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Eine Geschichte der Revolten

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Ob man sie vom Standpunkt der Städter und der Herrschenden oder aber aus der Sicht der Landbewohner betrachtet – die Geschichte der ländlichen Gegenden Europas ist auf alle Fälle eine Geschichte von Agrarrevolten. Während die Literatur den Stadtbewohnern, die sich unterwürfige und friedliche Landbewohner wünschen, den Spiegel vorhält, bilden ikonografische Darstellungen, die dank verschiedener Drucktechniken allen zugänglich sind, die Bauern in ihrer Realität als seltsame, komische, beunruhigende, ja aufständische Wesen ab. Albrecht Dürer hat dies in einer Zeichnung von verblüffender Zweideutigkeit erfasst, die Teil einer Abhandlung über Architektur ist, die er nach dem Bauernkrieg von 1525 veröffentlicht hat. Es geht dabei um den Entwurf für ein Denkmal zur Erinnerung an einen erstochenen Bauern, das zum einen der Tat gedenkt, die zugunsten seines Publikums, Aristokraten und Stadtbewohner, begangen wurde, zum anderen aber auch der Fruchtbarkeit des Opfers, ohne das kein Leben möglich wäre.

Um es allgemeiner auszudrücken: Die Unterdrückung dieser Revolten und die Gleichschaltung ländlicher Gesellschaften ist eine Etappe auf dem Weg zur Errichtung moderner Nationalstaaten. Beispiele dafür reichen von der Jacquerie im Frankreich des Jahres 1358 bis hin zu den Aufständen der Chouans in der Vendée ab 1793 und vielen weiteren ähnlichen Ereignissen in ganz Europa wie der großen Revolte 1381 in England, der Remensa im Katalonien der 1460er-Jahre, der Erhebung der Bauern des Friaul am Gründonnerstag 1511, den Bundschuh-Aufständen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, dem Bauernkrieg 1525 in Deutschland, der Rebellion der Croquants 1636 und der Grande Peur, der „Großen Furcht“ des Jahres 1789. Kein europäisches Land ist von derartigen Phänomenen verschont geblieben, deren enorme Verschiedenartigkeit in Ursache und Ablauf Hugues Neveux herausgearbeitet hat, der trotzdem eine allen gemeinsame Wurzel betont: das Verlangen nach „Gerechtigkeit“, diesem für die bäuerliche Identität konstitutiven Wert, oder anders gesagt, die Entschlossenheit, mit der „Ungerechtigkeit“ Schluss zu machen, die mit der Herrschaft der Grundbesitzer, Herrscher, Feudalherren und Bewohner der Städte verbunden war.

Ausgehend von dieser Doppelthematik von Gerechtigkeit und Revolte bildet sich letztendlich der Erinnerungsgegenstand „Land“ heraus. Aus Sicht der Herrschenden beziehungsweise, besser gesagt, aus städtischer Sicht ist das Land ein undurchsichtiger Ort, an dem der sture Konservatismus der Gemeinschaften unversehens in verheerende Erhebungen umschlagen kann, die es dann um jeden Preis niederzuschlagen gilt. Aus Sicht der Bauern kann das Bewusstsein einer moralisch herausragenden Position hinter das der erlittenen und durch keinen Gesellschaftsvertrag legitimierbaren Unterdrückung zurücktreten und dann ist der Griff zu den Waffen – und die landwirtschaftlichen Geräte Sense, Flegel, Hacke sind allemal auch Waffen – unvermeidlich. Innerhalb dieses Spannungsbogens zwischen diesen beiden Extremvorstellungen vom Raum außerhalb der Mauern unserer Städte bildet sich kollektiv das Land als Erinnerungsort heraus: als Ort des Überflusses, an dem noch Spuren eines irdischen Paradieses erkennbar sind, und als Gebiet der Herrschaft, die so gewaltsam ausgeübt wird, dass sie den Aufstand rechtfertigt.

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