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Jürgen Oelkers

Swissness in der Pädagogik: Ein historischer Essay

Die Geschichte der Pädagogik wird immer noch hauptsächlich von Personen her geschrieben, weniger als Geschichte von Institutionen und so gut wie nie der Flops von Bildungsreformen.5 Das Personal ist grundsätzlich gut, obwohl – oder weil – es meistens nur aus Männern besteht. Erst in jüngster Zeit konnten auch einige Frauen hinzugewonnen werden. Maria Montessori ist unstrittig, aber um Namen wie die der italienischen Schwestern Rosa und Carolina Agazzi und ihre scuola materna muss gerungen werden.

Die Schweiz ist offenbar kein Land pädagogischer Klassiker. Sucht man nach entsprechenden Publikationen, dann ist das Ergebnis Fehlanzeige. Das mag mit nationalen Tugenden zusammenhängen, aber andererseits gibt es bedeutende Namen, die der Schweiz, nimmt man ihr heutiges Gebiet, zugeordnet werden müssten. Immerhin geht es um Jean-Jacques Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi oder auch Jean Piaget. Diese drei Namen sind für jede Art pädagogischer Geschichtsschreibung unverzichtbar.

Will man erklären, warum weder Rousseau noch Pestalozzi und eigentlich auch nicht Piaget als «Schweizer Pädagogen» bezeichnet werden, dann muss man sich auf die Wege der Rezeption einlassen, also der Zuordnung von Namen zu nationalen Räumen und Eigenheiten.

Man könnte dann vermuten, dass die Schweiz solche Klassiker gar nicht nötig hatte.

Aber noch das in Bern erschienene Lexikon der Pädagogik aus dem Jahre 1952 unterschied sehr genau zwischen eminenten und weniger wichtigen Namen. Pestalozzi erhielt 28 Spalten Text, Rousseau 21, Piaget 7 und Rosa Agazzi eine halbe (Lexikon der Pädagogik, 1952). Der Ausdruck «Schweizer Klassiker» wird vermieden, was wohl auch den kantonalen Zugehörigkeiten geschuldet war. Auf der anderen Seite sind genau diese Differenzen im Ausland immer gerne übersehen worden.

Rousseau, der sich in allen seinen veröffentlichten Schriften als «Citoyen de Genève» bezeichnet und auch so verstanden hat, gilt im deutschen Sprachraum als französischer Aufklärer. Die wenigsten Auseinandersetzungen mit Rousseau gehen auf seine Genfer Herkunft näher ein. Genf war eine autonome Republik, als Rousseau dort geboren wurde und aufgewachsen ist. Selbst als ihm das Bürgerrecht der Stadt entzogen wurde, hat er sich noch als Bürger von Genf verstanden.

Pestalozzi, Bürger von Zürich und Schweizer Republikaner, ist im Wesentlichen als deutscher Pädagoge wahrgenommen worden. Auch bei dieser Zuordnung spielte der Ort der Herkunft keine Rolle, während man das Werk von Pestalozzi ohne sein Zürcher Umfeld nicht verstehen würde. Das hat aber nicht daran gehindert, Pestalozzi im 19. Jahrhundert zum größten deutschen Pädagogen nach Luther zu stilisieren (Schmidt, 1861). Erst die jüngere Forschung im Anschluss an Osterwalder (1996) geht auf den Zusammenhang von Werk und Kontext näher ein.

Piaget wird mit Genf in Verbindung gebracht, obwohl er Bürger von Neuenburg war und dort auch wesentlich geprägt wurde. Piaget hat sich nie der Genfer Reformpädagogik zugerechnet, wenngleich er dort mehr als dreißig Jahre lang aktiv tätig war und Einfluss hatte. Der Grund ist einfach: Piaget verstand sich nicht als Pädagoge, sondern ausschließlich als Entwicklungspsychologe und später auch als Erkenntnistheoretiker. Dennoch sind seine Arbeiten zur Entwicklungspsychologie grundlegend für sehr viele pädagogische Theorien des 20. Jahrhunderts geworden.

Auf der anderen Seite wäre es ungerecht und historisch kurzschlüssig, würde man die Schweizer Pädagogik allein mit den Namen von Rousseau, Pestalozzi und Piaget in Verbindung bringen. Seit der Gründung der Helvetischen Gesellschaft im Jahre 1761 sind pädagogische Themen von vielen Autoren kontrovers diskutiert und im öffentlichen Diskurs fest verankert worden. Auch dabei spielten bestimmte Namen eine Rolle, aber ganz andere,

–etwa der Basler Aufklärer Isaak Iselin,

–der Diplomat und Mitbegründer der Helvetik Philipp Albert Stapfer

–oder der Schwyzer Pfarrer Konrad Tanner,

–später auch der Aargauer Erziehungsreformer Heinrich Zschokke

–und der Berner Bildungsunternehmer Philipp Emanuel von Fellenberg.

Ihre Namen sind in den deutschsprachigen «Klassikern der Pädagogik» so gut wie nie berücksichtigt worden. Auch deswegen gerieten sie schnell in Vergessenheit, obwohl ihr Beitrag zur Entwicklung der schweizerischen Pädagogik sehr viel nachhaltiger war als der etwa von Rousseau. Rousseaus Hauptwerk Émile ou De l’éducation ist bei Erscheinen 1762 von den zeitgenössischen Pädagogen und Schulmeistern massiv kritisiert worden und galt als Plagiat von antiken Autoren. Erst danach entstand der «französische Aufklärer».

Konrad Tanner6 war Pfarrer, Lehrer, Bibliothekar und später Abt des Klosters Einsiedeln. Er hat 1787 wohl als erster deutschsprachiger Autor eine Erziehung für die Demokratie konzipiert.7 Grundlage war Montesquieus Unterscheidung der drei Regierungsformen, die von Tanner pädagogisch näher qualifiziert wurden (Fuchs, 2015, S. 65–68). Tanner ging davon aus, dass für die Demokratie eine bessere Erziehung notwendig sei als für jede andere Regierungsform. Der freie Bürger kann nicht einfach über seinen Kopf hinweg regiert werden, sondern nimmt «an der Regierung selbst Antheil».

Das Wohl des Staates hängt von der Bildung seiner Bürger ab, der Bürger «ist selbst Beherrscher und Gebieter», er wählt und stimmt ab, in diesem Sinne ist er «der Richter jedes Theiles der Republik und des Ganzen zugleich». «Er setzt sich seine Vorgesetzten, er schließt Bündnisse, er errichtet Gesätze, kurz, er ist ein getheilter Monarch» (Tanner, 1787, S. 11).

«Zu diesen wichtigen Verrichtungen braucht er also unstreitig mehr Einsicht, mehr Beurtheilungskraft, mehr sittliche Denkungsart, mehr aufgeheiterte Vernunft, als jeder aristokratische Landsmann vonnöthen hat, der nur zum Gehorsam gebohren oder der monarchistische Unterthan, welcher von der Vorsehung bestimmt ist, den Befehlen seines unumschränkten Herrn zu gehorchen.» (Ebd., S. 11f.)

«Jedes Glied in der Demokratie» ist «der Beförderung zu jeder Staatsverwaltung fähig», und sein Schicksal hängt nicht wie in der Monarchie von den «Ahnen», sondern «von seinem eigenen Verdienste» ab (ebd., S. 12). Was jedoch der «demokratische Landsmann» tut und werden kann, erwächst nicht aus seiner Natur, sondern ist seiner «zweckmäßigen Erziehung» geschuldet (ebd.). Der Zweck der schulischen Bildung ist daher politisch und bezieht sich auf das Zusammenleben in der Demokratie.

Der Begründer der Volkbildung in der heutigen Form ist der Marquis de Condorcet.8 Von ihm stammt die Idee einer gestuften Verschulung, die einen obligatorischen Basisbereich für alle Kinder vorsieht und dann auf einen pyramidischen Aufbau hinausläuft, der die höhere Bildung mit dem Leistungsprinzip verbindet und nicht mit dem Privileg der sozialen Herkunft.

Condorcet unterschied 1793 zwischen einem aufgeklärten und einem ignoranten Volk. «Ignorant» meint unwissend und unfrei. Ein Volk, das – unter Zensur gestellt – dumm gehalten wird, wird in die Hände von Demagogen fallen, die einzig ihre eigenen Interessen vertreten. Ein aufgeklärtes Volk kann seine Interessen delegieren, sofern eine politische Öffentlichkeit vorhanden ist, an der jeder teilhaben kann und die für die Kontrolle der Macht sorgt. Das setzt voraus, dass Bildung sich unabhängig von Zensur ausbreiten kann.9

Öffentliche Bildung ist die Basislegitimation der modernen Schule, ohne die staatliche Schulpflicht keine wirkliche Berechtigung hätte. Es geht nicht einfach um staatsbürgerliche Erziehung, die auch mit einem Entzug von Wissen möglich ist; es geht aber auch nicht bloß um persönliches Erleben, das weder Wissen noch Tugend nötig hat. Schulpflicht – alle Kinder müssen die obligatorische Schule besuchen, ob sie oder ihre Erziehungsberechtigten dies wollen oder nicht – ist einzig mit einer öffentlichen Zwecksetzung zulässig, die Schulbesuch mit dem republikanischen Allgemeinwohl begründet.

Der Staat organisiert diesen politischen Zweck, ohne ihn nach eigenem Belieben definieren zu können. Weder erfindet staatliche Macht das Schulwissen, noch kann in einer demokratischen Republik die Staatsmacht durchsetzen, welche Tugenden zu gelten haben und welche nicht.

Vorausgesetzt ist die demokratische Verfassung, auf deren Anforderungen hin künftige Bürgerinnen und Bürger gebildet werden müssen. Öffentlichkeit und Kritik sind Grundlagen der Demokratie, die Allgemeinbildung dient dann der Demokratie, wenn sie Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, mit denen politische Partizipation über Generationen ermöglicht und stabil gehalten wird.

Ganz anders verstand Philipp Emanuel Fellenberg die Aufgabe der Volksbildung. Fellenberg, Jahrgang 1771 und Patrizier aus Bern, war fünfundzwanzig Jahre jünger als Pestalozzi, wurde zu seinem Konkurrenten und war wesentlich erfolgreicher als sein Zürcher Mitstreiter um die Zukunft der Erziehung. Beide gingen von den gegebenen Verhältnissen aus, nicht von Utopien, aber zogen ganz unterschiedliche Schlüsse.

Fellenbergs Vater, Daniel von Fellenberg, hatte 1793 den Wilhof in der Nähe der bernischen Gemeinde Münchenbuchsee gekauft. Dieser Hof ging nach seinem Tode 1801 an den Sohn über, der hier 1807 ein landwirtschaftliches Institut gründete, dem eine bereits vorher bestehende Armenschule angeschlossen war. Diese Kombination aus «Landwirtschafts-Methode» und «landwirtschaftlichen Erziehungsanstalten» (Fellenberg, 1808, S. 20ff.) wurde bekannt als «Feldgärtnerei-Colonien» (Lange, 1836),10 die europaweit Nachahmer fanden und als aussichtsreiches Mittel zur wirksamen Bekämpfung der Armut angesehen wurden. In der Schweiz hießen sie die «Wehrlischulen».11

Aber die Arbeitsschulen auf dem Lande wurden nicht zur Basis der neuen Volksschule, sondern waren nur ein merkantiler Beitrag zur Armenerziehung. Die Kolonie war Teil eines privaten Bildungsimperiums in Bern, das auch weiterführende Schulen und sogar ein Lehrerseminar umfasste. Doch nach dem Tod von Fellenberg (1844) hatte sich das Konzept der pädagogischen Republik überholt. Der Staat bot fortan die Volksbildung an, Privatschulen wurden umso mehr an den Rand gedrängt, je mehr das staatliche Obligatorium ausgedehnt wurde.

Damit verbunden war die allmähliche Loslösung von der kirchlichen Schulaufsicht und die Säkularisierung des Lehrplans, die sich – mit vielen Kompromissen und bei großen kantonalen Unterschieden – im ganzen 19. Jahrhundert hinzog, aber endlich doch erfolgreich war (Annen, 2005).

Der Unterricht für das Volk verlangte eine staatliche Legitimation. Heinrich Zschokke formulierte dieses Prinzip in seinem Bündner Lehrplan von 1798 als Teil dessen, was zu der «guten Einrichtung eines Staates» gehört (Das neue und nützliche Schulbüchlein, 1798, S. 131). Genauer heißt es:

«Wenn ein Volk frei bleiben will, muss es sorgen in allen nüzlichen Dingen wohl unterrichtet zu werden. Der dumme und unwissende Mensch ist immer der Sklav des Klugen. Alle Gemeinden haben daher gottesfürchtige und gelehrte Kirchen- und Schuldiener. Jedes Dorf hat eine wohlversehene Schule, zum Unterricht im Schreiben, Lesen, Rechnen, Religion und Vaterlandsbeschaffenheit. – Im Lande sind mehrere hohe Schulen, um allerlei fremde Sprachen und höhere Wissenschaften zu erlernen.» (Ebd., S. 134)

Die politischen Gemeinden unterhalten öffentliche Schulen, die auch, aber nicht ausschließlich und auch nicht überwiegend Religion lehren und die ihre wesentliche Aufgabe darin haben, für den Anstieg der Volksbildung insgesamt zu sorgen. Ignoranz und Unwissen sind die Feinde der politischen Freiheit, soll man verstehen, also muss Religion als Wissensfach unterrichtet oder müssen Katechismus und öffentlicher Unterricht getrennt werden.

Die Unterordnung der Geistlichen unter das Gesetz des «öffentlichen Unterrichts» (Stapfer, 1800, S. 11) war eines der großen Probleme der Helvetik. Kirche und Staat sollten je getrennte Erziehungsaufgaben erhalten, die «Nationalerziehung» und der «öffentliche Unterricht» sollten staatliche Angelegenheiten werden, die Kirche sollte sich auf «religiösen Unterricht» und «kirchliche Unterweisung» beschränken (ebd., S. 13f.). Das ist tatsächlich so durchgesetzt worden, nicht frei von Friktionen und mit dem Kompromiss, dass Religion in der staatlichen Volksschule als Glaubensfach unterrichtet werden konnte.

Mit dem Aufbau der kantonalen Volksschulen war die Schweiz im 19. Jahrhundert offen für Lehrkräfte und Pädagogen aus dem Ausland. Auch dieser Transfer in die Schweiz hinein ist kaum beachtet worden. So ist wenig bekannt, dass Friedrich Fröbel, der Gründer des Kindergartens, mehr als sechs Jahre beruflich in der Schweiz verbracht hat, allerdings nur mit mäßigem Erfolg (Bericht, 1833). Das gilt auch für seinen kurzen Einsatz in der bernischen Lehrerbildung.

Mehr Erfolg dagegen hatte der württembergische Blindenlehrer Ignaz Thomas Scherr, der im Kanton Zürich die Volksschule mit aufgebaut und die Lehrerbildung entwickelt hat. Allerdings fiel er nach mutigen Reformen und wegweisenden Initiativen in Ungnade und wurde im Zuge des Straußenhandels nach dem «Züriputsch» vom 6. September 1839 entlassen. Gründe waren seine liberale Auffassung vom Christentum und sein Einsatz für ein Verbot der Kinder-Nachtarbeit.

Scherr war nach seiner Heirat mit Anna Lattmann aus Zürich naturalisiert, trug also kein deutsches Risiko. Und er tat nach dem Rauswurf das Naheliegende, er wechselte den Kanton. Scherr wurde 1849 Verfassungsrat des Kantons Thurgau und war dort auch einige Jahre im Erziehungsrat tätig. In Zürich erschien eine Würdigung des «Schulreformators» (Bänninger, 1871), allerdings wartete man damit bis nach seinem Tod.

Im Anschluss an die gescheiterte Revolution 1848/49 kamen zahlreiche deutsche Emigranten in die Schweiz, darunter auch viele demokratisch gesinnte Lehrer. Für manche von ihnen war die Schweiz nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die Vereinigten Staaten; diejenigen aber, die in der Schweiz blieben, trugen maßgeblich zum Aufbau der Volksschule bei.

Die eigentliche Geschichte der schweizerischen Pädagogik hat primär mit dem Aufbau kantonaler Volksschulen zu tun. Das Projekt einer nationalen Volksschule, das Stapfer für die Helvetik entwickelt hat, scheiterte nach deren Untergang 1803. Die Idee der Volksschule wurde gleichwohl weiterverfolgt, nur diesmal mit kantonalen Gründungen. Volksschulgesetze im Aargau, in Basel, im Thurgau oder auch im Kanton Zürich zeigen die Richtung an.

Bereits in der helvetischen Gesellschaft wurde die Maxime «Volksherrschaft ist Volksbildung» diskutiert. Die Eliten in der Schweiz waren sich darüber im Klaren, dass die Etablierung einer demokratischen Verfassung nur mit dem Aufbau der Volksbildung möglich und sinnvoll war. Bis zur Französischen Revolution waren dabei die Schriften von Condorcet eine maßgebende Größe, während sich die Kritiker der Volksschule auf Rousseau und Pestalozzi beziehen konnten.

Am 28. September 1832 wurde das «Gesetz über die Organisation des gesammten Unterrichtswesens im Canton Zürich» erlassen, also mit heutigen Worten das erste Volksschulgesetz der Schweiz und wohl auch das erste Gesetz im deutschen Sprachraum, das den Begriff «Volksschule» positiv verwendet. Das erste basellandschaftliche Schulgesetz wurde erst 1835 vom Volk angenommen.12

Das «gemeine Volk» war noch im 18. Jahrhundert ein anderer Ausdruck für «Pöbel», während der Gesetzgeber in Zürich nunmehr eine integrative Schule für das Volk vorsah, deren Zweckparagraph unmissverständlich so formuliert war:

«Die Volksschule soll die Kinder aller Volksclassen nach übereinstimmenden Grundsätzen zu geistig thätigen, bürgerlich brauchbaren und sittlich religiösen Menschen bilden.» (Gesetz, 1832, S. 313)

Die Einrichtung der Volksschule war gleichbedeutend mit der Absage an jede Form von Standesschule, wie sie im europäischen Umfeld zu diesem Zeitpunkt noch völlig selbstverständlich war. Das Gesetz unterschied grundsätzlich zwischen der allgemeinen und der höheren Volksschule; die erste sollte als Ortsschule geführt werden, drei Abteilungen umfassen und vom sechsten bis zum fünfzehnten Altersjahr reichen, allerdings in der dritten Abteilung nur der Repetition dienen (ebd., S. 347).

Die allgemeinen Volksschulen haben die Aufgabe, «der gesammten Schuljugend diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten mitzutheilen», die zur Erfüllung des «Zwecks der Schulbildung unerlässlich sind» (ebd., S. 313). «Höhere» Volksschulen waren die heutigen Sekundarklassen, die noch nicht obligatorisch waren.

Was unter den notwendigen Kenntnissen und Fertigkeiten zu verstehen ist, wird auf eine heute unvorstellbar kurze Weise festgelegt, nämlich durch eine Aufzählung von vier Lehrbereichen auf nur einer Seite.

–Unterschieden werden die Elementarbildung in den Bereichen Sprache, Rechnen und Musik,

–die Realbildung in Fächern einschließlich Unterricht in der «Staatseinrichtung»,

–weiter die Kunstbildung im Singen, Zeichnen und Schönschreiben

–sowie schließlich die Religionsbildung mit «biblischer Geschichte im Auszug» und «Vorbereitung auf den kirchlichen Religionsunterricht» (ebd., S. 313f.).

Das Gesetz von 1832 sah unabhängige und selbstständige Lehrkräfte vor (ebd., S. 326), die verantwortlich für den Unterrichtserfolg waren und dafür Spielraum benötigen. Sie sollten nicht an den Buchstaben des Lehrplans, sondern an der Erreichung des Zweckes gemessen werden.

Das erste Zürcher Volksschulgesetz enthält auch noch andere Regelungen, die aus heutiger Sicht erstaunlich sind,

–etwa jährliche öffentliche Prüfungen aller Schülerinnen und Schüler (Gesetz, 1832, S. 321),

–gesetzliche Ferien von mindestens vier und höchstens acht Wochen (ebd., S. 323),

–Verpflichtung der «Schüler der obern Classen» zur Aushilfe beim «Lehrgeschäft» (ebd.),

–Akzeptanz von Schulversäumnissen nur bei alsbaldiger Entschuldigung und dem Vorliegen «erheblicher Gründe» (ebd., S. 324f.),

–die Verpflichtung der Lehrerschaft zur Fortbildung (ebd., S. 331),

–dann weiter Schulsteuern und schließlich eine «Hochzeitgabe, welche jedes Brautpaar im Betrag von wenigstens zwey Franken an den Schulfonds seiner Bürgergemeinde zu entrichten hat» (ebd., S. 338f.).

Dagegen machte das Gesetz keinerlei Aussagen oder auch nur Andeutungen über das, was heute vordringlich zu sein scheint, nämlich die Individualisierung des Lernens, die Förderung von sehr unterschiedlichen Talenten und die Integration von Schülerinnen und Schüler mit verschiedener sozialer Herkunft. Das ist leicht zu erklären, es gab für solche Stichworte keinen Anlass, weil die Gesellschaft wohl verschiedene Klassen kannte, aber das Umfeld der einzelnen Schulen sowohl in sozialer als auch in religiöser Hinsicht weitgehend homogen war.

Entsprechend homogen war auch die Vorstellung des Lehrens und Lernens, von der sich das Gesetz seinerzeit leiten ließ. Die Grundanforderung an den Unterricht wird so beschrieben:

«Die Lehrweise muss so beschaffen seyn, dass sie, indem die Schüler in schnellem und dennoch lückenlosem Fortschreiten zu Kenntnissen und Fertigkeiten geführt werden, die Sinnes-, Verstandes- und Gemüthsbildung als Hauptsache von Anfang an und fortgehend befördert.» (Ebd., S. 315)

Das war natürlich immer Illusion, denn ein «lückenloses» Fortschreiten aller Schülerinnen und Schüler nach gleichem und dabei möglichst schnellem Tempo hat es nie gegeben und kann es auch nicht geben, selbst oder gerade dann nicht, wenn man die Anforderungen nach unten hin nivellieren würde.

Die historische Ausgangslage für das Zürcher Gesetz lässt sich mit zwei Zahlen erläutern, die auch den Abstand zu heute kennzeichnen:

–1834 mussten im Kanton Zürich genau 43 653 Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden.13

–Dafür standen 446 ausschließlich männliche Lehrkräfte zu Verfügung.

Die Relation gibt einen Eindruck von der zulässigen Klassengröße, aber auch von der Schule selbst, die nämlich noch weitgehend identisch war mit der Klasse. Unterrichtet wurden hundert Schüler pro Klasse. Eine Unterteilung nach Jahrgängen gab es noch nicht, die Schüler wurden gemeinsam in einem Raum unterrichtet, fast ausschließlich von einem Lehrer und seinem Gehilfen.

Und Unterricht war das gesamte Angebot der Bildung. Zu diesem Zeitpunkt gab es weder Kindergärten noch Sonderschulen, keine Kleinklassen und auch keine organisierte Berufsbildung, für die der Staat Verantwortung getragen hätte. Aus dem Gesetz folgte aber, dass auf dieser Grundlage auch die Lehrerbildung neu geordnet werden musste. 1832 wurde das erste Lehrerseminar in Küsnacht eröffnet, Direktor wurde Ignaz Thomas Scherr, der den Konservativen auch deswegen ein Dorn im Auge war. Politische Kämpfe um die Lehrerbildung soll es ja bis heute geben.

Danach ist die Volksschule stetig ausgebaut worden. Sie wurde nicht nur zeitlich erweitert, sondern hat auch allmählich ein anderes Gesicht gewonnen. Ursprünglich sollte die Volksschule allein zur Elementarbildung beitragen, wobei ein starker Bezug zu den Notwendigkeiten des Berufslebens gesucht wurde. Dieser Bezug wurde mit der Etablierung einer eigenen Berufsbildung weitgehend aufgegeben.

Konkret hieß das, Lernbereiche wie das geometrische Zeichnen zu verlagern oder einzuschränken. Umgekehrt konnte die Elementarmathematik erweitert und ausgebaut werden. Die Volksschule entwickelte auf dieser Linie eigene Fächer, mit denen bestimmt wurde, was unter schulischer Allgemeinbildung zu verstehen war.

Ein weiteres Merkmal war die Entwicklung der Volksschule zu einem Quasimonopol des Staates. Die zahlreichen Privatschulen in den größeren Städten hatten vor allem den Bereich der Sekundarschule versorgt. Als dieser obligatorisch wurde, sind die Privatschulen an den Rand gedrängt worden (Tobler, 1944, S. 169f.). Bis heute hat die Schweiz eine vergleichsweise niedrige Zahl an Privatschulen, was vor allem damit zusammenhängt, dass staatliche Subventionen nur sehr selektiv eingesetzt werden.

Diese Geschichte dauert an und hat zu sehr stabilen Institutionen geführt. Dass Volksherrschaft mit Volksbildung zu tun hat, ist im Bewusstsein der Schweizerinnen und Schweizer fest verankert. Heute ist das Gewicht der Gymnasien gewachsen, es gibt einen überkantonalen Lehrplan, die Lehrerbildung ist einheitlich akademisiert worden, aber die zentrale Achse im Bildungssystem ist immer noch die zwischen Volksschule und Berufsbildung.

Literatur

Angulo, A. J. (Ed.) (2016). Miseducation. A History of Ignorance-Making in America and Abroad. Baltimore: Johns Hopkins University Press.

Annen, M. (2005). Säkularisierung im 19. Jahrhundert. Der Kanton Schwyz als historisches Fallbeispiel. Bern: Lang.

Bänninger, J. J. (1871). Der Schulreformator Doktor Thomas Scherr. Sein Leben und sein Wirken. Zürich: J. Herzog.

Bericht (1833). Bericht des Kleinen Rates an den Grossen Rat über die Privaterziehungsanstalt in Willisau. Luzern.

Condorcet (1989). Ecrits sur l’instruction publique. Second volume: Rapport sur l’instruction publique. Texte présenté, annoté et commenté par Charles Coutel. Préface de Catherine Kintzler. Paris: Edilig.

Das neue und nützliche Schulbüchlein (1798). Das neue und nützliche Schulbüchlein, zum Gebrauch und Unterricht für die wissbegierige Jugend im Bündnerlande. Malans.

Fellenberg, E. v. (Hrsg.) (1808). Landwirtschaftliche Blätter von Hofwyl. Erstes Heft. Bern: Maurhofer & Dellenbach.

Fuchs, M. (2015). Lehrerinnen- und Lehrerperspektiven in der Helvetischen Republik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (Studien zur Stapfer-Schulenquête von 1799).

Gesetz (1832). Gesetz über die Organisation des gesammten Unterrichtswesens im Canton Zürich. Erste Abtheilung: Organisation der Volksschulen. In: Officielle Sammlung der seit Annahme der Verfassung vom Jahre 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich. Zweyter Band (S. 313–341). Zürich: Schulthess.

Lange, C. F. (1836). Feldgärtnerei-Colonien oder Ländliche Erziehungs-Anstalten für Armenkinder, zur gartenmäßigen Betreibung des Ackerbaus, als das allerwohlfeilste, zweckmäßigste und durchgreifendste Mittel gegen das Ueberhandnehmen der Armennoth, aus vielfachen Thatsachen und unläugbaren Erfahrungen nachgewiesen und praktisch dargestellt. Dresden/Leipzig: Arnold.

Lexikon der Pädagogik (1952). Lexikon der Pädagogik in 3 Bänden. Band III. Bern: Francke.

Osterwalder, F. (1996). Pestalozzi – Ein pädagogischer Kult. Pestalozzis Wirkungsgeschichte in der Herausbildung der modernen Pädagogik. Weinheim: Beltz.

Schmidt, K. (1861). Die Geschichte der Pädagogik in weltgeschichtlicher Entwicklung und im organischen Zusammenhange mit dem Culturleben der Völker dargestellt. Dritter Band: Die Geschichte der Pädagogik von Luther bis Pestalozzi. Cöthen: Paul Schettler.

Stapfer, P. A. (1800). Einige Bemerkungen über den Zustand der Religion und ihrer Diener in Helvetien. Bern.

Tanner, K. (1787). Vaterländische Gedanken über die mögliche gute Auferziehung der Jugend in der helvetischen Demokratie. Zürich.

Tobler, E. (1944). Instituts-Erziehung. Ein Beitrag zur Geschichte der praktischen Erziehung in der deutschen Schweiz von der Zeit Pestalozzis bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Aarau: Gebr. Oberholzer

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