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»Schande für unser Land«

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Unter der Oberfläche der stabilen Demokratie, zu der die Bundesrepublik herangereift war, hatten die rechten Terroristen immer wieder zugeschlagen. Die Neonazis machten sich, anders als die linken Terroristen der RAF in den 1970er Jahren, nicht die Mühe, ausgefeilte Pamphlete zu verfassen. »Taten statt Worte« – diesen Grundsatz vertrat der NSU in seinem Video. Das Kalkül ging auf. Der Verfolgungsdruck der Polizei war gering. Anfangs hatten die Behörden zwar nach den untergetauchten drei Rechtsextremisten gefahndet, dabei jedoch zahlreiche Fehler gemacht und Skandale verursacht. Schließlich erlahmte die Suche – und jahrelang zog niemand eine Verbindung zwischen den Untergetauchten aus Jena auf der einen Seite und der bundesweiten Mordserie, den Bombenanschlägen und der Serie von Banküberfällen auf der anderen Seite. Stattdessen spekulierten die Ermittler hartnäckig über eine kriminelle ausländische Bande, die hinter den Taten stecken könnte. So gerieten von Anfang an auch die Familien der Opfer ins Visier. In ihnen sah die Polizei den Schlüssel zur Aufklärung. So verloren die Familien zunächst einen Angehörigen und dann auch noch das Vertrauen in den deutschen Staat und seine Behörden. Sie wurden bedrängt und beäugt, ausgefragt und ausgespäht. Sie fühlten sich kriminalisiert – und dies, obwohl einige von ihnen schon früh dachten und sagten, was erst Jahre später für alle offensichtlich wurde: dass Rechtsextremisten hinter den Anschlägen stecken mussten.

Doch das wollte lange Zeit niemand hören oder glauben, weder in der Politik noch bei der Polizei – und auch nicht in den Medien, die auf den falschen Spuren der Ermittler mitliefen und die Betroffenen durch Begriffe wie »Döner-Morde« stigmatisierten (vgl. den Beitrag von Schultz, Mediale Aufklärung?). Und die Neonazis? Sie konnten in Ruhe und unbehelligt mit ansehen, wie die Saat des Terrors aufging und die Behörden und Medien das Leiden der türkischen Familien noch verstärkten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Verbrechen des NSU als Anschlag auf die gesamte Gesellschaft bezeichnet. »Sie sind eine Schande für unser Land«, sagte Merkel bei einer Gedenkfeier im Jahr 2012. Die Kanzlerin versprach eine umfassende Aufklärung – ein Versprechen, das viele Angehörige der Opfer angesichts mauernder Behörden und mauernder Neonazis bis heute für nicht eingelöst halten. Selbst diejenigen, die keine Belege dafür sehen, dass eine schützende Hand des Staates den NSU gezielt abschirmte, sind entsetzt über die vielen Fehler und Ungereimtheiten, die bei der Polizei und den Geheimdiensten ans Licht kamen. Schon deshalb darf kein Schlussstrich unter den Fall gezogen werden.

Neun Parlamente – der Bundestag und die Landtage von Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen – richteten in den vergangenen Jahren Untersuchungsausschüsse ein, die den NSU-Komplex behandelten. Zahlreiche Zeugen wurden befragt, unzählige Dokumente ausgewertet. Als vor dem Oberlandesgericht in München die Hauptverhandlung begann, lag eine mehr als 400 Seiten dicke Anklageschrift vor, die Akten addierten sich im Laufe der Zeit auf gut eine halbe Million Seiten. Der Aufwand war beträchtlich, der Fall ungewöhnlich komplex. Das Gericht, die Ausschüsse und die Medien haben mittlerweile vieles, aber längst nicht alles erhellen und rekonstruieren können. Wichtige Fragen bleiben weiterhin unbeantwortet – oder es gibt berechtigte Zweifel, ob die üblichen Erklärungen tatsächlich zutreffen.

Zu den Fragen gehört die Unsicherheit über die Größe des NSU: Wer gehörte dazu, wer war eingeweiht oder beteiligt? Im Video, das Zschäpe verschickte, heißt es gleich zu Beginn, der NSU sei ein »Netzwerk von Kameraden«. Wäre die Gruppe nur ein Trio gewesen, erschiene der Begriff »Netzwerk« übertrieben. War die Formulierung mehr als das Wunschdenken einer im Laufe der Zeit weitgehend isolierten Dreierbande, die als kleine Zelle agierte, oder war es der Hinweis auf einen größeren Verbund militanter Neonazis, der bisher allenfalls in seinen Umrissen erkennbar geworden ist? Eines ist sicher, denn dies hat der NSU-Prozess unzweifelhaft zu Tage gefördert: Die Terroristen hatte zahlreiche Helfer. Ob bei der Suche nach einer Wohnung, dem Sammeln von Spenden, der Beschaffung von Mobiltelefonen und Ausweispapieren – es gab genügend braune Kameraden, die dem Trio zur Seite standen – vor allem zu Beginn ihres Lebens im »Untergrund«. Umstritten oder weniger offensichtlich ist, wie viel und was genau diese Helfer jeweils wussten und wie weit die Unterstützung und die Einbindung in die Terrorpläne ging.

Noch immer führt der Generalbundesanwalt mehrere Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Unterstützer des NSU, eines davon läuft gegen Unbekannt. Allerdings sieht es aktuell nicht danach aus, als könnte es demnächst noch weitere Anklagen geben. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass die Verfahren gegen etliche Beschuldigte eingestellt werden, weil die Taten entweder schon verjährt oder aus Sicht der Ermittler vor Gericht nicht schlüssig nachzuweisen sind. Und wie energisch in Zukunft noch Spuren verfolgt werden und weiter gegen »Unbekannt« ermittelt wird, ist fraglich.

Im NSU-Prozess sind außer Zschäpe vier Männer verurteilt worden, unter anderem zwei Helfer, die dem NSU die Česká-Pistole mit Schalldämpfer beschafft hatten, mit der neun der zehn Morde begangen wurden. Doch die Urteile gegen die Helfer fielen insgesamt milde aus, das gilt vor allem für einen engen Vertrauten des Trios, der ebenfalls in Zwickau gewohnt hatte und der seine rechtsextreme Gesinnung mit großflächigen Tätowierungen auf dem Körper nachhaltig zum Ausdruck brachte. Aus Sicht des Gerichts war ihm kaum etwas nachzuweisen, obwohl die Ankläger des Generalbundesanwalts in ihm sogar ein mögliches viertes Mitglied des NSU zu erkennen meinten. Bis auf Zschäpe sitzt keiner der anderen Verurteilten des NSU-Verfahrens mehr im Gefängnis.

Im NSU-Prozess traten außer den Angeklagten reihenweise Neonazis auf, als Zeugen mit teilweise erstaunlicher Gedächtnisschwäche. Einige trugen zudem ihre Verachtung für das Gericht und den Rechtsstaat offen zur Schau. Wie unter einem Brennglas war im Gerichtssaal das Elend eines Landes zu sehen, das auch nach 1945 den Nationalsozialismus nie ganz abzuschütteln vermochte. Für die Überlebenden des NSU war der Prozess erschreckend und enttäuschend (siehe den Beitrag von Ramm).

Trotz zahlreicher Morde und Anschläge, die Rechtsextremisten in der Bundesrepublik verübt hatten, herrschte in den Behörden lange Zeit die Vorstellung, zu organisiertem Terrorismus und einem dauerhaften Leben im Untergrund wären Neonazis nicht in der Lage. Für eine »braune RAF« würden die Konzepte, die Köpfe und die Strukturen fehlen. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung war das Bild dumpfer Glatzköpfe verbreitet, die im Suff zuschlagen, sonst aber wenig auf die Reihe bekommen. Es war ein Zerrbild. Denn stets hatte es auch strategische Köpfe, straff organisierte Kameradschaften und militante rechte Zellen gegeben, die gezielt auf einen Umsturz hinarbeiteten und vorausschauend Anschläge auf »Ausländer« und Andersdenkende begingen. Als 2011 die Existenz des NSU öffentlich bekannt wurde, wirkte es wie eine historische Zäsur, weil nun sichtbar wurde, was schon lange verdeckt existiert hatte. Doch so geheim und unerkennbar waren die Umtriebe der Neonazis in Deutschland eigentlich gar nicht gewesen.



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