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Sozialisation, Milieu und Gewalt
Fortschritte und Probleme der neueren Täterforschung

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Seit den 1990er Jahren hat sich in Deutschland, nicht zuletzt inspiriert durch die sogenannte Goldhagen-Debatte und die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ sowie finanziell maßgeblich unterstützt von der Volkswagen-Stiftung, eine neue Disziplin innerhalb der NS-Forschung etabliert, der wir zahlreiche innovative Erkenntnisse über die Täter und Täterinnen des Nationalsozialismus zu verdanken haben.1 Mit der Einrichtung einer Forschungsstelle an der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg und der Publikation des ersten Bandes der „Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart“2 hat die Täterforschung in Deutschland nun erstmals auch institutionellen Ausdruck gefunden, scheint das jahrzehntelange Schweigen der deutschen Gesellschaft im allgemeinen und der Geschichtswissenschaft im besonderen bezüglich der Erforschung der Täter des NS-Regimes durchbrochen zu sein.

Von verschiedener Seite sind die Leistungen dieser neuen Forschungsrichtung in der Zwischenzeit gewürdigt worden. Zu den „wichtigsten Entwicklungen in der NS-Forschung der letzten Jahre“ gehört nach Thomas Roth „der Aufstieg der ‚neueren Täterforschung‘“. Sie wende sich „von einer lange Zeit üblichen pathologisierenden oder dämonisierenden Perspektive ab, greift aber auch über eine rein sozialstrukturelle Ortsbestimmung von Tätergruppen hinaus, berücksichtigt generationelle Prägung, Karriereverlauf, Weltbilder und Motivstrukturen und untersucht deren Aktualisierung in der Praxis“.3 „Unter dem Rubrum Täterforschung“, so auch Wolfgang Benz, „etablierte sich eine Nebendisziplin der Holocaustforschung, deren Augenmerk den Strukturen des Verfolgungsapparates, der Bürokratie der Vernichtung (verkörpert durch das Reichssicherheitshauptamt, das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS, die Höheren SS- und Polizeiführer usw.), den Karrieren des Personals der Verfolgung und den Triebkräften des Völkermords jenseits der Ideologie gilt.“4 Für Jost Dülffer hat sich die Täterforschung „als eigenständiges Teilgebiet [der Erforschung des Dritten Reiches] mit Aufstrahlung auf die Gesamtvorgänge hervorragend etabliert“. „Bemerkenswerterweise“ sei es nicht so sehr das neue Quellenmaterial, „sondern die sorgfältige Auswertung der seit langem verfügbaren Bestände“, welche diese „unbezweifelbaren Fortschritte“ ermöglicht habe.5 Nach Bernd Hüppauf zeichnet sich die Täterforschung der letzten Jahre im Vergleich zu älteren Universalthesen über das kollektive Subjekt, etwa die sozialpsychologische Erklärung aus dem „autoritären Charakter“, durch „eine Wendung zum Konkreten“ aus. Es sei erstaunlich, wie wenig bislang über die Täter bekannt geworden sei, was über globale Spekulationen oder die rein juristischen Tatbestände hinausreichte. Wer sich von den Pauschalantworten löse und Rassismus, ideologische Verblendung, autoritären Charakter oder Verrohung nicht mehr als endgültige Antworten gelten lasse, wolle mehr wissen. Die neue Täterforschung habe zudem „die Chance, die Verbindung zur eigenen Gegenwart nicht zu verlieren. Die ordinary men sind uns nicht so fern wie etwa die Vertreter des Bösen, wie die Dämonen in schwarzer Uniform und Lederkoppel, wie die Charaktermasken, die 1945 in kürzester Zeit abgestreift wurden.“6 Deutlich zurückhaltender urteilt der Nestor der deutschen NS-Forschung. Für Hans Mommsen hat die in den letzten Jahren vollzogene Hinwendung zu den Direkttätern gleichwohl „unbestreitbar das Verdienst, das extreme Ausmaß der Kriminalisierung der NS-Gesellschaft“ aufgedeckt und die biographischen Hintergründe der Shoah wie der Verbrechen des Regimes aufgeschlüsselt zu haben. Dabei zeichnet sich nach Mommsen ab, „daß es keinen einheitlichen Tätertypus gab und vielmehr eine Fülle sehr unterschiedlicher Motive und Dispositionen die Einzelnen dazu bewog, sich den kriminellen Zumutungen des Regimes zu fügen, ja sie schließlich aktiv umzusetzen“.7

Ins Zentrum der neueren Forschungsbemühungen rückt gegenwärtig die Frage nach dem Verhältnis von Intention, Disposition, sozialer Praxis und situativer Dynamik von Gewalt. „Nicht die Annahme eines dominanten Tätertypus wird den Weg der künftigen Forschung weisen“, so Michael Wildt, „als vielmehr die Analyse des Zusammenhangs verschiedener Akteure und Institutionen, von intentionalem Vernichtungswillen und strukturellen Bedingungen, von Ideologie und Funktion, von individuellem Vorsatz und situativer Gewaltdynamik.“8 „Mit gruppenbiographischen, statistischen und handlungs- oder motivationstheoretischen Ansätzen“, so zuletzt Habbo Knoch, habe man begonnen, „das Verhältnis von Dispositionen, Handlungsräumen und Täterschaft insbesondere für solche unmittelbar beteiligten Gruppen genauer zu sondieren“.9 Perspektivisch gehe es darum, „das Zusammenwirken unterschiedlicher Profile von Täterinnen und Tätern in gruppenbiographischen Längsschnitten zu untersuchen und gerade nicht von nur einer Erklärungsfolie auszugehen“. Darüber hinaus bedürfe es methodischer Erweiterungen, „um über exemplarische Biographien der Elite der Täterinnen und Täter hinaus die Gewaltdynamik ‚von unten‘ näher ausleuchten zu können“.10

Anders als die Debatte über die provozierenden Thesen Daniel Jonah Goldhagens kommt der aktuelle Diskurs über die Täter weniger spektakulär und öffentlichkeitswirksam, dafür aber wissenschaftlich um so ertragreicher daher. Dies gilt etwa für die im Juni 2001 anläßlich des 60. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Haus der Wannsee-Konferenz durchgeführte Konferenz, deren Beiträge unter dem Titel „Täter im Vernichtungskrieg“ publiziert wurden,11 das zweite Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte zum Thema „Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?“ vom Oktober 2001,12 die ebenfalls in diesem Monat durchgeführte Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zum Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS13 sowie die gemeinsam vom Deutschen Historischen Institut in Warschau und dem Institut des Nationalen Gedenkens im November 2002 organisierte „International Conference on the 60th Anniversary of the Extermination of the Jews in the General Government“ in Lublin.14 Dies gilt auch für die Publikation des gewichtigen Werkes von Michael Wildt über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes,15 für den Sammelband „Entgrenzte Gewalt“16 mit gruppenbiographischen Studien zur frühen SA und zum KL-Personal, für die grundlegende Aufsatzsammlung zur weltanschaulichen Schulung von SS und Polizei17 ebenso wie für die Biographien zum Führungspersonal der SS.18 Erfreulicherweise hat auch die Erforschung des Verhältnisses von Wehrmacht und Vernichtungskrieg deutliche Fortschritte gemacht und sich konkreten Tätern und Tatorten zugewandt.19 Gleichsam als ‚Ableger‘ der neueren Täterforschung wird auch die Untersuchung des gesellschaftlichen und juristischen Umgangs der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit den NS-Tätern sowie die Konstruktion der Täter-Bilder im öffentlichen Diskurs derzeit verstärkt zum Gegenstand von Tagungen20 ‚ Forschungsprojekten21 und Publikationen22.

Ob sich indessen mit Rekursen auf Sigmund Freud und Alexander Mitscherlich, auf Theodor W. Adorno und Jan Philipp Reemtsma – so geschehen auf einer Tagung von Psychologen und Politikwissenschaftlern 2001 in Hannover – die Fragen der neueren Täterforschung klären lassen, erscheint eher fraglich.23 Das sozialpsychologische Schwadronieren über die Täter, über Regressionen, zerfallendes Über-Ich und die Metaphorik des Todestriebes sowie die völlige Ignoranz gegenüber der bisherigen Täterforschung24 markieren die unvermeidbaren Abwege und Sackgassen der neueren Diskussion. Mit Sätzen wie „Die Tötungsmaschinerie von Auschwitz erscheint als die kollektive Entfesselung eines Todestriebes“25 fallen die Autoren hinter das Niveau der 1960er Jahre zurück.

Daß aber auch die Vertreter der älteren Täterforschung mit den neuen Ansätzen ihre Schwierigkeiten haben, wird exemplarisch an Hans Mommsen deutlich. Ihm zufolge lasse der gegenwärtig gebräuchliche Begriff des Täters zu sehr die weltanschaulichen Eliten in den Hintergrund treten, „obwohl erst sie die politischen und mentalen Bedingungen schufen, unter denen die Täter ihr Mordhandwerk verrichteten“.26 In dieser Kritik Mommsens schwingen zwei traditionelle Deutungsmuster der älteren NS-Forschung mit: zum einen das überholte Exkulpationsbild, mit dem die Direkttäter als letztlich willenlose Objekte einer bei Hitler beginnenden Befehlskette ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen versuchten; zum anderen die Vorstellung, der Völkermord an den Juden lasse sich ausschließlich als Reflex der ‚oben‘ gefaßten Beschlüsse verstehen.

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