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Der transnationale Shakespeare

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Die Kriege, die die europäische Geschichte seit dem Beginn der Neuzeit prägen, bieten eine Reihe frappierender shakespearescher Beispiele kollektiven, grenzüberschreitenden, bilateralen und multilateralen Gedächtnisses, das auf erstaunliche Weise oft Freund und Feind miteinander verbindet. Doch sind es die nach dem Krieg angestellten Reflexionen über die vergangenen Kriegsgräuel und die Herausforderungen, die die kriegerischen Auseinandersetzungen für die zivilisatorischen Ideale darstellen, die – besonders seit Beginn des 20. Jahrhunderts – von Shakespeare tendenziell ein deutlich transnationales und explizit europäisches Porträt entworfen haben. Die internationale Karriere Shakespeares zeigt so eine Tendenz, die kleinlichen Rivalitäten zu überwinden und das Schicksal des ganzen Kontinents in Betracht zu ziehen. Shakespeares Rolle in der europäischen Erinnerungs- und Trauererfahrung scheint mit Die Krise des Geistes (1919) von Paul Valéry, in dem dieser den „europäischen Hamlet“ vorstellt, begonnen zu haben: „Und jetzt – auf einem ungeheuren Erdwall von Helsingör, der von Basel bis Köln reicht, der an die Dünen von Nieuwpoort, an die Sümpfe der Somme, an die Kreidefelsen der Champagne und den Granit des Elsaß grenzt, erschaut der europäische Hamlet Millionen Gespenster. Aber er ist ein sehr intellektueller Hamlet. Er meditiert über Sein und Nichtsein der Wahrheiten. […] Greift er nach einem Schädel, so ist es ein erlauchter Schädel […]. Hamlet ist sehr unschlüssig, was tun mit all diesen Schädeln.“

Das Bild, das Valéry von Hamlet entwirft, eröffnet eine Reihe von Betrachtungen über Europa, das Scheitern der europäischen Philosophie und den Niedergang der europäischen Kultur nach dem Ersten Weltkrieg. Zu seinen bemerkenswerten Bewunderern gehörten T. S. Eliot, Ernst Robert Curtius und Jacques Derrida.

Dieses Bild wurde auch von Heiner Müller dekonstruiert, der es übernommen und der Zeit des Kalten Krieges angepasst hat. Seine Hamletmaschine (1977) beginnt mit den Worten: „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“ Die Antwort stimmt hier nicht ganz. Während Paul Valéry die Ruinen eines Europas beschrieb, das vor ihm bis zum Meer reichte, ist der Hamlet des deutschen Dramatikers dem Meer zugewandt und die Ruinen von ganz Europa liegen hinter ihm. Kann man in Müllers Text einen direkten oder indirekten Kommentar zu dem früher beschriebenen Europabild von Paul Valéry sehen? Auf alle Fälle erlaubt es die Wortwahl Müllers dem Leser, zu begreifen, dass Valéry vielleicht nicht wirklich von „Europa“ sprach, dass das Europa, das er sah und beschrieb, nur das Gebiet westlich der Linie Basel–Köln war, was Deutschland (der Weimarer Republik) mit Ausnahme des von den Alliierten und verbündeten Mächten besetzten Rheinlands ausschloss und Mittel- und Osteuropa an den Rand drängte. Das „Europa“ Valérys war eine Geisteskonstruktion. Im Mittelpunkt stand Frankreich. Rückblickend stellt man – ein düsteres Vorzeichen – fest, dass der hamletische Kommentator Valérys trotz seiner pazifistischen Absichten gerade die Nationen ausblendete, die als stärkste Mächte die Politik bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts bestimmen würden, die Nationen, in deren Namen Heiner Müller spricht.

Und doch hat Valéry auch das einflussreiche Werk Jacques Derridas über Marx’ Gespenster beeinflusst, das das „Gespenst“ des Hamlet von Shakespeare in eine neue Sicht Europas integrierte. Es war nach dem Verschwinden des von Müller der Schande preisgegebenen Kommunismus, dass Derrida über das „alte Europa“ nachdachte und den Begriff des „Gespensts“ aufgriff, den Karl Marx und Friedrich Engels zu Beginn des Manifests der Kommunistischen Partei („Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“) verwendet hatten. Da er wusste, dass Marx ein großer Verehrer Shakespeares war, spielte er mit dem Gedanken einer Kontinuität zwischen Shakespeare, Marx, Valéry und dem „neuen Europa“ nach 1989.

Valérys Text ist nur ein Beispiel für die Umwandlung Shakespeares in einen Bezugsrahmen für einen krisengeschüttelten Kontinent. Nur selten wird darauf hingewiesen, dass sich Vercors in seiner Novelle über den Zweiten Weltkrieg, Das Schweigen des Meeres, ebenfalls gerade Shakespeares bedient hat, um das Schicksal zu beschreiben, das damals drohte, die europäische Kultur hinwegzuspülen. In dieser Erzählung ist der deutsche Offizier Werner von Ebrennac bei einem betagten Intellektuellen einquartiert, der mit seiner Nichte in Frankreich auf dem Land lebt. Jeden Abend teilt er mit ihnen geradezu zwanghaft seine Ideen über die Kultur. Zuerst präsentiert er sich als kosmopolitischer Liebhaber von Literatur und Musik, für den die nationale Herkunft der Werke, die er liest oder spielt, kaum von Bedeutung ist. Aber nach und nach, besonders nachdem er deutsche Freunde in Paris getroffen hat, verwandelt er sich in einen kämpferischen Verteidiger der ausschließlich deutschen Werte. Bemerkenswerterweise äußert sich diese Entwicklung in seinem Rekurs auf Passagen von Shakespeare, insbesondere im zweiten Teil der Novelle, der mit dem berühmten Zitat aus Othello über die Unumkehrbarkeit des Mordes und der Zerstörung eröffnet wird: „Lösch aus das Licht, um damit das Licht ihres Lebens auszulöschen“. Im folgenden Kapitel treffen wir Ebrennac nach seiner Rückkehr nach Paris. Er ist nun ebenfalls davon überzeugt, dass die literarische Kultur Frankreichs, die er immer bewundert hat, im neuen politischen Klima keinen Platz mehr hat. Die Deutschen, erklärt er seinen Gastgebern, „schmeicheln Ihren Schriftstellern, aber zur selben Zeit haben sie bereits in Belgien, in Holland, in allen Ländern, die von unseren Truppen besetzt sind, eine Sperre verhängt. Kein französisches Buch kommt mehr durch […] Nicht nur Ihre Peguy, Ihre Proust, Ihre Bergson … sondern auch alle anderen!“. Ebrennac passt das Zitat aus Othello, das als Motto über dem zweiten Teil steht, den Gegebenheiten an und ruft aus: „Sie werden die Flamme gänzlich auslöschen! […] Europa wird nicht mehr von diesem Licht erleuchtet werden!2“ Indem der Dialog zwischen einem deutschen Offizier und einem französischen Intellektuellen über die Zukunft der europäischen Kultur in dieser französischen Novelle über den Zweiten Weltkrieg mit übersetzten Worten eines Autors geführt wird, der einer dritten Nation, Großbritannien, angehört, sieht sich Shakespeare als eine prophetische transnationale und spezifisch europäische Referenz anerkannt.

Die Rolle Shakespeares in der transnationalen europäischen Imagination hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht geändert. 2016, im Jahr des 400. Todestags Shakespeares, fand auch das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union statt. Während man des Todes Shakespeares gedachte, war der Schriftsteller auch auf der transnationalen europäischen Ebene präsent, wie aus dem Brief des europäischen Ratspräsidenten Donald Tusk zum offiziellen Beginn des Referendums hervorgeht, in dem er schrieb: „Ich bin zutiefst überzeugt, dass unsere gemeinsamen Interessen sehr viel stärker sind als das, was uns trennt. Zusammen sein oder nicht sein, das ist hier die Frage, auf die nicht nur die britischen Staatsbürger in einem Referendum antworten müssen, sondern auch, in den nächsten zwei Wochen, die 27 anderen Mitglieder der EU.“ Vor dem Referendum, das die Idee selbst eines geeinten Europa infrage stellte, hieß die Frage: „Was würde der Barde tun?“ (The Australien, 23. April 2016). War König Johann nicht ein Stück über den Brexit? (The Guardian, 20. Juni 2016). Oder war es eher Heinrich V.? (The Guardian, 3. Juli 2016). Aus reinem Zufall führte das Globe-Theater von Neuss am Abstimmungstag Ende gut, alles gut auf (RP online, 24. Juni 2016). Manche beschrieben das Ergebnis dieses „Brexit oder nicht Brexit“ (Le Figaro, 29. Juni 2016) als „eine Tragödie shakespearescher Größenordnung“ (www.nickhunn.com, 28. Juni 2016). Auf der Titelseite von Libération (1. Juli 2016) war ein Foto des Brexit-Befürworters Boris Johnson mit dem unmissverständlichen Titel abgebildet: „Shakespeare, aber schlimmer“. Gleichwohl haben sich zahlreiche Länder auf Shakespeare bezogen, um diese ernsthafte Herausforderung für die dominierende Konzeption eines vereinigten Europa aufzunehmen.

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