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Helmut Heid

Warum zwischen Lehren und Lernen unterschieden werden muss

Beitrag zur Differenzierung dessen, was Bildungspraxis genannt zu werden pflegt

Wenn Personen, die als pädagogisch sachverständig angesehen werden, sagen, dass «Eltern ihren Kindern etwas lernen müssen» oder dass die «Lust am Selberlernen» geweckt werden müsse, so als ob es ein anderes Lernen geben könne24, oder wenn für Bildung hochrangig Zuständige die «Beteiligung Lernender am Lernen» als Errungenschaft modernen Bildungsdenkens preisen, dann ist das nicht nur eine womöglich regional auftretende Sprachverwirrung; dann besteht Klärungsbedarf.

Ich hole etwas aus:

(1)Im Alltags-wie im Fachsprachgebrauch ist von bildungspraktischem Handeln die Rede, wenn mindestens zwei Personen(-gruppen) bildungs-zielorientiert interagieren: beispielsweise Lehrende einerseits und Lernende andererseits. Lehrende und Lernende sowie Lehren und Lernen lassen sich, anders, als das bei Bildung oder Erziehung25 der Fall ist, sprachlich klar unterscheiden. Jedoch die Tatsache, dass Lehren und Lernen nie außerhalb konkreter Personen «existieren», die lehrend versus lernend aktiv sind, macht die Sache komplizierter. Es ist nämlich davon auszugehen, dass Lehrpersonen, während sie lehren, auch lernen, und dass Schülerinnen und Schüler, während sie lernen, auch lehren (z. B. in Kontexten kooperativen Lernens). Wenn im Folgenden von Lehrenden und Lernenden die Rede ist, dann wird damit nicht ausgeschlossen, dass Lehrende auch lernen und Lernende auch lehren (können); wohl aber: dass es nicht auf das Lernen Lehrender ankommt, wenn von Lehrenden gesprochen wird, und dass das Lehren Lernender irrelevant ist, wenn von Lernenden die Rede ist.26

(2)In der Rede von Bildungspraxis ist es schon sprachlich und vor allem sachlich komplizierter. Hier könnte man zwischen denen unterscheiden, die für die Organisation der Bedingungen zuständig sind, die Bildung ermöglichen und beeinflussen, und denen, deren Bildung dadurch beeinflusst werden soll. Aber für diese Unterscheidung fehlen die Begriffe. Dafür gibt es einen Grund. Nur der Adressat bildungspraktischen Handelns ist Subjekt der Bildung,27 und außerhalb der Persönlichkeitsentwicklung dieses Adressaten existiert Bildung nicht. Was Lehrende zur Bildung der Adressaten ihrer Praxis beitragen, ist nicht Bildung, sondern günstigenfalls die Ermöglichung und Unterstützung von Bildung. Lehrende werden Bildungspraktiker genannt, weil vor allem sie für die Organisation der Bedingungen Erfolg versprechenden Lernens zuständig sind. Das klingt nach begrifflicher Spitzfindigkeit, ist aber für die Beantwortung der Frage wichtig, wie in einer bildungspraktischen Interaktion die Zuständigkeiten verteilt sind. Die Tatsache, dass Lehren und Lernen sprachlich klar unterschieden werden, besagt nicht, dass sie im bildungstheoretischen Denken und im bildungspraktischen Handeln ebenso klar modelliert werden. Kennzeichnend dafür ist das als besonders fortschrittlich angesehene Postulat eines für Bildung zuständigen Amts- und Würdenträgers: «shift from teaching to learning», das auch unter Bildungswissenschaftlern irritierende Zustimmung erfährt; so, als ob Lehren ohne Lernen (schon sprachlich) Sinn ergäbe – und so, als ob es ein Lernen ohne Lerngelegenheit geben könne, für deren kompetente Gestaltung sich eine wohl begründete und traditionsreiche Zuständigkeit etabliert hat.28

(3)In dieser angeblich neuen «Sicht» bildungspraktischen Handelns spielen Wertungen eine Rolle: Lernende sollen nicht (länger) als Objekte bildungspraktischer «Bearbeitung» bzw. der Belehrung gesehen, sondern als Subjekte des Lernens begriffen und respektiert werden (aktuell z. B. Bohnsack, 2015). Richtig ist, dass Bildung, gleich welchen Verständnisses, durch bewusst darauf zielende Tätigkeiten eines Bildungspraktikers bzw. eines Lehrenden nicht hergestellt, sondern allenfalls ermöglicht werden kann. So richtig und trivial es also ist, dass keine noch so geniale Lehrperson das Selberlernen Lernender erzwingen oder erübrigen kann; dass Lernende also immer nur selbst lernen, was sie lernen, so wichtig ist andererseits, dass es kein Lernen ohne Lerngelegenheit gibt und dass im organisierten Bildungswesen Lehrende für die zielgerichtete Gestaltung externaler Bedingungen Erfolg versprechenden Lernens Lernender (professionell) kompetent – im Sinn von fähig, zuständig und verantwortlich – sind.

(4)Lehren und Lernen hängen also funktional zusammen, obwohl und weil sie sich in Wesen und Funktion unterscheiden. Einerseits gilt: Lehren bezweckt die Ermöglichung und Optimierung erfolgreichen Lernens. Im Bildungssystem lernen Lernende in der lernenden Auseinandersetzung mit bereitgestellten und (didaktisch) aufbereiteten externalen Lerngelegenheiten. Andererseits gilt aber auch: Der von Aktivität Lernender abhängige Lernerfolg Lernender kann aus der Perspektive Lehrender auch als eine von Lehren abhängige Variable und insofern eben auch als Lehrerfolg gedacht und modelliert werden, soweit sich diese Abhängigkeit (kausalanalytisch) nachweisen lässt.29 Wird dadurch der Lernende (zumindest aus der Perspektive Lehrender) nicht doch zum («bloßen») Objekt bildungspraktischer Einwirkung (vgl. z. B. Vogel, 1990; Heid, 1994) und der Lehrende zum «Verursacher» des Lernerfolgs Lernender? Es mag Bildungspraktiker geben,30 die die Adressaten ihrer Arbeit als (passive) Einwirkungsobjekte betrachten und zu «behandeln» meinen. Und das dürfte für die Betroffenen auch keineswegs belanglos sein. Dennoch ist diese Praxis nicht geeignet, die Tatsache außer Kraft zu setzen, dass das, was auch immer als Bildung oder als Lernerfolg bezeichnet wird, niemals von Aktivitäten des Bildungssubjekts bzw. des Lernenden unabhängig ist. Das gilt auch für implizites Lernen (dazu Diederich, 1994). Und es gilt für alle Versuche einer psychischen Überwältigung, beispielsweise um Lernende zu veranlassen, etwas zu denken, zu tun oder zu wollen, was sie selbst gerade nicht wollen. Auch das kann nur über die (oft schmerzhafte) Einwilligung des Gezwungenen in das Erzwungene «gelingen». Dass die Domestizierung des Willens Lernender nicht ohne deren Einwilligung gelingen kann, zeigen ausgeklügelte Vorschläge und Versuche, die die Verwandlung fremdbestimmten Sollens in selbstbestimmtes Wollen bezwecken. So schreibt, um ein erstes von zwei besonders prominenten Beispielen herauszugreifen, Rousseau (1762/1965, S. 265f.): «Lasst ihn [den Zögling] immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. […] Zweifellos darf es [das Kind] tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut.» In einem ausgefeilteren Vorschlag bezieht Spranger (1959) sich auf die Eigenliebe der Person (des Einwirkungsadressaten) und empfiehlt die «Verwandlung individuellen Geltungsstrebens in die Bereitschaft zur […] Pflichterfüllung». Dabei geht es um Pflichten, von deren Inhaltsbestimmung der Einwirkungsadressat nicht nur ausgeschlossen ist, sondern deren Fremdbestimmung überdies gegen den aktuellen Willen des Interventionsadressaten durchgesetzt werden soll; sonst bedürfte es nicht jener permanenten Erfüllungskontrolle, die Spranger folgendermaßen konkretisiert: «Es wird jeweils ein bestimmter Auftrag erteilt, und der Zögling wird zur Verantwortung gezogen, wenn er ihn nicht erfüllt. So entsteht ein Katalog von kleinen Pflichten auf der einen, ständiger Erfüllungskontrolle auf der anderen Seite» (Spranger, 1959, S. 191). «Von da ist noch der entscheidende Schritt zu tun bis zur freiwilligen [?] Übernahme von Aufgaben, die kein Vorgesetzter gestellt hat und deren Erfüllung niemand überwacht. Damit» – sagt Spranger allen Ernstes – «wäre dann das Ethos der Freiheit erreicht …». Wohl gemerkt: Spranger sagt nicht, dass nach dem Erfolg dieser penetranten Erfüllungskontrolle der Zwang vollendet sei. Nein: Er sagt: Jetzt ist das Ethos der Freiheit vollendet. Derjenige «Drang zur Freiheit», der sich dieser als Erziehung moralisierten Disziplinierung widersetzt, dieser Drang – so Spranger – müsse dadurch gewendet werden, «dass man dem Aufsässigen [!] Leistungen überträgt, die ihm das Gefühl [!] geben, dass man ihn braucht» (ebd., S. 190f., Hervorhebung H.H.).

(5)Worin besteht der Erfolg bildungspraktischen bzw. lehrenden Handelns? Von Erfolg kann nur mit Bezug auf ein Erfolgskriterium gesprochen werden. Wesentliche Bezugsgröße für die Bestimmung dieses Kriteriums ist der Handlungszweck. Handlungseffekte sind nur in dem Maß Handlungserfolge, in dem sie (nachweislich) zur Erfüllung des mit der Handlung Bezweckten beitragen. Nun gibt es aber nicht «den» Zweck oder «das» Ziel, nicht «den» Erfolg bildungspraktischen Handelns und auch nicht «das» Subjekt der Bestimmung «des» Erfolgskriteriums. Lehrpersonen haben professionelle Zuständigkeit dafür – und in diesem Sinn das Lehrziel, dass die Adressaten ihrer Arbeit, also Lernende, Gelegenheit erhalten, erfolgreich zu lernen,31 d. h. ihr Lernziel zu erreichen. Wenn Lehrende – könnte man einwenden – erfolgreiches Lernen ermöglichen und unterstützen wollen, müssen sie sich doch auf die Lernziele der Adressaten ihrer Lehrtätigkeit beziehen. Denn sie können den Erfolg ihres eigenen Handelns nur an der (zu ermöglichenden) Lernziel-Verwirklichung Lernender messen, sofern sie kausalanalytisch auf Lehraktivitäten zurückgeführt werden kann. Ist deshalb nicht doch der Lehrende das Subjekt der Bestimmung (auch) des Lernziels, von dessen Erreichung letztlich abhängt, ob Lehrende erfolgreich gelehrt haben? Hinzu kommt, dass in Lehrplänen Verhaltensweisen32 Lernender beschrieben werden (sogenanntes «Endverhalten» oder Kompetenzen), deren «Herbeiführung» Zweck des durch diese Pläne geregelten Handelns (Unterrichtens) ist. Auch hier geht es um Lernziele. Wie passt das mit der These zusammen, dass Lehrziele und Lehren einerseits und Lernziele und Lernen andererseits strikt voneinander unterschieden werden müssen? Dazu ist Folgendes zu sagen:

(5.1)Lehrende und Lernende haben bei der Realisierung der in Lehrplänen beschriebenen Fähigkeiten oder Kompetenzen Lernender unterschiedliche Kompetenzen. Vereinfachte Beispiele: Der Lehrplan für das Unterrichtsfach Mathematik schreibt vor, dass die Adressaten dieses Unterrichts grundlegende Begriffe, Konzepte, Inhalte, Verfahren der Mathematik lernen sollen. Das müssen Lehrende nicht lernen; Mathematik können sie schon. Sie mögen während des Unterrichtens ihre Mathematikkompetenz weiterentwickeln, aber das ist nicht das, was in Lehrplänen postuliert wird. Außerdem können Lehrende einiges über die (präzisierungs- und differenzierungsbedürftige) Qualität ihres Unterrichts lernen, beispielsweise, wie sich die Entwicklung der mathematischen Problemgenerierungs- und Problemlösungskompetenz der Adressaten des Mathematikunterrichts (lehrabhängig) verbessern lässt. Aber auch dieser Lernerfolg Lehrender darf nicht mit den Inhalts- und Funktionsbestimmungen derjenigen (Lern-)Ziele verwechselt werden, die in Lehrplänen kodifiziert sind.

(5.2)In Lehrplänen kodifizierte Lernziele haben für Lehrende eine andere Funktion als für Lernende: Für Lehrende sind es Gegenstände und Orientierungsgrößen der Organisation ihres Lehrens und zugleich Kriterien, die sie benötigen, um beurteilen zu können, ob sie erfolgreich gelehrt haben. Für Lernende beschreiben diese Ziele zentrale Inhalte ihres Lernens. Ein mathematisches Problem begriffen zu haben, bedeutet für Lernende (vereinfacht): «Jetzt können wir Mathematik.» Für Lehrende heißt das: «Ich habe erfolgreich gelehrt.» Ein möglicher Lernmisserfolg dürfte nur in Ausnahmefällen aus der Tatsache resultieren, dass die jeweils zuständige Lehrperson keine Mathematik «konnte», aber sehr wohl daraus, dass die (internalen oder externalen) Bedingungen erfolgreichen Lernens im Mathematikunterricht nicht berücksichtigt bzw. erfüllt waren. Für die Konsolidierung dieser Bedingungen ist die Lehrperson auch dann zuständig, wenn sie im Lernenden selbst liegen; das wird deutlich, wenn Lehrpersonen sich nicht um die erfolgsrelevanten Wissens-, Könnens- oder Interessensvoraussetzungen der Adressaten ihres Lehrens kümmern. Zur Erfolg versprechenden Organisation von Lerngelegenheiten gehört nämlich die Abstimmung der Anforderungen (Lernaufgaben) mit den jeweils relevanten internalen Lernvoraussetzungen. Wenn diese Passung misslingt, verursacht der Lehrende den Lernmisserfolg. Andererseits garantiert eine gelingende Passung nicht den Lernerfolg; perfektes Lehren kann erfolgreiches Lernen nicht erübrigen. Es kann viele Gründe dafür geben, dass Lernende erfolglos bleiben; Lehrende kontrollieren nur einen Teil beeinflussbarer Bedingungen erfolgreichen Lernens. Insbesondere dürfte es oft sehr schwierig sein, in Misserfolgsfällen die Verursachungs-«Anteile» empirisch exakt und trennscharf auf Lehrende und Lernende «aufzuteilen». Aber – und nur das ist thematisch hier relevant – selbst dort, wo diese Verursachungsaufteilung nicht möglich oder sinnvoll ist, wird dadurch die Differenz zwischen der Verantwortlichkeit für das Lehren und der Verantwortlichkeit für das Lernen nicht aufgehoben.

Aufschlussreich sind wohl auch Antworten auf die Frage, ob und wie sich die Schlussfolgerungen unterscheiden, die Lehrende und Lernende aus einer Misserfolgsfeststellung ziehen, und auf welche Gegenstände sich ihre kritische Aufmerksamkeit richten muss. Lernende werden über ihr Lernverhalten und den Lerngegenstand (die Mathematik) nachdenken (müssen); Lehrende über ihr Lehrverhalten und mögliche Fehler bei der Organisation der Lerngelegenheiten (freilich domänenspezifisch). Bei Lernenden steht außer dem Lernverhalten der Lerngegenstand im Zentrum kritischer Nachdenklichkeit, bei Lehrenden die jeweils «praktizierte» Lehr-Lern-Theorie.

(5.3)Das gewichtigere Argument zur Begründung des Erfordernisses, Lehren und Lernen zu unterscheiden, rekurriert auf die Tatsache, dass sich in konkret-praktischen Lehr-Lern-Interaktionen zwei autonome Subjekte gegenüberstehen: die Lehrperson einerseits und der oder die Lernende andererseits. Lehrende und Lernende sind autonome Subjekte eigenen (wenn auch beeinflussbaren) Denkens, Urteilens, Wertens, Wollens, Entscheidens und Handelns und also auch der Zweckbestimmung und der Zweckverwirklichung ihres komplementär aufeinander bezogenen bildungspraktischen Handelns.

Besonders deutlich wird das dann, wenn Lehrende und Lernende über die Relevanz oder den Stellenwert bestimmter Ziele, Inhalte, Organisationsformen und Erfolgskriterien des Lehrens und Lernens (sehr) verschiedene Auffassungen haben (abgesehen davon, wer die wie etablierte und legitimierte Macht hat, seine Auffassung durchzusetzen) und dass in genau dieser Differenz auch Gründe für Lehr- oder Lernmisserfolg liegen können – beispielsweise wenn Lernende etwas ganz anderes für wichtig halten als die Lehrperson.

(5.4)Abermals kritisch gefragt: Hat der Lehrende den Zweck des von ihm zu verantwortenden Lehrens denn nicht verfehlt, also erfolglos unterrichtet, wenn der Adressat seiner Lehraktivität etwas anderes für richtig33 oder wichtig hält als er selbst? Wäre umgekehrt die Tatsache, dass Lernende sich den Relevanzbewertungen und Überzeugungen Lehrender (kritiklos) unterwerfen (anschließen), ein Beweis für Lehrerfolg? Dazu:

–In dem skizzierten Konflikt zeigt sich nun auch inhaltsbezogen die prinzipielle Differenz zwischen der Lehrzielbestimmung Lehrender und der Lernzielbestimmung Lernender: Lernende können etwas anderes für wichtig oder richtig halten und anstreben als Lehrende. Und Lehrende sind «nur» für die Realisierung der Bedingungen zuständig, die im Licht kausalanalytisch bestmöglich abgesicherten Wissens verwirklicht werden müssen, damit Lernende selbst die Bereitschaft entwickeln können zu lernen, was sie gemäß Lehrplan lernen sollen. Aber sie können dem Lernenden nicht ersparen, sich explizit oder implizit dafür oder dagegen zu entscheiden – wie (un-) reflektiert auch immer.

–Lehrende können Lernende also nicht gegen deren Einwilligung veranlassen, ihre Lernziele und Lernerfolgskriterien zu ändern. Lehrpersonen mögen versuchen, diese Änderung – wie sanft auch immer – zu erzwingen, aber dieser Zwang endet an dem Erfordernis, dass der Adressat des Zwangs in das Erzwungene – wenn auch mit Unbehagen – einwilligen muss; ganz abgesehen von der Frage, ob Zwang etwas mit Lehren, Bildung oder Erziehung zu tun hat.

–Schließlich können Lehrende – das ist mein wichtigstes Argument – das Ziel verfolgen, Lernende ausdrücklich nicht auf ein inhaltlich bestimmtes Muster erwünschten Verhaltens («richtigen» Wissens und «guten» Handelns) festzulegen, sondern sie zur selbstverantwortlichen Inhaltsbestimmung, -begründung und -beurteilung jener strikt von Lehrzielen zu unterscheidenden Lernziele zu befähigen, die eben nur sie selbst anstreben und verwirklichen (können). Es kann also Ziel des Lehrens sein, die Entwicklung der autonomen Zielsetzungs- und Zielbegründungskompetenz Lernender zu unterstützen – und bewusst darauf zu verzichten, Lernende inhaltlich konkret auf Ergebnisse dessen festzulegen, was sie lernen sollen. Im schulalltäglichen Fachunterricht wird «die Freiheit» Lernender extrem eingeschränkt, selbst zu bestimmen, was sie lernen wollen, und überdies «freihändig» zu entscheiden, was relevant, was richtig und was falsch ist.34 Das stimmt und verdient eine ausführlichere Erörterung. Aber das alles ist mit der Zielsetzung vereinbar, die Urteilskraft Lernender nicht zu domestizieren. Tatsache ist, dass Lernende zu dem, was Lehrende mit ihrem Unterricht erreichen wollen, implizit oder explizit «ja» oder «nein» sagen müssen – und dieses Nein kommt vor. Überdies: Den Corpus jener fachkundlichen Sätze (auch naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts), die zweifelsfrei wahr oder falsch sein können, sollte man nicht unter-, aber auch nicht überschätzen; auch für wahr gehaltene Sätze können strittig sein (vgl. z.B. Vollmer, 1995, S. 54ff.) und sollten – das ist meine Wertung – für kritisches Nach-Denken offen bleiben. Dass auch Lernende Gelegenheit erhalten, denkend und forschend zu erfahren und zu begreifen, dass, inwiefern und warum Sätze strittig sind, und überdies die erkenntniskritische Funktion dieser Zweifel zu erkennen, kann Ziel des Lehrens sein. Lehrende können wesentlich dazu beitragen, dass Lernende die prinzipielle Unabhängigkeit ihres eigenen Denkens, Urteilens, Entscheidens und Handelns erfahren, indem sie als Subjekte der Entwicklung ihrer eigenen Urteilskraft und Urteilszuständigkeit gesehen und respektiert werden.

–Darüber hinaus unterrichtsalltäglich können Lehrende den Adressaten ihrer Lehraktivitäten Gelegenheit einräumen, an der stets erforderlichen Operationalisierung, Begründung und praktischen Umsetzung jener bildungspolitisch, rechtlich oder administrativ vorgegebenen Ziele35 kritisch-diskursiv zu partizipieren, mit Bezug auf die der Unterricht gesteuert, kontrolliert und beurteilt zu werden pflegt. Dadurch wird die Differenz zwischen den Zuständigkeiten Lehrender und Lernender nicht aufgehoben, sondern bestätigt – vielleicht auch pädagogisiert.

–Hinzu kommt, dass jedes und so auch das vom Lehrerwollen abweichende Wollen Lernender eine Realisierungsbedingung Erfolg versprechenden Lehrens ist – eine Bedingung, über die Lehrende sich nicht hinwegsetzen dürfen, wenn sie am Erfolg ihrer Arbeit interessiert sind. Vorgefundenes Wissen, vorgefundene Interessen, Orientierungen oder Überzeugungen Lernender können Lehrende veranlassen, ihre Lehrziele oder Lehraktivitäten zu überprüfen (grundlegend dazu Weber, 1919, S. 541), um den bezweckten Erfolg ihrer Arbeit mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erfüllen. So, wie das vom Wollen eines Lehrenden abweichende Wollen und Tun eines Lernenden eine (nicht beliebig) beeinflussbare Realisierungsbe-dingung jedes gezielt um Erfolg bemühten Lehrens ist (dazu Prim, 2001 mit Bezug u.a. auf Ekholm, 1999), so ist umgekehrt das vom Wollen eines Lernenden abweichende Wollen eines Lehrenden eine ebenfalls nur begrenzt beeinflussbare Bedingung Erfolg versprechenden Lernens Lernender.

(6)Lehrpersonen, die sich entschließen, die Zuständigkeit Lernender für die Inhaltsbestimmung der Lernziele zu respektieren (ausführlich: Heid, 1996), lassen damit ihre eigenen handlungsleitenden Lehrziele nicht offen. Denn sie haben ja ein Ziel – nämlich die Adressaten ihrer Lehraktivitäten als Subjekte ihrer eigenen Lernzielkonkretisierung und -begründung zu respektieren – sowie alles zu unterlassen, was geeignet ist, die Entwicklung der Urteilskraft und Entscheidungskompetenz Lernender zu beeinträchtigen.

Das führt zu einer weiteren Rückfrage: Liefern die Lehrpersonen sich mit dieser Orientierung nicht jenen Wünschen Lernender aus, die in reformpädagogischer Programmatik oft als «Bedürfnis- oder Adressatenorientierung» bildungspraktischen Handelns postuliert (kritisch dazu Heid, 2003) – und von manchen als «Gefälligkeitspädagogik» (Kraus, 1998)36 diskreditiert werden? Kurze Antwort: Das tun sie nicht, und das können sie auch nicht; denn auch Lehrende sind und bleiben autonome, selbst denkende, urteilende und verantwortliche Subjekte unterrichtlicher Interaktion: Sie rezipieren Bedürfnisse Lernender unvermeidbar selektiv und interpretativ im Licht ihres lehrrelevanten Wissens und Wollens, und sie müssen – mit Bezug auf ihre unterrichtliche Verantwortung – kritisch sondierend, argumentations- bzw. diskursorientiert dazu Stellung nehmen, ohne die Autonomie der Bedürfnisautoren ignorieren oder gar diskreditieren zu müssen.

(7)Aber: Muss die Vorhersehbarkeit jeglichen Lehrerfolgs und damit auch die Verantwortbarkeit bildungspraktischen Handelns nicht an der Autonomie (Willens- und Entscheidungsfreiheit) Lernender scheitern (vgl. z. B. Amos, 2016, S. 61; Stegmüller, 1964 und 1966)? Dazu kurz (ausführlich: Heid, 1994):

(7.1)Einwirkung darf nicht mit Autonomiebeeinträchtigung verwechselt werden.

(7.2)Willens- und Entscheidungsfreiheit der Einwirkungsadressaten dürfen nicht mit völliger Unberechenbarkeit jenes Verhaltens gleichgesetzt werden, in dem sich Einwirkungseffekte zeigen. Bildungs- wie alle Verhaltensforschung bezweckt die Generierung nomologischen Wissens, das wesentlicher Bestandteil professioneller Lehrpersonenkompetenz ist. Lehrpersonen lernen in ihrem Studium und konsolidieren in ihrer Praxis jenes lehr-lern-theoretische Wissen, das es ihnen ermöglicht, die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, mit der ihr professionelles Handeln unter jeweils gegebenen Bedingungen bewirkt, was es bezweckt – obwohl und vielleicht sogar weil die Adressaten ihres bildungspraktischen Handelns, nämlich die Lernenden, freie, d. h. autonom denkende, urteilende, entscheidende und handelnde Subjekte sind.37 Für die Qualitätsentwicklung dieses Denkens, Urteilens, Entscheidens und Handelns tragen Lehrende auf allen Stufen des Bildungssystems eine in gesellschaftlicher Arbeitsteilung etablierte und legitimierte Mitverantwortung.

Obwohl Menschen auch dort sehr viel und unverzichtbar Wichtiges lernen, wo nicht gelehrt wird, wäre es politisch, ökonomisch und bildungspraktisch unverantwortlich, «das Lernen» unkontrolliert den Wechselfällen gesellschaftlicher Praxis auszuliefern. So wie «das Lernen» (in unserer Zeit und Zivilisation) verantwortliches Lehren nicht erübrigen kann, so konnte und kann Erfolg versprechendes Lehren «das Lernen» nie ersetzen.

Literatur

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