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3.3 Irreduzible Perspektivität

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Die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit, so habe ich argumentiert, schließt ein Durcharbeiten von Differenzerfahrungen ein, die sich in der Konfrontation des Einzelnen mit einer widerständigen Welt einstellen. Zugespitzt formuliert: Bildung meint ein Sich-Verhalten zur Welt. In einem erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch gewinnt die Widerständigkeit der Welt u. a. dadurch Gestalt, dass Schüler/innen dazu veranlasst werden, eigene und fremde Positionen in theoretischen und praktischen Fragen einer Prüfung auf Überzeugungskraft hin zu unterziehen, um schließlich der am besten begründeten Position zu entsprechen – was freilich immer auch bedeuten kann, eine bereits entwickelte Festlegung zugunsten einer besser begründeten Alternative revidieren zu müssen.

An dieser Stelle gilt es zu unterscheiden zwischen Fragen, auf die heute nur eine Antwort gegeben werden kann, die der kritischen Prüfung standhält, und Fragen, im Falle derer verschiedene gut begründete Antworten miteinander konkurrieren. Die Differenz von Erkennen und Ermessen erlaubt es, diesem Umstand aus pädagogischer Warte Rechnung zu tragen (vgl. Ballauff 1993, S. 5). In Bezug auf die hier behandelte Problemstellung kann diese Unterscheidung wie folgt ausgelegt werden: In einem erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch sollen die Schüler/innen erkennen, was auf dem heutigen Stand des Wissens feststeht – mögen in der Öffentlichkeit bisweilen auch alternative Positionen offeriert werden (z. B. die Position, dass der Klimawandel doch nicht durch den Menschen bedingt sei). Sie sollen hingegen in Fragen ermessen, die auf dem heutigen Stand des Wissens als offen betrachtet werden müssen – mögen in der Öffentlichkeit auch vermeintlich allein richtige Antworten verkündet werden (z. B. dass Sterbehilfe klarerweise als moralisch verwerflich angesehen werden müsse). Im ersten Fall ist Unterricht darauf bezogen, Schüler/innen dabei zu helfen, an einer »geschichtlich erreichten Gedanklichkeit« (ebd.) zu partizipieren, die anzeigt, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gewusst wird. Im zweiten Fall ist Unterricht darauf gerichtet, Schüler/innen darin zu unterstützen, einen »Gedankenkreis« zu entwickeln, »der Widersprüche und Infragestellungen nicht ausschließt«, sondern »um sie weiß«, und den Heranwachsenden die Möglichkeit zu eröffnen, unter den Bedingungen einander widerstreitender Positionen »einen eigenen Weg zu finden und zu gehen« (ebd., S. 4).

Diese Überlegung kann präzisiert werden, indem wir uns einer Grundunterscheidung der Komplexitätstheorie bedienen – nämlich der Differenz zwischen komplizierten und komplexen Problemstellungen (vgl. Rucker & Anhalt 2017, S. 23ff.). Diese Unterscheidung erlaubt es, zwischen verschiedenen Arten von Kontroversen zu differenzieren, auf die in einem erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch auf jeweils spezifische Art und Weise reagiert werden sollte.

Es gibt öffentliche Kontroversen, die nur deshalb bestehen, weil in der Öffentlichkeit Positionen eingenommen werden, deren Protagonisten sich gegenüber besser begründeten Positionen immunisieren und nicht anerkennen, dass es auf eine bestimmte Frage aktuell nur eine Antwort gibt, die der kritischen Prüfung standhält und in diesem Sinne als Wissen bezeichnet werden kann. Die Problemstellungen, um die sich solche Kontroversen drehen, können als kompliziert bezeichnet werden. Komplizierte Probleme sind solche, im Falle derer Regeln bekannt sind, um ein gegebenes Problem zu lösen. Der Einsatz dieser Regeln ist jedoch nicht störungsfrei möglich – z. B. deshalb, weil eine Person oder eine Personengruppe die Regeln nicht kennen, oder deshalb, weil die Situation den Einsatz der Regeln nicht zulässt. Hiervon sind öffentliche Kontroversen zu unterscheiden, in deren Zentrum komplexe Problemstellungen stehen. Komplexe Probleme sind solche, im Falle derer keine Regeln bekannt sind, um ein gegebenes Problem zu lösen – auch nicht auf der Seite der Expert/innen. Kontroversen, in deren Zentrum komplexe Probleme stehen, können nicht dadurch aufgelöst werden, dass auf eine übergeordnete Regel rekurriert wird, die den Vorzug einer der miteinander konkurrierenden Positionen – und damit zugleich die Zurückstellung aller restlichen Optionen – allgemeinverbindlich rechtfertigen könnte. Entsprechend besteht die Möglichkeit, eine Position mit Alternativen zu konfrontieren, für die ebenfalls gute Gründe sprechen, ohne dass ein bester Grund zur Verfügung steht, der eine Wahl gleichsam ›hieb- und stichfest‹ rechtfertigen könnte.

Es wäre widersinnig, Bildung als ein Sich-Verhalten zu einer widerständigen Welt zu begreifen, Heranwachsende dann aber nicht mit dem Umstand zu konfrontieren, dass in einer bestimmten Frage nur eine Position als richtig angesehen werden kann. Schüler/innen in eine entsprechende Kontroverse einzuführen und dabei so zu tun, als stünde die richtige Position nicht schon fest, unterminiert den Anspruch, Heranwachsenden die Teilhabe an einer ›geschichtlich erreichten Gedanklichkeit‹ zu ermöglichen, und würde zumindest Gefahr laufen, dazu beizutragen, dass diese ihr Leben befangen in Täuschungen führen lernen. Bildung meint aber gerade nicht, in Täuschungen befangen zu sein, sondern schließt vielmehr mit ein, Einsicht in den heutigen Stand des Wissens in einem Bereich zu gewinnen. Bildung zu ermöglichen, bedeutet deshalb immer auch, Heranwachsenden dabei zu helfen, ihr Leben im Lichte sachlicher Einsichten zu führen. In all den Fällen, bei denen wir auf Wissen zurückgreifen können, d. h. auf Beschreibungen, die nicht sinnvoll bestritten werden können, sollte Unterricht deshalb direktiv ausgerichtet sein.

Es wäre aber ebenso widersinnig, Bildung als ein Sich-Verhalten zu einer widerständigen Welt zu verstehen, Heranwachsende dann aber nicht in die Vielheit gut begründeter Positionen einzuführen. Schüler/innen zu einer spezifischen Position zu führen, obgleich es vernünftige Alternativen hierzu gibt, ist nämlich nur dadurch möglich, dass das Sich-Verhalten von Heranwachsenden unterbunden, d. h. ihnen die Möglichkeit vorenthalten wird, im Lichte jeweils gut begründeter Alternativen Stellung zu nehmen. Da im Falle von komplexen Problemstellungen keine Position mit einem Argument aufwarten kann, das absolute Durchschlagskraft besitzt, wird eine solche Erziehung zu Methoden und Mitteln greifen müssen, die das Sich-Verhalten von Schüler/innen unterminieren, um diese dazu zu veranlassen, eine bestimmte Position für gerechtfertigt zu halten (Alternativen werden verschwiegen, Positionen werden ›verzerrt‹ dargestellt, eine Person soll mittels Sympathie zur Übernahme einer Position bewogen werden etc.). Damit wird der Anspruch unterminiert, Heranwachsenden dabei zu helfen, im Lichte widerstreitender Positionen einen ›eigenen Weg zu finden und zu gehen‹. Bildung meint aber gerade nicht, Positionen unbefragt zu akzeptieren, sondern impliziert eine Prüfung von Geltungsansprüchen. Bildung zu ermöglichen, bedeutet deshalb, das Sich-Verhalten zur Welt gerade nicht zu unterminieren, sondern – im Gegenteil – zu ermöglichen. In all den Fällen, bei denen es verschiedene Positionen gibt, die jeweils mit guten Gründen vertreten werden können, sollte Unterricht deshalb nichtdirektiv ausgerichtet sind.

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