die Identifizierung |49|mit bekannten Namen oder durch eine gewissermaßen Allegorische Interpretationallegorische Interpretation gelöst werden. Dazu abschließend ein Beispiel aus SifBem § 78SifBem § 78 im Kontext einer Diskussion um Proselyten:

Und so findest du es bei den Gibeoniten.

Was ist es (, was die Bibel dazu) sagt? „Und Joqim und die Männer von Koseba“ (1 Chron 4,22)?

Und Joqim, weil Josua ihnen den Bund bestätigte (qijjem).

Koseba, weil sie Josua anlogen (kisbu) und sagten: „Aus einem sehr fernen Lande kamen deine Knechte“ (Jos 9,9). Sie kamen aber nur aus dem Land Israel.

[…]

Und so findest du es bei Rut, der Moabiterin.

Was sagte sie zu ihrer Schwiegermutter?

„Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott, wo du stirbst, will ich sterben“ (Rut 1,16–17). Gott sagte zu ihr: Du hast keinerlei Schaden (davon). Siehe, die Königsherrschaft ist dein in dieser Welt. Siehe, die Königsherrschaft ist dein in der Welt, die kommt.

„Und Joasch und Saraf, die in Moab herrschten“ (1 Chron 4,22): Joasch und Saraf, das sind Machlon und Kiljon (Rut 1,2).

Joasch, weil sie die Hoffnung auf Erlösung aufgaben (nitjaʿaschu). Joasch, weil sie die Hoffnung auf die Worte der Tora aufgaben.

Saraf, weil sie ihre Kinder für den Götzendienst verbrannten (sarfu).

„Die in Moab herrschten“ (baʿalu), weil sie moabitische Frauen heirateten. (baʿal = Ehemann)

„Die in Moab herrschten“ (baʿalu), weil sie das Land Israel verließen und sich dem Gebiet Moabs zuwandten. [Sie kehrten aber nach Bethlehem zurück].

„Wie eine alte Rede (lautet)“: Jedes einzelne ist an seiner Stelle erläutert.

„Und Bewohner von Netaïm“ (1 Chr 4,23): Das ist Salomo, der einer Pflanzung (netia) in seinem Königreich glich.

„Und Gedera“: das ist der Sanhedrin, der dasaß und die Worte der Tora einzäunte (goderet).

Dort bei dem König, in seinem Dienst, saßen sie.

Woher (ist zu belegen) dass du sagst, dass Rut, die Moabiterin nicht starb, bevor sie ihren Nachkommen Salomo gesehen hatte, (wie) er dasaß und die Rechtssache der beiden Dirnen richtete?

Weil es heißt: „Bei dem König, in seinem Dienst, dort saßen sie“.

Und siehe, die Dinge (ergeben) einen Schluss vom Leichteren auf das Schwerere: Wenn Gott diese, die aus einem Volk war, (von) dem es heißt: „Ihr sollt nicht mit ihnen verkehren, und sie sollen nicht mit euch verkehren“ (1 Kön 11,2), weil sie sich (ihm) selbst genähert hat, sich nahe gebracht hat, um wieviel mehr Israel, das die Tora befolgt.

Wenn du aber sagst, in Israel war es nicht so, siehe, so heißt es bereits:

„Da befahl der König Ägyptens den Hebammen der Hebräerinnen[, von denen die eine Schifra, die andere Pua hieß]“ (Ex 1,15). Schifra, das ist Jochebed. Pua, das ist Mirjam.

Schifra, weil sie fruchtbar war (sche-para) und sich vermehrte.

Schifra, weil sie die Neugeborenen reinigte (meschaperet).

|50|Schifra, weil Israel in ihren Tagen fruchtbar war und sich mehrte.

Pua, weil sie ihres Bruders wegen schrie (poa) und weinte. Denn es heißt: „Seine Schwester aber stellte sich von ferne hin, um zu erfahren, was mit ihm geschehen würde“ (Ex 2,4). (Übersetzung nach Börner-Klein, Sifre zu Numeri, S. 127–129)

Midrasch ist die Auseinandersetzung mit dem vollkommenen Text, der keine Widersprüche enthält, der logisch, kurz und bündig Informationen vermittelt, dessen Unklarheiten erklärt, dessen weiße Flecken erforscht werden müssen. Die beste Quelle, um Fragen zu beantworten, ist der Text selbst, der in seinen verschiedenen Teilen das Material bereithält, um die Lücken zu füllen. Die Antworten können dabei durchaus differieren. So legt z.B. auch BerR 8.7BerR 8.7 1 Chr 4,23 allegorisch aus und versteht die Namen als Hinweise auf Wortwurzeln (Netaim von nata = pflanzen bzw. neta = Pflanzung; Gedera von gadar – einzäunen). Demnach lässt sich der Text hier, anders als im vorher genannten Beispiel, auf die Seelen der Gerechten anwenden, die an der Schöpfung mitwirken:

[„Lasst uns einen Menschen machen“:] Jehoschua aus Sichnin: (das bedeutet:) Gott beriet sich mit den Seelen der Gerechten, wie es heißt: „Sie sind die Töpfer/Former (jotzrim) und Bewohner von Netaïm (joschve netaim) und Gedera (gedera) und wohnen/sitzen dort im Dienst des Königs“ (1 Chr 4,23). „Sie sind die Töpfer/Former“, denn: „Und es formte (wa-jitzer) JHWH Gott den Menschen aus Erde vom Ackerboden [und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen]“ (Gen 2,7). „Und Bewohner der Pflanzungen“ (joschve netaim), denn: „und es pflanzte JHWH Gott, im Garten Eden, [einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte]“ (Gen 2,8). „Und des Zauns“ (gedera), denn: „Ich bin es, der dem Meer die Düne als Grenze gesetzt hat“ etc. (Jer 5,22). „Und wohnen/sitzen dort im Dienst des Königs“ – mit dem Höchsten aller Könige, gepriesen sei er, saßen die Seelen der Gerechten; mit ihnen beriet er sich und schuf die Welt.

Midraschische Auslegung ist bei aller Offenheit nicht willkürlich. Gleichwohl ist die Freiheit der Exegese und die Offenheit der Interpretation schon in rabbinischer Zeit ein Diskussionspunkt. So sagt R. Jischmael etwa kritisch über R. Eliezers Auslegungspraxis: „Siehe, du sagst zur Schrift: Sei still, bis ich auslege!“ (Sifra, Tazriʿa 5.13.2, Weiss 68b)

In kritischer Weise setzt sich auch das zwischen dem 8. und 10. Jh. entstandene Alphabet des Ben Sira mit rabbinischer Auslegung auseinander. Das wörtliche Schriftverständnis wird darin bevorzugt, aber dieses kann nicht alle menschlichen Fragen lösen, weshalb es einen Rückgriff auf eine Tugendlehre braucht, die sich nicht zuletzt auf beispielhafte Geschichten und Fabeln stützt.

Midrasch

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