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Kapitel 1

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Es war warm in Genua an dem Tag, als Giulio Tedone seine Ausbildung abgeschlossen hatte. Der Wind kam vom Meer und strich luftig durch die geöffneten Fenster des kleinen Hauses an der Via Marcello. Jetzt durfte er sich »Avvocato« nennen. Er würde endlich sein eigenes Geld verdienen und der Mutter nicht mehr auf der Tasche liegen. Vielleicht entkam er ja einmal der kleinen Wohnung am Rande der Stadt. Er hatte Pläne. Er wollte weg aus Genua, dieser langweiligen Stadt, wie er meinte. Fort in die mächtigen Zentren der Politik, wo die richtig großen Prozesse geführt wurden, nach Mailand oder Rom. Da wollte er in eine Kanzlei einsteigen und Partner werden. Sein großer Traum. Eigentlich hatte er ja nicht seiner Mutter sondern seinem Onkel Antonio Tedone seinen Unterhalt zu verdanken, da sein Vater bei einem Verkehrsunfall zu Tode gekommen war, als er gerade 12 Jahre alt war. Er konnte sich noch daran erinnern, wie ein älterer Commissario und sein junger Begleiter seiner Mutter die Nachricht überbracht hatten. Sie hatte es zunächst gefasst aufgenommen, als ob sie schon länger geahnt hätte, dass so etwas passieren sollte. Später dann, als die beiden gegangen waren, hatte sie sich an den Küchentisch gesetzt, ein Geschirrtuch aus ihrer Schürze genommen und bitterlich geweint. Er hatte sich zu ihr gesetzt und versucht, sie in seine Arme zu nehmen, aber er hatte nicht helfen können.

Giulio konnte sich an seinen Vater noch gut erinnern. Es waren einzelne Begebenheiten, die er sogar noch genau wusste und an die er manchmal sehnsüchtig zurückdachte. Ja er wünschte sie sich herbei. Wie gerne wäre er noch einmal mit Papa zum Angeln herausgefahren. Das Boot schaukelte manchmal recht heftig und Papa hatte ihn mit einem langen Tau an der Reling festgemacht. »Schwimmwesten halten einen über Wasser, aber sie verhindern nicht, dass man hineinfällt!«, hatte er immer gewarnt und zog ihn dann ganz nahe an sich heran. Er erinnerte sich noch an den Geruch der Seemannsjacke, seine »Spezialjacke für Seeleute«, die Papa immer beim Angeln trug. An seinem zehnten Geburtstag hatte er endlich auch eine bekommen. »Auf hoher See«, wie er stets wiederholte, warfen sie ihre beiden Angeln aus und saßen ruhig nebeneinander, tauschten dann und wann ein paar Sätze aus, und wurden erst aktiv, wenn ein Fisch angebissen hatte. Das dauerte meist gar nicht sehr lange bei seinem Gespür bei der Auswahl der Köder. Wenn Papa mit der Größe des Fangs nicht einverstanden war, warf er diesen gleich zurück ins Meer. »Der ist zu klein. Der muss noch wachsen. Im nächsten Jahr knöpfen wir uns den noch einmal vor. Dann wird einer von ihm satt. Schnappen wir ihn erst in zwei Jahren … auch nicht schlimm. Dann werden wir alle drei satt.« Voller Stolz zeigten sie Mama abends ihre Beute. Wie der Fang auch ausgegangen war, er wurde gelobt. »Ihr könntet damit unseren Lebensunterhalt verdienen, wenn ihr wolltet. Dann sollten wir uns einen richtigen, hochseetauglichen Kutter kaufen und könnten dann sogar damit in die Karibik in Urlaub fahren.« Das war ihr Traum. Einmal in die Karibik zu reisen, ohne auf die Lire sehen müssen. Arm waren sie nicht gewesen. Papa hatte immer gut verdient, wie er manchmal mitbekommen hatte. Aber bis in die Karibik hatten sie es nie geschafft. Als Mama damals die neue Küche hatte haben wollen, hatte sie eine bekommen mit allen Schikanen, die so eine moderne Küche haben konnte. Zur Einweihung hatte sie sogar eine Party gegeben und allen Gästen voller Stolz vorgeführt, was die Küche zu bieten hatte. Ein neues Auto wurde auch regelmäßig angeschafft, da Papa ja viel damit unterwegs war. Er fuhr Audi Avant, Mama Cinquecento. Wenn er zu Kunden fuhr, trug er immer einen Anzug mit Nadelstreifen, schwarz oder blau, im Sommer beige mit dunkelbraunen Streifen. Manchmal fuhr er bis Florenz und kam erst am Abend zurück. Dann durfte er, als er noch nicht zur Schule ging, immer so lange aufbleiben, bis er zurückkam. Dann brachte Papa ihn ins Bett und erzählte noch eine Gute-Nacht-Geschichte. Meistens war es eine aus dem Orient. Fliegende Teppiche und fliegende Pferde, schöne Prinzessinnen und kluge Jungen, die ihr aus der Not halfen.

Später sahen sie sich zusammen die Liga- und Länderspiele an. Sein Favorit war und ist der AC Milano. Papa hielt zu Genua, weil sein Vater dort in der ersten Mannschaft mitgespielt hatte. Er soll, wie Papa stets gerne vortrug, gegen Lazio Rom einmal in einem Pokalspiel das siegreiche 1:0 geschossen haben. Nach Papas Tod wurden nur mehr recht selten Fußballspiele angeschaut. Mama hatte nur Interesse an Länderspielen, besonders bei einer WM oder EM. Alleine Spiele anzuschauen, machte ihm keinen Spaß. Manchmal schaute er mit Onkel Toni.

Das Top-Event, wie man heute auf Neu-Italienisch auszudrücken pflegte, war ein Besuch bei einem Formula-Uno-Rennen in Monza gewesen. Ferrari feierte mit beiden Fahrern auf dem Treppchen. Und sie beide hatten dabei sein können. Dritter war McLaren. Vater hatte sich gefreut, wie ein Kind an Weihnachten. Damals war es das einzige Mal, dass er seinen Vater hatte vor Freude in die Luft springen sehen. Die Krönung des Ereignisses: sie waren von dem Leiter der Scuderia Ferrari eingeladen worden, den Rennstall zu besuchen. Papa hatte offensichtlich gute Kontakte. Er war stolz auf seinen Papa gewesen. Der Mann – Papa nannte ihn Dottore Faraone – hatte ihm zum Abschied einen roten Ferrari Rennwagen von Burago geschenkt. Er war so glücklich gewesen.

Das war alles lange vorbei. Manchmal versuchte er sich vorzustellen, wie sein Vater wohl aussehen würde, wenn er noch lebte. Er wäre inzwischen achtundfünfzig Jahre alt geworden, rechnete er aus. Er war zwei Jahre jünger als Onkel Toni. Ob er wohl auch einen Wohlstandsbauch bekommen hätte wie sein Bruder? Er hielt es für wahrscheinlich. Mama war immer noch so schlank wie auf dem Hochzeitsfoto. Fast. Das Hochzeitskleid hing jedenfalls noch im Schrank. Man könnte es ja einmal ausprobieren.

Wenn er so träumte, hörte er die Stimme seines Vaters, als spräche er gerade jetzt zu ihm. Manchmal erschrak er dann und ärgerte sich gleich darüber, weil der Traum dann abrupt zu Ende gegangen war. Er hatte sich immer gut mit Papa verstanden. Mama wohl auch.

»Hallo Maria!«, rief jemand von der Straße aus. »Bist du zuhause?« Giulio hatte die Stimme seines Onkels erkannt und winkte ihm vom Balkon zu. Onkel Toni stand in seinem beigen, sportlich-eleganten Anzug unten auf der Straße. Mit der dunklen Sonnenbrille und seinem weißen Bigalli-Hut auf dem Kopf sah er mit seinen sechzig Jahren noch recht smart aus, obwohl er seine Figur »über die Zeit etwas ausgebaut« hatte, wie er zu zugeben musste. Er nahm die Brille ab und winkte Giulio freudig zu.

»Hallo Onkel Toni!«, rief er begeistert und sprang die Stufen hinunter. Beinahe hätte er in seiner Begeisterung seinen Onkel umgerannt. Der stand schon im Treppenhaus. Onkel Antonio hatte Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Ich habe alles gewusst, sie haben mich mit ihren Fragen gelöchert, aber ich konnte alles ordentlich beantworten. Insgesamt habe ich als einer der besten abgeschnitten«, antwortete er ohne auf die Frage des Onkels zu warten. »Das hat mir der Vorsitzende der Kommission selbst zugeflüstert, als er mir das Zeugnis überreicht hat.«

»Gratuliere, mein Junge. Ich wusste, dass Du so tüchtig bist wie dein Vater. Es hätte ihn glücklich gemacht. Schade, dass er das nicht mehr miterleben durfte. Du bist ein guter Sohn geworden!« Der Onkel umarmte seinen Neffen mit Stolz im Gesicht. »Ist deine Mutter zuhause? Ich möchte auch ihr gratulieren.«

»Sie ist oben.«

»Hallo Antonio, was sagst du zu dem Jungen?«, strahlte die Mutter ihren Schwager an.

»Ich gratuliere euch beiden von ganzem Herzen.«

Er legte den Hut offen auf den Tisch und warf die Sonnenbrille hinein, ohne sie vorher zusammenzuklappen. Seiner Ledertasche, die er wie gewöhnlich bei sich trug, entnahm er eine in Styropor kühl gehaltene Flasche Prosecco, stellte sie auf den Tisch und lockerte die Agraffe. Ehe er die Flasche ganz geöffnet hatte, standen auch schon drei Kelche auf dem Tisch, die bis oben gefüllt wurden. Er strich seinem Neffen, der nun schon erwachsen war, über die Haare und ruckelte freundlich sein Kinn hin und her.

»Wie schnell doch die Zeit vergangen ist. Wann habe ich dich zur Taufe getragen? Gestern? Geschrien hat der Junge damals wie am Spieß«, wandte er sich an seine Schwägerin und drückte sie an seine Brust. »Jetzt ist er mir über den Kopf gewachsen. So schnell vergeht die Zeit!«

»Ich glaube, wir werden älter. Das sieht man am ehesten an den Kindern.« Sie streichelte ihrem Schwager zärtlich die Wange und den Haaransatz, der inzwischen mehr von seiner Stirn freigab. Haare hatte er allerdings noch genug. Von Glatze war keine Spur zu ahnen. Allerdings waren sie grau.

Nachdem er sich über einzelne Fächer hatte informieren lassen und das Zeugnis sowie die Urkunde ausgiebig bewundert hatte, kam er zur Sache:

»Salute!« Onkel Toni schenkte jedem noch einmal nach. »Auf die Zukunft … auf eine erfolgreiche Zukunft! Ich wünsche dir alles Glück der Erde, mein Junge. Halte dich tapfer und triff die richtigen Entscheidungen. Dann wirst du ein erfolgreicher Mann.«

Sie saßen alle drei um den Tisch herum, der immer noch der gleiche war, an dem die Mutter damals so fürchterlich um den Vater getrauert hatte. Giulio hoffte, dass sie den Tod ihres Mannes verkraftet hätte. Es hatte jedenfalls den Anschein, auch wenn eine kleine Träne in ihren Augenwinkeln zu glitzern schien.

»Und? Hast du dir schon einmal Gedanken darüber gemacht, mein Junge, was du nun tun möchtest?«, fragte Onkel Antonio.

»Leider kann mich die Kanzlei Dibiati, in der ich meine Praktika absolviert habe, nicht einstellen. Kein Bedarf. Schade, ich wäre gerne bei ihnen geblieben. Sie waren alle sehr nett.«

»Ich denke, wir werden schon eine gescheite Anstellung für dich finden«, versprach der Onkel. »Möchtest Du unbedingt in einer Kanzlei arbeiten und Prozesse führen und dich mit anderen Leuten streiten …? Oder … vielleicht in der Industrie Verträge ausarbeiten? … Du hast nun viele Möglichkeiten. Mit diesem Abschluss steht dir die Welt offen.«

Sie plauderten von alten Zeiten, von Onkel Tonis Frau, Giulios Tante Angela, die leider keine Kinder bekommen konnte und schon mit 36 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben war. Dann vom Dorf, wie sie den Stadtteil Albaro nannten, und dem neuesten Tratsch, den seine Mutter vom Friseur mitgebracht hatte. Man redete über Politik, den Euro und die EZB und machte sich Gedanken über die Zukunft des Jungen und schmiedete Pläne. Es waren mehr als zwei Stunden vergangen, als Onkel Antonio sich auf den Weg machen musste. Er klemmte sich die Tasche unter den Arm, nahm seinen Hut in die eine, die Sonnenbrille in die andere Hand und ging auf Maria zu, um sich zu verabschieden. Er küsste sie auf beide Wangen.

»Wenn du einen Rat brauchst oder Hilfe, … du weißt …« Giulio strich er übers Haar, klopfte ihm auf die Schulter und spornte ihn an: »Nur weiter so, Junge. Dann wird aus dir einmal ein wohlhabender Mann.»

Maria blickte ihren Schwager skeptisch an.

Brillant ist nur der Tod

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