Читать книгу "Nationalsozialistischer Untergrund" - Группа авторов - Страница 12

»An Zufall glaube ich nicht« Abdul Kerim Şimşek

Оглавление

Am 9. September 2000 ermordete der NSU in Nürnberg den 38 Jahre alten Blumenhändler Enver Şimşek. Er hatte Blumen sehr gemocht und diese Leidenschaft zum Beruf gemacht. Er lebte mit seiner Familie in Schlüchtern, hatte Verkaufsstände in Würzburg und Nürnberg. Enver Şimşek hat viel gearbeitet. Er hatte, so sagte es die Anwältin der Familie, Seda Başay-Yıldız, im NSU-Prozess, ein inniges Verhältnis zu seinen Kindern, zur Tochter Semiya und zum Sohn Abdul Kerim. Sie waren 14 und 13 Jahre alt, als die Neonazis ihren Vater umbrachten. Im Jahr 2000, so schilderte es die Anwältin, hatte Enver Şimşek die Absicht gefasst, den Blumenhandel in Deutschland langsam aufzugeben und mehr Zeit mit seiner Familie und in der Türkei zu verbringen. Dann kamen die Mörder. Er wäre, so sagte die Anwältin, stolz auf seine Kinder und seine Enkelkinder gewesen, hätte er die Möglichkeit gehabt, sie heute zu sehen; stolz darauf, was aus ihnen geworden ist. Abdul Kerim Şimşek ergriff vor Gericht auch selbst das Wort und erzählte, wie er ins Krankenhaus zu seinem Vater gerufen wurde. Wie er das Blut und die Einschusslöcher sah und es keine Rettung mehr gab. Die folgenden Fragen an Abdul Kerim Şimşek hat Tanjev Schultz gestellt.

Schultz: Es ist drei Jahre her, dass im NSU-Prozess das mündliche Urteil verkündet wurde. Haben Sie in dieser Zeit Abstand zu dem Verfahren gewonnen oder ist das unmöglich?

Şimşek: Ich habe mich zurückgezogen. Es war eine sehr aufwühlende Zeit. Ich habe mich, nachdem der Prozess vorbei war, auf meine Familie und mein Kind konzentriert, um zur Ruhe zu kommen.

Noch immer gibt es viele Fragen, die nicht beantwortet sind. Welche Fragen beschäftigen Sie besonders?

Wie die Täter die Opfer ausgesucht haben. An Zufall glaube ich nicht. Welche Unterstützer und Helfer gab es?

Es sind in den vergangenen Jahren weitere Anschläge verübt worden, in Hanau, in Halle, auf den Politiker Walter Lübcke. Verfolgen Sie das oder versuchen Sie, es auszublenden?

Ich verfolge das natürlich. Es macht mich sehr traurig und betroffen, dass sowas weiterhin in Deutschland passiert. Menschen sterben, weil sie für andere immer noch nicht »deutsch« sind. Es ist so sinnlos und hört einfach nicht auf. So viel Leid wird diesen Menschen angetan. Ich leide mit ihnen, weil ich weiß, wie das ist.

Sie haben vor Gericht ein Plädoyer gehalten, das viele Menschen sehr bewegt hat. Sie haben erzählt, wie Sie von dem Anschlag auf Ihren Vater erfuhren und ihn noch im Krankenhaus sahen, bevor er starb. Sie schilderten, dass Ihr Vater ein geselliger Mensch war, der in seiner Freizeit gerne etwas mit den Kindern unternahm. Was ist Ihr Wunsch für das Gedenken an Ihren Vater? Wie soll die Gesellschaft die Erinnerung an Enver Şimşek bewahren?

Mein Vater soll nicht umsonst gestorben sein. Wenn über meinen Vater geredet wird, sieht man sein Passbild in der Öffentlichkeit. Aber der Mensch dahinter, der er für uns war, soll in Erinnerung bleiben. Er war ein Familienvater und Ehemann. Einer, der nach Deutschland gekommen ist und viel gearbeitet hat, um seinen Traum von einem Haus in seinem Dorf zu verwirklichen. Das Haus gibt es, aber es steht leer.

Vor Gericht haben Sie betont, es sei Ihnen nicht nur der Vater genommen worden, sondern auch Ihrer Tochter der Großvater. Wenn die Zeit reif ist, so sagten Sie, werden Sie Ihrer Tochter berichten müssen, dass ihr Opa nur aufgrund seiner Herkunft von Nazis umgebracht wurde. Der Gedanke ist selbst für mich, der ich nur die Frage stelle, kaum auszuhalten. Was werden Sie Ihrer Tochter über den NSU erzählen – und über das Land, das diesen Terror nicht stoppte?

Ich habe Angst davor. Vor diesem Tag. Vor allem, weil ich das Gefühl habe, dass sich nicht viel geändert hat. Und wie erklären Sie einem Kind, dass es Menschen in diesem Land gibt, die andere töten, weil sie »Ausländer« sind. Wie nehme ich meinem Kind die Angst, die es dann haben wird, und vor allem: Kann ich mein Kind beschützen?

Außenminister Heiko Maas hat im September 2020 einen Gastbeitrag in der »Zeit« über die NSU-Morde veröffentlicht. Der Artikel trägt die Überschrift »Einer von uns« – gemeint ist Ihr Vater. Maas schreibt, Enver Şimşek sei für zu viele Menschen in Deutschland »der Türke« geblieben, obwohl er bereits viele Jahre hier lebte. »Das ist und bleibt unser großes Versäumnis, unsere Schuld.« Wie erleben Sie es heute: Gibt Ihnen die Gesellschaft das Gefühl, dass Sie selbstverständlich dazugehören?

Die AfD ist 2017 in den Bundestag eingezogen. Sie ist drittstärkste Partei geworden. Das macht mir wirklich Sorgen. Rechte Parolen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es geht mehr und mehr in die falsche Richtung. Ich mache mir Gedanken als Vater und als jemand, der bereits einen Angehörigen durch einen rassistischen Anschlag verloren hat. Ich glaube, ich werde, wenn das so weitergeht, nie dazugehören.



Подняться наверх