Читать книгу Karrieren der Gewalt - Группа авторов - Страница 24

Innenansichten und Mythenbildungen

Оглавление

In den sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Vernehmungen Bergmanns werden zwei Strategien sichtbar: der Versuch, die ‚unpolitische‘ Kriminalpolizei von der ‚verbrecherischen‘ Gestapo abzugrenzen, und der Versuch, das Positive im eigenen Verhalten herauszustreichen. So gab Bergmann seine Tätigkeit in der Abteilung A IV nicht an; er behauptete auch, von Sandberger abgelehnt worden zu sein, weil er nur Volksschulbildung hatte.48 Die Korrespondenz zwischen ihm und Sandberger nach dessen Wegversetzung ist allerdings in sehr herzlichem Ton gehalten.49 Bei den Versuchen, über seine guten Taten zu berichten, ging Bergmann nicht sehr geschickt vor. So weisen Geschichten, im Gefängnis Reval für Ordnung gesorgt zu haben und beim Rückzug die Exekution versehrter russischer Kriegsgefangener verhindert zu haben,50 auf Zuständigkeiten außerhalb des Tätigkeitsfeldes eines Leiters A V hin. Auch reflektieren Bergmanns Aussagen die alten Begriffsmuster, nach denen in „Dirnen“ und „ehrbare Frauen“ unterteilt wurde,51 und Exekutionen durch Anordnung von ‚oben‘ gerechtfertigt waren,52 während das Verhalten eines KdS-Angehörigen, der Unzucht mit Gefängnisinsassen beging, als äußerst verwerflich angesehen wurde.53 Bergmann zeigte keinerlei kritische Selbstreflexion, sondern faßte seine Tätigkeit mit den Worten zusammen: „Ich habe überhaupt während meiner gesamten Dienstzeit in Estland und während des Krieges, überhaupt überall, wo ich konnte, nur Gutes getan, habe niemanden erschossen, keine Erschießungsbefehle erteilt, sondern das Los der Häftlinge im Gefängnis erleichtert, wo ich nur konnte.“54

Gleich nach dem Ende der NS-Zeit begann die Bildung von historischen Mythen, in der Hauptsache verursacht durch Selbstentlastungsversuche von Tätern. Sandberger hat dazu wesentlich beigetragen. So versuchte er, seine Verantwortlichkeit für die Ermordung der estnischen Juden wegzuerklären, indem er die Schuld zum Teil einem Untergebenen, zum Teil dem HSSPF Friedrich Jeckeln zuschob, der die angeblichen Versuche Sandbergers, die Juden in Pleskau in Sicherheit zu bringen, unterlaufen und deren Erschießung befohlen habe. 55 Dies wird zwar durch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hamburg widerlegt,56 ist aber der Grundstock für eine Reihe ähnlicher Legenden geworden, in denen Jeckeln, der sicherlich einer der einflußreichsten NS-Täter gewesen ist, zu einem Popanz aufgebaut wird, der durch seine brutale Vorgehensweise seine Untergebenen zur Teilnahme an Verbrechen gezwungen habe. 57 Bergmann, der nach dem Kriege in Kontakt mit Sandberger stand, bediente sich derselben Konfiguration und versuchte mit dem Hinweis auf Befehle von Jeckeln und den Befehlsnotstand, die Schuld an der Exekution der 243 ‚Zigeuner‘ in Harku von sich abzuwälzen.58

Mythenbildung beschränkt sich allerdings nicht auf die Verteidigungsstrategien von NS-Tätern, sie befindet sich in steter Weiterentwicklung. Ein jüngeres Beispiel ist die Annahme, daß Nationalsozialisten wie Bergmann die Aufnahme in das BKA auf Grund von ungebrochenen ideologischen Kontinuitäten und Manipulationen alter Kameraden gelungen sei.59 Diese These läßt einmal den Kenntnisstand der Zeit außer Acht. So hatte selbst die 5. US-Armee 1945 eine Ermittlung gegen den Leiter der Abteilung IV beim KdS Bozen dem ehemaligen Leiter der Abteilung V übertragen – offenbar in der Annahme, in diesem einen unpolitischen Kriminalisten vor sich zu haben.60 Zudem verstellt diese Art von Verschwörungstheorie eher den Blick auf die wesentliche Frage, warum es entgegen den Absichten zumindest der alliierten Behörden zur Wiederbeschäftigung von Leuten wie Bergmann gekommen ist.

Zur Mythenbildung wurde auch von den Gegnern und Opfern der Nationalsozialisten beigetragen. Wie erwähnt, erhoben einige der Überlebenden der Deportationen von 1942 schwerste Vorwürfe gegen Bergmann. Die Zeuginnen beschuldigten ihn, die Selektion bei der Ankunft ihres Zuges geleitet und sehr häufig im Lager Jägala, im Gefängnis Reval und an ihrem Arbeitsort, der Schiffswerft, inspiziert zu haben. Schließlich sei er auch in den Arbeitslagern des KL Vaivara aufgetaucht und habe dort wieder selektiert.61 Einige Teile dieser Aussagen sind mit dem Verhalten eines übereifrigen Sicherheitspolizisten vereinbar, aber spätestens die zu Vaivara zeigen, daß es sich um ein Phantasiekonstrukt handeln muß.62 Nach Aussage eines ehemaligen Vorarbeiters auf der Werft in Reval wurde von den Häftlingen zwar schon damals von einer Autoritätsfigur namens Bergmann gesprochen;63 zum wirklichen Verständnis aber muß man den Vorgang in Beziehung zu dem 1961 in Tallinn abgehaltenen Schauprozeß gegen den ehemaligen Leiter der estnischen Sicherheitspolizei, Ain Mere, und andere setzen. Konkret betraf der Prozeß hauptsächlich Ralf Gerrets, einen der Verantwortlichen für den Massenmord an den Deportierten des Jahres 1942. Darüber hinaus bestand die Absicht, die estnische Emigration und den westlichen Imperialismus zu denunzieren und die Sowjetunion zu legitimieren.64 Eine symbolische Hauptfigur neben Mere war Bergmann. Es ist anzunehmen, daß die schon zur Kriegszeit zirkulierenden vagen Informationen über Bergmann infolge des Mere-Prozesses konkretisiert und emotional aufgeladen wurden. Die Aussagen gehen im Kern auf tschechische Überlebende zurück, die als Zeugen in diesem Prozeß gehört wurden und ihre Erfahrungen später in Israel lebenden früheren Mithäftlingen mitteilten.65 Einige der Komponenten des Konstrukts ‚Bergmann‘ können zugeordnet werden,66 aber dieses ist mit der real existierenden Person Heinrich Bergmann nicht deckungsgleich.

Anmerkungen

1 BAB, BDC, SSO Heinrich Bergmann; Vern. dess. v. 1.6.1960, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 2, Bl. 457ff.

2 Lebenslauf dess. (undat.), BAB, BDC, SS0 Heinrich Bergmann.

3 Vern. Bergmann v. 1.6.1960, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 2, Bl. 457ff.

4 Beurteilungsbogen v. 1940, BAB, BDC, SS0 Heinrich Bergmann.

5 Die Ortsnamen werden jeweils zeitgenössisch geschrieben.

6 In Estland wurden die deutschen Abteilungen der Sicherheitspolizei mit A gekennzeichnet, die estnischen mit B.

7 Beförderungsvorschlag Kripo-Leitstelle Stuttgart an RSHA v. 24.5.1943, BAB, BDC, SS0 Heinrich Bergmann; Rundschreiben KdS Reval v. 18.5.1943, ERA, R 819/1/11.

8 Geschäftsverteilungsplan KdS Reval v. 18.3.1944, ERA, R 819/2/2.

9 Vgl. Ruth Bettina Birn: Collaboration with Nazi Germany in Eastern Europe: the Case of the Estonian Security Police, in: Contemporary European History 10 (2001), S. 181–198.

10 Vern. Wilhelm K. v. 3.12.1968, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 7, Bl. 1508ff.

11 Er wurde 1943 vom Obersturm- zum Hauptsturmführer befördert; die anderen Abteilungsleiter waren meist Sturmbannführer.

12 Vern. Karl Tschierschky v. 22.11.1966, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 6, Bl. 1103ff.

13 BAB, BDC, SSO Heinrich Bergmann; Vern. dess. v. 1.6. 1960, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 2, Bl. 457ff.

14 BKA, Personalveränderungen (undat.); Dullien/BKA an BMI v. 3.4.1956; BKA an BMI v. 4. 4.1956, alle BAK, B 106/11.396; BKA an BMI v. 28.12.1961, BAK, B 106/11.398.

15 Geschäftsverteilungsplan v. 1.1.1958, BAK, B 131/223; ein Vorname wird nicht angegeben.

16 BKA an BMI v. 23.12.1958; BMI an BKA v. 26.11.1958; Nachweis der Karteikarten (undat.); BKA an BMI v. 5.1.1959, alle BAK, B 106/11.398.

17 Dazu BAK, B 106/11.396, 11.398,15.631, 15.661, 17.281, 21.192, 21.196; zwei ehemalige Kollegen Bergmanns beim KdS Reval waren ebenfalls beim BKA angestellt: Dr. Georg Fischer und Heinrich Erlen.

18 Dr. Hagemann/BMI an A.F. Pabsch/US-Liaison, Anlage Ausarbeitungen Georg Schräpel und Josef Kössl v. 3.2.1951, BAK, B 106/15.661.

19 Das Verfahren gegen Sandberger wurde wegen dessen Verurteilung in Nürnberg und dem Überleitungsvertrag nicht wiederaufgenommen.

20 Wie Anm. 9.

21 Der Selbstschutz (Omakaitse) basierte auf einer milizartigen Organisation der estnischen Republik, Kaitseliit genannt; im Sommer 1941 flohen zahlreiche Esten in die Wälder; von diesen „Waldbrüdern“ ging dann der Aufbau von Widerstandsgruppen aus.

22 Vermutlich von Juli bis August 1942, am Jahresende 1942 und von Frühjahr bis Frühsommer 1943.

23 Eine besonders auf Bergmann zugeschnittene Dokumentensammlung befindet sich im BAL, Dok.Slg. Verschiedenes 78, Bl. 67–208.

24 Zur Planung KdS Reval an BdS Ostland v. 21.9.1942; dto. v. 3.12.1942, beide ERA, R 819/2/3.

25 Das würde erklären, warum der Transport als „Handwerkertransport“ geführt wurde, nicht zur Arbeit geeignete Menschen sofort nach Ankunft des Zuges erschossen, die anderen in das Lager Jägala gebracht wurden, BAL, 408 AR-Z 233/59.

26 Das Zentralgefängnis hieß zu dieser Zeit AEL Reval; Sandberger hatte am 23.7.1942 die von der Sicherheitspolizei betriebenen und bisher als KL bezeichneten Lager in AEL umbenannt, um sie in seiner alleinigen Zuständigkeit zu halten, Erlaß KdS Reval v. 23.7.1942, ERA, R 819/2/3.

27 Vern. Wilhelm S. v. 4.12.1968, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 7, Bl. 1520ff.; zumindest die Ankunft des Zuges aus Theresienstadt muß im Juli/August organisiert worden sein.

28 Vern. Axel A. v. 12.7.1968; Josef S. v. 3.7.1968; Karl-Hugo Traut v. 9.4. und 4.7.1968; Wilhelm S. v. 4.12.1968; Hans K. v. 8.5.1968, alle BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 7.

29 Vgl. BAL, 408 AR-Z 233/59.

30 Vortrag Bergmann v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11; vgl. dto. „Gefahrenabwehr beim Einsatz ausländischer Arbeiter und Behandlung von Arbeitsverweigerern“ (undat.), ebd.

31 „Die Vorgänge sind als ‚Geheim‘ zu behandeln“, dto. v. 27.5.1942, ebd.

32 Prefektuur Viljandi an unterstellte Polizei v. 7.9.1941, ERA, R 62/1/1.

33 Politische Polizei Narwa an EK v. 3.12.1941, ERA, R 59/1/40.

34 Vortrag Bergmann v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11; vgl. Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996.

35 Prefektuur Dorpat/Politische Polizei an Sicherheitspolizei v. 1.3.1942, ERA, R 60/1/29; Vorschlag Kommission Petschur B IV v. 4.6.1943, ERA, R 63/1/97.

36 Anhang zum Vortrag Bergmann v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11.

37 Viks/B IV an deutsche Sicherheitspolizei v. 30.10.1942, ERA, R 64/1/101.

38 Anordnung Bergmann v. 7.12.1942, ERA, R 59/2/7; aus der Akte geht hervor, daß Ende 1942 eine interne Diskussion über die Verfahrensweise gegen ‚Zigeuner‘ stattfand.

39 KdS Reval A V v. 22.1.1943, ERA, R 59/1/70; Berichte zur Ausführung in ERA, R 59/1/69 und 70 sowie R 63/1/8.

40 Vgl. Korrespondenz zwischen Außenstelle Narwa und KdS Reval A V Dezember 1942 und Januar 1943, ERA, R 59/2/7.

41 Lagerstatistiken, ERA, R 64/1/69; Vorschlag Kommission Petschur v. 4.6.1943, ERA, 63/1/97.

42 Vortrag Bergmann v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11.

43 Dto. „Die Aufgaben der Kriminalpolizei“ (undat.), ERA, R 819/1/11.

44 Dto. v. 27.5.1942, ERA, R 819/2/11.

45 Fallbeispiele ERA, R 64/1, R 64/4, R 819/2.

46 Jahresbericht KdS Reval v. 1.7.1942, ERA, R 819/1/12.

47 Voss, Leiter des Kriminalpolizeiamtes für die Britische Zone: „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, Ausarbeitung v. 20.6.1947, BAK, NL 1265/31; das Kriminalpolizeiamt stellte den Stamm der Bediensteten des späteren BKA.

48 Vern. Bergmann v. 25.1.1966, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 5, Bl. 1057ff.

49 Dr. Sandberger an Bergmann v. 16.5.1944, ERA, R 819/1/1.

50 Vern. Bergmann v. 13.9.1966, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 5, Bl. 1009ff.

51 Dto. v. 1.6.1960, ebd., Bd. 2, Bl. 457ff.; dto. v. 25.1.1966, ebd., Bd. 5, Bl. 1057ff.

52 Dto. v. 30.1.1968, Staw Oldenburg 2 Js 110/66, SB Material aus 85 Js 37/71, Bd. II.

53 Bergmann an Staw Kassel v. 10.11.1967, StAL, EL 317 III, Bd. 778.

54 Vern. dess. v. 13.9.1966, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 5, Bl. 1009ff.

55 Vern. Dr. Martin Sandberger v. 18.2.1960, ebd., Bd. 2, Bl. 209ff.

56 Staw Hamburg 141 Js 220/61; die Geschichte hat aber Eingang in die Literatur gefunden: Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 536; M. Dworzecki: Jewish Camps in Estonia 1942–1944, Jerusalem 1970, englische Zusammenfassung S. V.

57 Weitere Beispiele BAL, 207 AR-Z 246/59; vgl. Herbert Jäger: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Frankfurt/M. 1982, S. 145f.

58 Vern. Bergmann v. 30.8.1961, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 3, Bl. 841f.; dto. v. 30.1.1968, Staw Oldenburg 2 Js 110/66, SB Material aus 85 Js 37/71, Bd. II.

59 Dieter Schenk: Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA, Köln 2001.

60 NARA, RG 492, Entry 41.240, Box 2058, File II.

61 Eine Detaildiskussion muß aus Platzgründen hier unterbleiben; vgl. Vern. der tschechischen u. israelischen Zeuginnen in BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 8; Vern. Eva M. v. 11.11.1968, StAL, EL 317 III, Bd. 781; auffallend ist zudem, daß die Zeuginnen Bergmann alle an Hand des ein- u. desselben Gruppenbilds erkannt zu haben scheinen.

62 Aus den zahlreichen Zeugenaussagen zum KL Vaivara geht eindeutig hervor, daß Selektionen vom SS-Lagerarzt Dr. Bodmann durchgeführt wurden, BAL, 408 AR-Z 233/59.

63 Vern. Fritz H. v. 26.1.1967, BAL, 207 AR-Z 246/59, Bd. 6, Bl. 1134ff.

64 Verfahren gegen Mere u.a., ERA, KGB-Archiv, Fond 129, Nr. 28.653; Propagandaschrift dazu: Raul Kruus: People, be watchful! Tallinn 1962; daß es hier primär nicht um die rechtliche Ahndung von Verbrechen ging, zeigt der Umstand, daß der in diesem Prozeß ‚demaskierte‘ Ralf Gerrets dem KGB schon 1945 als Zeuge zur Verfügung gestanden hatte, vgl. Urteil gegen Priit Toone v. 15.3.1945, ERA, KGB-Archiv, Fall 23.972.

65 Wie Anm. 61.

66 So beziehen sich die Aussagen über einen SS-Führer, der Zellen im Hinblick auf hübsche Häftlingsfrauen inspizierte, vermutlich auf den oben erwähnten Abteilungsleiter A IV, der wegen Unzucht mit Abhängigen verurteilt wurde; zwischen Bergmann und dem Lagerarzt von Vaivara, Dr. Bodmann, besteht eine Namensähnlichkeit.

Karrieren der Gewalt

Подняться наверх