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MIKE PLITT

Ihrer Zeit voraus: Rosa Luxemburg und Marie Curie

Zwei in Polen geborene Persönlichkeiten und zwei verschiedene Schicksale: In einer Zeit starker, strukturell gefestigter Geschlechterungleichheit haben mit der Chemikerin Marie Curie (1867–1934) und der Revolutionärin Rosa Luxemburg (1871–1919) zwei außergewöhnliche Frauen mit dem Mut, ihre Kämpfe auszutragen, exponierte Positionen in der Geschichte und Erinnerung eingenommen. Während Curie mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten zu Ruhm gelangte, ist Luxemburg bis heute eine politische Ikone.

Standbild von Marie Curie in Granada.

Skulptur von Rosa Luxemburg, geschaffen von Rolf Biebl, auf dem Franz-Mehring-Platz in Berlin.

„Polen, das heißt nirgendwo.“ Mit diesem Satz leitet der Dramaturg Alfred Jarry in den ersten Akt seines Theaterstücks König Ubu (1896) ein. In diesem lässt er seinen Protagonisten, den windigen François Ubu, nach der Königskrone des zum damaligen Zeitpunkt offiziell nicht existierenden Polens streben. Ausgerechnet aus diesem „Niemandsland“ zogen mit Marie Curie (geborene Skłodowska) und Rozalia „Rosa“ Luxemburg zwei Frauen in die westliche Metropolen Paris und Berlin, um Wissenschaft und Politik, aber auch die Wahrnehmung der Frau nachhaltig zu verändern.

Dass beide von ihrer Persönlichkeit her unterschiedlicher nicht hätten sein können – Marie eher schüchtern, Rosa eher laut –, spielte bei ihrem Aufstieg ins imaginäre Pantheon der Europäer keine Rolle. Beide waren leidenschaftliche Arbeitswütige und mussten es auch sein, um sich gegen die männliche Dominanz ihrer Zeit durchzusetzen.

Ihre Forschung war inspiriert von den Arbeiten Henri Becquerels, der bereits 1896 die natürliche radioaktive Strahlung von Uran nachgewiesen hatte. In mühseliger Kleinstarbeit und unter höchst prekären Bedingungen versuchte Marie zusammen mit ihrem Ehemann, dem Physiker Pierre Curie, die Strahlung auch in anderen Elementen festzustellen, was ihnen mithilfe eines von Pierre konzipierten Elektrometers gelang. Dabei entdeckten sie die bis dato unbekannten Elemente Polonium und Radium und prägten für die gemessene Strahlung den illustrativen Begriff der Radioaktivität.

Für ihre bahnbrechende Arbeit zur Strahlenforschung wurde Marie 1903 in Physik (zusammen mit Pierre und als erste Frau überhaupt) beziehungsweise 1911 in Chemie mit einem Nobelpreis ausgezeichnet, zudem schuf sie mit Traité de radioactivité (1910) ein Standardwerk der frühen Strahlenforschung, das weit über die Grenzen Frankreichs rezipiert wurde. Trotz dieser unbestreitbaren Meriten blieb ihre Kandidatur auf einen Sitz in der Académie des sciences aufgrund institutioneller Engstirnigkeit jedoch erfolglos. Erst 1979 wurde mit der Mathematikerin Yvonne Choquet-Bruhat eine Frau in den illustren Kreis aufgenommen.

Marie selbst ging es dabei nicht um derlei Ruhm, sie war Vollblutwissenschaftlerin und engagierte sich bis an ihr Lebensende für die medizinische Nutzbarmachung der Radioaktivität. In diesem Zusammenhang gründete sie bis heute führende Forschungsinstitute in Paris und Warschau. Durch die langjährige Arbeit mit radioaktivem Material erkrankte sie an Leukämie und verstarb 1934 an den Folgen. Heute ist eines der prestigeträchtigsten EU-Programme zur Mobilitätsförderung von Forscherinnen und Forschern nach ihr benannt.

Auch Rosa wurde ein ähnliches „Märtyrerschicksal“ zuteil. Ihr unermüdlicher Einsatz für eine bessere Welt, insbesondere für die internationale Arbeiterklasse und gegen den zeitgenössischen Bellizismus, brachte ihr mehrjährige Haftstrafen ein, von denen sie sich jedoch nicht beirren ließ. Aus Überzeugung stellte sich die Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands auf die Seite der antimonarchistischen Novemberrevolution von 1918 und wurde in der Folge im Jahr darauf von Freikorpskämpfern ermordet. Der erste Versuch, sich ihres politischen Erbes zu entledigen, ließ nicht lange auf sich warten: Nach ihrer Machtergreifung 1933 verbrannten die Nationalsozialisten Rosas Schriften und machten sich an die Zerstörung des ihr gewidmeten Revolutionsdenkmals.

Zwei Filmfiguren

Beide Biografien bieten spannenden Erzählstoff, der vielfach in Filmproduktionen aufgenommen wurde. In Margarethe von Trottas „Rosa Luxemburg“ (1986) strich die Schauspielerin Barbara Sukowa die Streitlustigkeit ihres Vorbilds heraus und stellte eindringlich die schwierige Beziehung Luxemburgs mit dem Aktivisten Leo Jogiches dar. Im Gegensatz zu Marie, die mit Pierre einen fortschrittlichen Mann an ihrer Seite wusste, war Jogiches vom politischen Aufstieg Rosas eingeschüchtert und flüchtete sich in Affären mit anderen Frauen.

Doch auch Maries Liebesleben wurde überschattet: Nach Pierres Tod begann sie eine Affäre mit dem verheirateten Physiker Paul Langevin, die 1911 öffentlich wurde. Die hemmungslose Berichterstattung der Klatschpresse, die unter anderem aus dem privaten Briefwechsel des Paares zitierte, stilisierte die Wissenschaftlerin zur ausländischen Ehebrecherin und hinterließ einen nachhaltigen Reputationsmakel bei Marie, auch wenn dieser Ausdruck der zeitgenössischen Heuchelei war.

Ihre Rehabilitation erfolgte in den 1920er-Jahren durch die US-Journalistin Marie Meloney, die Maries Forschung durch einen Spendenaufruf unterstützen wollte und sie in diesem Zusammenhang zu einer Vortragsreise in die Vereinigten Staaten einlud. In einer aufwendigen Pressekampagne stellte sie Maries Vita als klassische Erfolgsstory dar und prägte dabei ihr Image als unermüdliche Kämpferin gegen den Krebs. Eine posthume Huldigung erfuhr Marie mit dem Hollywoodspielfilm Madame Curie (1943), der ihre Liebesbeziehung mit Langevin ausließ und stattdessen die Liebe zu Pierre und zur Forschung in den Fokus nahm. Den Höhepunkt ihrer Mythenbildung bildete die feierliche Überführung der Asche Curies ins Pariser Panthéon im Jahr 1995, zu der François Mitterrand auch den polnischen Staatspräsident Lech Wałęsa eingeladen hatte. Dies war eine symbolisch bedeutende Geste, schließlich war Marie selbst in ihrer französischen Wahlheimat zeitlebens an der polnischen Sache gelegen (die Benennung des 84. Elements des Periodensystems als Polonium war Ausdruck ihrer tiefen Verbundenheit mit der Heimat).

Während eine repräsentative Umfrage Marie auf Platz zwei der europäischsten Persönlichkeiten führt, noch vor Charles de Gaulle liegend und nur übertroffen von Winston Churchill1, lässt sich von Rosa kein dermaßen einheitliches und verklärtes Erinnerungsporträt zeichnen. Dass sie ausgerechnet in Polen bis dato kaum bekannt ist, ist nicht nur einem starken Antikommunismus insbesondere nach 1989 geschuldet, sondern hängt auch damit zusammen, dass sie im Gegensatz zu Marie postnational dachte und sich nicht für die polnische Unabhängigkeit engagierte, sondern allgemein für die Befreiung der Arbeiterklasse.

Dennoch ist zu konstatieren, dass Rosa zu den wenigen revolutionären Figuren gehört, deren Rezeption sich nicht auf die 68er Bewegung beschränkt und die den Absturz des real existierenden Sozialismus überlebt hat. Ihr Diktum „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“ stellte eine Bedrohung für die Meinungs- und Repressionsapparate der kommunistischen Parteien östlich der Berliner Mauer dar und setzte sie vom antidemokratischen Ansatz Wladimir Iljitsch Lenins ab. Es ist somit nur logisch, dass, während Lenins Büsten und Statuen nach 1989 fallen, politische Stiftungen und Demonstrationszüge heute Rosas Namen tragen.

Literatur

Gilbert BADIA, Rosa Luxemburg. Journaliste, Polémiste, Révolutionnaire, Paris 1975.

Ève CURIE, Madame Curie, Paris 1938.

Elżbieta ETTINGER, Rosa Luxemburg. Une vie, Paris 1990.

Barbara GOLDSMITH, Obsessive Genius. The Inner World of Marie Curie, New York 2005.

Rosa LUXEMBURG, Briefe aus dem Gefängnis, Berlin 1977.

John Peter NETTL, Rosa Luxemburg, 2 Bde., London/New York 1966.

Ernst PIPER, Rosa Luxemburg. Ein Leben, München 2018.

1 Jean-Noël Jeanneney und Philippe Joutard (Hg.), Du bon usage des grands hommes en Europe, Paris 2003.

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