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Der Hüter der Geheimnisse

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Es ist Aufgabe der Historiker der Esoterik und der Verschwörungstheorien, zu erklären, warum Themen wie die Verschwörung des Geheimbundes der Bruderschaft vom Berg Zion, die in den 1970er-Jahren auf einige rechtsextreme Gruppen beschränkt waren, mit dem Da Vinci Code ein weltweites Echo finden und sich im Bewusstsein der Leser als Tatsachen festsetzen. Brown benutzt dafür einen „Sesam, öffne dich“: Leonardo. Zwar dreht sich die Haupthandlung seines Romans nicht um den Renaissancekünstler, sondern um Jesus Christus und die Idee, die Kirche habe in ihrer gesamten Geschichte auf abscheuliche Weise die Wahrheit des Christentums geheim gehalten. Aber es ist Leonardo, der den Schlüssel zum Geheimnis liefert: Indem er Das letzte Abendmahl „entschlüsselt“, versteht der Professor Langdon, der Held des Romans, das große Geheimnis der Vermählung von Jesus und Maria Magdalena.

Diese Wahl ist natürlich alles andere als zufällig: erstens, weil der florentinische Ingenieur weltweit bekannt und vielleicht der Einzige ist, der allgemein anerkannte universelle Werte wie das individuelle Genie und die kollektive Hoffnung, die wissenschaftliche Neugier und das Ideal der absoluten Kunst verkörpert; zweitens, weil er immer für okkultistische Überinterpretationen anfällig war. Joséphin Péladan, der Gründer der katholischen Rosenkreuzer, hat in den 1880er-Jahren die wesentlichen Züge des imaginären Porträts eines Leonardo als „Hüter der Geheimnisse“ festgelegt. Das Interesse der Renaissancehöfe für die Hermetik und das kulturelle Klima der neoplatonischen Akademie in Florenz, die von Marsilio Ficino bis Pico della Mirandola Astrologie, antike Mystik und jüdische Kabbala mischt, haben Anteil daran, dass Leonardo für den Okkultismus reklamiert wurde. Doch muss man auch das geschickt arrangierte extravagante Auftreten des Mannes in Rechnung stellen, der sich seinen Zeitgenossen als faszinierendes Rätsel präsentierte. „In der überbordenden Anhäufung von derart vielen Vorzügen in einer Person ist etwas Übernatürliches“, schrieb im 16. Jahrhundert Giorgio Vasari.

Deshalb neigt man dazu, das Geheiminis mit Leonardo zu assoziieren. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem die Medien nicht voller Begeisterung berichten, das Rätsel der Mona Lisa sei endlich gelöst. Dabei weiß man seit Vasari, dass Mona Lisa (la gioconda) das Porträt von Lisa del Giocondo ist und es also kein Geheimnis der Mona Lisa gibt – außer für die, die es um des Geschäfts willen aufrechterhalten. Heißt das, dass die Historiker alles über Leonardo wissen? Natürlich nicht. Aber, während die Neugier des Publikums unstillbar und die soziale Nachfrage immer dringlicher zu sein scheint, kommt die Forschung zu Leonardo nur in ganz kleinen Schritten voran.

Seit 30 Jahren verzeichnet man kaum größere Entdeckungen, aber einige Korrekturen an einer Biografie, die in den großen Linien seit Langem etabliert ist. Die Wissenschaftshistoriker haben seinen Beitrag – im Allgemeinen nach unten – revidiert, die Spezialisten in technischen Fragen verorten ihn besser im Gruppenbild der Ingenieure der Renaissance, die Historiker der politischen Macht insistieren stärker auf Leonardos Rolle als Regisseur der prachtvollen Fürstenfeste. Man entdeckt auch von Neuem seine Tätigkeit als Musiker, die man nun besser mit seinen mathematischen Bemühungen in Verbindung zu setzen weiß. Was sein grafisches Werk angeht, wird es dank der unermüdlichen Analysen der Kunsthistoriker, aber auch dank der langsamen und geduldigen Editionsarbeit seiner Manuskripte besser bekannt. So erstaunlich dies auch sein mag, so muss man die offensichtliche Wahrheit in Erinnerung rufen, dass der Grund, warum man Leonardo relativ schlecht kennt, darin liegt, dass es auf der ganzen Welt kaum mehr als zehn Personen gibt, die über die ausreichende Kompetenz verfügen, aus erster Hand die rund 6000 Blätter, die Leonardo der Nachwelt hinterlassen hat, in ihrer Gesamtheit und Komplexität zu verstehen.

Deshalb wohl auch die nicht enden wollende Verfügbarkeit Leonardos für jedwede kollektive Inbesitznahme. Jede Epoche hatte ihren Leonardo: Das klassische Zeitalter verehrte den Maler des Ideals, die Romantik vergötterte den Propheten der Moderne, das Industriezeitalter feierte den Ingenieur, der das Automobil, den Panzerwagen und das Kugellager erfunden hat; die Konsumgesellschaft und die Popkultur mit Andy Warhol 1963 haben aus ihm eine kolorierte Ware gemacht; die digitale Revolution hat aus Leonardo eine Ikone gemacht, weil er, der sich als universellen Künstler sah, ein Vorbote von allem, was die multimediale Kultur an utopischer, unschuldiger und kindlicher Energie in sich trägt, gewesen zu sein scheint. Man bezeichnet ihn wechselweise als Feministen und Vegetarier, Anhänger der Alternativmedizin und der behavioristischen Theorien. Man vergisst dabei den Erfinder von Kriegsgeräten, das schwierige Genie, den Virtuosen des politischen Kalküls. Doch ist das im Grunde unwichtig: Bevor es zu einem europäischen wurde, war das Gedächtnis Leonardos auf Italien beschränkt, da das Europa des 16. Jahrhunderts in seinen politischen Systemen und kulturellen Bestrebungen nur ein vergrößertes Italien war. Es beinhaltet ein universalistisches Ideal, das Europa lange als seinen alleinigen Besitz betrachtete. Deshalb auch seine Ausdehnung auf die gesamte Welt, die die digitale Verbreitung der Bilder Leonardos begleitet. Wen wundert es? Wenn Leonardo die Geschichte seiner sukzessiven Erfindungen ist, so ist sein Gedächtnis dabei, sich unter unseren Augen ein weiteres Mal neu zu erfinden.

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