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»NSU 2.0«

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In der aufgehetzten Atmosphäre nach 2015, als in der Öffentlichkeit erbittert über die Asyl- und Migrationspolitik gestritten wurde, verging zeitweise kein Tag ohne rassistische Angriffe und Brandanschläge auf Asylunterkünfte. Dazu kommen die bis heute nicht abebbende Hetze im Internet und persönliche Drohungen gegen Politikerinnern und Politiker oder Medienleute. In Berlin-Neukölln werden seit Jahren Anschläge verübt, die offenkundig auf das Konto von Rechtsextremisten gehen, und der Staat hat diesem alltäglichen Terror keine wirksamen Mittel entgegengesetzt.

Nach entsprechenden Hinweisen musste und muss mancherorts sogar eine mögliche Kumpanei zwischen Beamten und Neonazis geprüft werden. Nicht nur in Berlin, auch andernorts flogen in den vergangenen Monaten Polizisten und Soldaten auf, die in Chatgruppen rechtsextreme Botschaften versendet oder sich anderweitig mit einer zweifelhaften Gesinnung hervorgetan hatten. In Frankfurt am Main entdeckten Ermittler gleich bei Dutzenden Beamten Hetznachrichten, das Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei musste deshalb aufgelöst und neu aufgebaut werden, Hessens Innenminister Peter Beuth sprach im Juni 2021 von einem »inakzeptablen Fehlverhalten«. Die aufgedeckten Chats ließen auf eine »abgestumpfte, diskriminierende Haltung und teils rechtsextreme Gesinnung« schließen. In Calw war zuvor schon das Kommando Spezialkräfte (KSA) der Bundeswehr ins Zwielicht geraten, nachdem dort Munition entwendet worden war. Bei einer Party soll Rechtsrock gespielt und der Hitlergruß gezeigt worden sein.

Nicht erst seit der Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA und der »Black lives matter«-Bewegung, die auch in Deutschland angekommen ist, wird hierzulande über strukturellen und institutionellen Rassismus diskutiert. Wie stark zumindest latente Vorurteile und Ressentiments das Handeln der Behörden prägen können, hat auch der NSU-Komplex gezeigt. Das Vertrauen in den Staat ist dadurch in Teilen der Bevölkerung erschüttert oder sogar zerstört worden (vgl. Keltek 2016).

In den vergangenen Jahren hat auch ein ominöser »NSU 2.0« dazu beigetragen, dass der Schrecken nicht endet und das Vertrauen in die Behörden schwindet. Jahrelang erhielten Personen des öffentlichen Lebens üble Drohschreiben, die mit dem Kürzel »NSU 2.0« und anderen Anspielungen auf den Nationalsozialismus unterzeichnet waren. Zu den Betroffenen gehört auch die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız, die als Anwältin der Familie Şimşek auf Seiten der Nebenklage am NSU-Prozess beteiligt war (vgl. die Beiträge von Şimşek und Başay-Yıldız). Die Drohschreiben enthielten vertrauliche Informationen, unter anderem die Privatadresse der Anwältin. Diese Adresse war kurz vor Eingang des Schreibens von einem Polizeicomputer in Frankfurt abgerufen worden, weshalb sich ein Verdacht gegen die dortigen Beamten richtete. Bei den Ermittlungen wurde auch hier eine Chatgruppe entdeckt, in der Polizisten rechtsextreme Nachrichten ausgetauscht hatten.

Im Mai 2021 nahmen die Ermittler endlich einen Tatverdächtigen fest, einen 53 Jahre alten Berliner, der allerdings nicht bei der Polizei oder einer anderen Behörde gearbeitet hatte. Er soll die »NSU 2.0«-Drohbriefe verfasst haben. Zunächst blieb unklar, wie er an die vertraulichen Informationen gelangt war, ob er beispielsweise mit geschickten Anrufen Beamte überrumpelt und zur Herausgabe von Daten gebracht hatte, oder ob er engere Verbindungen in Polizeikreise pflegte. Unklar war zudem, ob der Mann eigenständig und allein handelte oder Komplizen hatte und ob er einem Netzwerk angehörte, das sich über das Darknet oder auf anderen Wegen zu Aktionen verabredet hatte. Außer dem Tatverdächtigen aus Berlin identifizierten die Behörden in den vergangenen Jahren weitere Männer, die ähnliche Hassbotschaften verschickt haben sollen. Wer als einzelner Trittbrettfahrer handelte und wer womöglich einem systematisch vorgehenden Netzwerk angehörte, blieb zunächst offen. Doch kaum war der verdächtige Berliner in Untersuchungshaft genommen worden, gingen bei der hessischen SPD-Vorsitzenden Nancy Faeser neue Drohbriefe ein – auch sie unterzeichnet mit »NSU 2.0«.

Selbst wenn für solche Taten neue Gruppen und nicht die alten Netzwerke des ursprünglichen NSU verantwortlich sein sollten, zeigen die verwendeten Anspielungen den Heldenstatus, den die Terrorgruppe in bestimmten Kreisen erlangt hat. Der Begriff »NSU« ist in den vergangenen Jahren immer wieder bei Straftaten und Schmierereien als Bezug aufgetaucht. Der zur Drohung umgebaute Spruch des rosaroten Panthers – »ich komme wieder, keine Frage« – ist so gesehen längst eingelöst worden. Der rechte Terror war nie weg. Es gibt Menschen in diesem Land, die sich nicht ohne Grund jeden Tag davor fürchten, dass sie Ziel eines Anschlags werden. Jüdische Gemeinden verrammeln ihre Synagogen mit gepanzerten Türen. Überlebende des NSU schauen sich genau um. Journalisten, die über Rechtsextremismus recherchieren, überprüfen ihr Auto, bevor sie einsteigen. Anwältinnen schützen ihre Wohnung mit teurer Überwachungstechnik. Sich nicht einschüchtern zu lassen, ist eine gute Devise, die für viele Betroffene im Alltag aber gar nicht so leicht umzusetzen ist.

Es gehört zur perfiden Strategie terroristischer Gruppen, dass ihre Anschläge weit mehr bewirken als das unmittelbare Leid der Betroffenen. Sie nisten sich ein in den Köpfen und Herzen der Menschen. Sie verbreiten Angst und Schrecken weit über die Taten hinaus. Sie treiben die Bürgerinnen und Bürger auseinander, entfremden die Menschen, führen den Staat und seine Institutionen vor und bringen ihn in Versuchung, falsch zu reagieren und rechtsstaatlichen Prinzipien untreu zu werden. So setzt sich der Schrecken fort. Und so erodiert das Vertrauen immer weiter.

Dem Terror zu trotzen und den Schrecken zu verlieren, kann allerdings auch nicht gelingen, indem die Augen verschlossen und die bedrohten und betroffenen Menschen allein und schutzlos zurückgelassen werden. Die Gesellschaft muss der Bedrohung ins Auge sehen und ungeschönt auch das eigene Versagen aufarbeiten, das dazu beigetragen hat und weiter dazu beiträgt, dass in diesem Land immer wieder Neonazis zuschlagen können. »Ich komme wieder, keine Frage«? Der NSU und seine Nachahmer dürfen niemals wiederkommen.



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