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5 Sich eine eigene Meinung bilden

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Standen im letzten Abschnitt demokratische Grundhaltungen und argumenative Kompetenzen im Vordergrund, geht es im Weiteren um die persönliche Meinungsbildung der Lernenden. Angenommen wird, dass es ein Ziel des Unterrichts sein sollte, die Lernenden in der Entwicklung einer eigenen Meinung zu unterstützen. Dies setzt voraus, dass Positionen zu vernünftigerweise kontroversen Fragen nicht direktiv vermittelt werden (3), erschöpft sich aber nicht darin, sondern erfordert darüber hinaus ein aktives Bemühen um pädagogische Arrangements, die die freie Meinungsbildung ermöglichen. Die Frage ist, inwiefern diesem Ziel gedient ist, wenn die Lehrperson ihre Meinung äußert.

Hier könnte man zunächst fragen, was es heißt, eine »eigene« – oder »authentische« – Meinung zu bilden. Um dieser Ausdrucksweise einen Sinn abzugewinnen, muss man sich mit einem bescheidenen Verständnis von Authentizität zufriedengeben, wie es etwa in der neueren Autonomiedebatte verwendet wird (vgl. Christman 2009): Authentisch ist die Meinung einer Person nicht nur dann, wenn sie diese selbst entwickelt oder erfunden hat. Ihre Meinung kann authentisch sein, auch wenn andere die gleiche Meinung haben. Man kann sich eine Meinung aneignen, indem man sich mit ihr identifiziert. So gesehen ist es durchaus möglich, eine Meinung aus dem sozialen und kulturellen Umfeld – z. B. von der Lehrperson – zu übernehmen und sie zu seiner eigenen zu machen. Hat eine Meinungsäußerung der Lehrperson die Wirkung, dass ihre Position von Lernenden adoptiert wird, ist nicht notwendigerweise von einer unberechtigten Beeinflussung der Lernenden auszugehen.

Allerdings scheint klar, dass nicht jede Form der Identifikation mit einer Meinung deren Authentizität sicherstellt: Meinungen können Lernenden aufgezwungen oder aufgedrängt werden. Ein Unterricht, in dem manipuliert oder indoktriniert wird, wird kaum dazu führen, dass Auffassungen, die die Lernenden annehmen, »ihre eigenen« sind. Allerdings ist es schwierig, Formen von Indoktrination oder Manipulation klar von unproblematischen Unterrichtsmethoden zu unterscheiden (vgl. Drerup 2018). Wie gesagt, ist der gewöhnliche Unterricht von Asymmetrien und Abhängigkeiten bestimmt, und Lernende sind dadurch besonders geneigt, sich den Vorgaben der Lehrperson zu unterwerfen. Trotz des machtförmigen Charakters von Unterricht scheint es jedoch möglich, eine Atmosphäre zu schaffen, in denen Lernende ihre Auffassungen in freier Weise artikulieren und entwickeln können.

Sieht man Auffassungen zu vernünftigerweise umstrittenen Fragen als begründbar an, ist klar, dass die Meinungsbildung mit dem Prüfen von Gründen einhergehen muss. Man könnte hier noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass einzelne Meinungen nicht isoliert zu betrachten, sondern mit anderen Meinungen – und letztlich dem gesamten System der eigenen Werte und Überzeugungen – in Verbindung gebracht werden sollten: Eine Meinung, die nicht zu den Meinungen passt, die jemand bereits hat, ist demnach nicht wirklich »ihre eigene«. Authentizität entsteht, wenn verschiedene Positionen, die jemand übernommen hat, aufeinander abgestimmt und zu einem mehr oder weniger kohärenten Ganzen gebildet werden. So ergibt sich ein normatives Selbstverständnis, das der Person Handlungsorientierung verschafft und sie in die Lage versetzt, sich neu auftretenden Problemen zu stellen. Sie kann sich zu diesen Themen eine Meinung bilden, die auf bisherige Auffassungen abgestimmt ist, möglicherweise aber auch gewisse Aspekte des bestehenden Selbstverständnisses modifiziert. Folgt man dieser kohärentistischen Auffassung von Authentizität, kann das Ziel von Unterricht darin gesehen werden, Prozesse der Entwicklung eines kohärenten Selbstverständnisses zu ermöglichen und anzuleiten. Dies kann etwa zu Unterrichtskonzepten führen, die die Behandlung der Sterbehilfe mit der Diskussion verwandter ethischer Fragen verknüpft und die Lernenden so dazu anregt, ihre Auffassungen zu verschiedenen Fragen miteinander in Verbindung zu bringen: Wie etwa verhalten sich die Einstellungen, die Lernende zum Suizid Jugendlicher haben, zu ihren Meinungen über Suizidbeihilfe oder aktive Sterbehilfe?

Es ist klar, dass Meinungsäußerungen der Lehrperson solche Prozesse in manchen Situationen stören oder zumindest nicht unterstützen. Allerdings kann es gute Gründe geben, zur Förderung der Meinungsbildung mit der eigenen Meinung nicht zurückhalten. Meine zentrale Überlegung zu diesem Thema hat Ähnlichkeiten mit Hands Argumentation für das epistemische Kriterium: Nach Hand (2008) sollen epistemisch geklärte Fragen direktiv vermittelt werden, weil sich bei den Lernenden ansonsten die Auffassung einschleichen könnte, dass Argumente nicht von entscheidender Bedeutung seien. Im vorliegenden Fall stehen nicht epistemisch geklärte Fragen im Mittelpunkt, sondern solche, auf die es vernünftigerweise unterschiedliche Antworten geben kann. Verhält sich die Lehrperson in diesen Fragen strikt neutral, kann dies den Anschein erwecken, als könne man sich dazu keine begründete Meinung bilden.

Zum einen könnten Lernende den Eindruck gewinnen, dass es nicht vertretbar ist, in solchen Fällen eine eigene Meinung zu haben, da diese stets rational infrage gestellt werden kann. Manche der Lernenden werden geneigt sein, ein ausgewogenes Verständnis des jeweiligen Problems anzustreben, in dem Pro- und Kontraargumente einander gegenübergestellt werden, es aber nicht zu einem persönlichen Positionsbezug kommt.

Zum anderen könnte sich die Sichtweise durchsetzen, dass persönliche Meinungen aufgrund einer arbiträren Festlegung entstehen, die nicht weiter begründbar ist. Lernende haben in diesem Fall vielleicht keine Mühe, eine eigene Meinung zu bilden, sehen aber nicht ein, dass sie diese verständlich machen und begründen sollten. Sie betrachten Diskussionen primär als Meinungsaustausch, nicht als Prozess des gemeinsamen Abwägens von Gründen.

Indem die Lehrperson ihre Meinung mitteilt und mit Gründen unterstützt, modelliert sie, was vernünftige Meinungsbildung bedeuten kann. Dabei verdeutlicht sie, dass ihre Meinung nicht die einzig vernünftige ist, macht aber auch klar, warum sie von ihrer eigenen Meinung dennoch überzeugt ist. Sie will die Lernenden nicht von ihrer Meinung überzeugen, sondern sie zur Entwicklung ihrer eigenen Meinung und ihres gesamten Systems von Werten und Überzeugungen anregen.

Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen?

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