Читать книгу Europa - Группа авторов - Страница 52

Stadt kontra Land: das Verleugnen des Wandels

Оглавление

Die Darstellung des lukanischen Landlebens zur Zeit des Faschismus in Carlo Levis Christus kam nur bis Eboli gestattet es, das Paradox zu fassen, das aus dem Landleben den Aufbewahrungsort für uralte kulturelle Formen und zugleich den bewegten Austragungsort der radikalsten Veränderungen, die die Globalisierung mit sich bringt, macht. Der antifaschistische Arzt und Künstler aus dem Piemont, der selbst Träger einer tiefverwurzelten Stadtkultur ist, aber im Mezzogiorno im Exil leben muss, identifiziert genau die „archaischen“ Elemente der lokalen Kultur – und archaisch meint Elemente, die keine Verbindung mit der Geschichte der Kultur der Bauern, bei denen er wohnt, haben: „Daß es im Mittelalter in dieser Gegend Drachen gegeben hat (die Bauern und Julia, die mir davon erzählten, sagten: ‚In fernen Zeiten, vor mehr als hundert Jahren, lange vor der Zeit der Briganten‘) ist nicht verwunderlich, und es wäre auch nicht erstaunlich, wenn sie heute wieder vor den entsetzten Augen der Bauern erschienen. Alles ist hier tatsächlich möglich, wo die antiken Heidengötter, der Bock und das rituelle Lamm täglich über die bekannten Straßen laufen und es keine sichere Grenze zwischen dem Bereich des Menschlichen und der Welt der Tiere und Ungeheuer gibt.“

Aber seine Erzählung, die jeglichen Begriff von Zeitlosigkeit von sich weist, verbindet diese Mythologie mit den Traumata, die der Gesellschaft durch die Umwälzungen der Modernität zugefügt werden, insbesondere dadurch, dass eine feudale Agrargesellschaft mit den Städten der Neuen Welt in Verbindung tritt.

„Was man sich erzählt und was ich selbst für wahr gehalten hatte, von der grausamen Strenge der Sitten, der tückischen Eifersucht, dem wilden Sinn für Familienehre, der zu Verbrechen und Rachetaten führt, ist hier unten eine Legende. Vielleicht war es in nicht allzufern zurückliegender Zeit Wirklichkeit, und in der Starre des Formalismus ist etwas davon übriggeblieben. Aber durch die Auswanderung hat sich das alles geändert. Es gibt wenig Männer, und der Ort gehört den Weibern. Viele Frauen haben ihre Männer in Amerika. […] Gagliano hat zwölfhundert Einwohner, in Amerika sind zweitausend Gaglianer […].“4

Man verwechselt allzu oft Rhythmus und Temporalität, wenn man Stadt und Land einander gegenüberstellt. Die Beschleunigung der erlebten Zeit, die in der Tat die Stadt charakterisiert, wird als Angezogensein vom Neuen interpretiert, während man in der langsam vergehenden und zyklischen Zeit des Landes die Angst vor dem Neuen sieht. Angesichts der außerordentlichen Stabilität, die die Netzwerke der europäischen Städte charakterisiert, sowie der Fähigkeit der städtischen Oligarchien, bei allem scheinbar sich vollziehenden Wandel ihre Herrschaft zu perpetuieren, täte man besser daran, den Gegensatz umzukehren. Die Archäologie und die Wissenschaft von den früheren Umweltbedingungen liefern ihren speziellen Beitrag zu dieser Debatte. Sie zeigen nämlich zum einen, die protohistorischen und frühmittelalterlichen Ursprünge der europäischen Städte und zum anderen a contrario das Ausmaß der Umbrüche, die den ländlichen Raum betroffen haben, von denen es aber keine schriftlichen oder mündlichen Quellen, also auch keine Erinnerung, gibt. Man weiß inzwischen, dass es keine Kontinuität zwischen den villae der Antike und den Domänen des frühen Mittelalters gab, man weiß, dass dieses eine Blütezeit von zerstreuten Siedlungsformen war und dass sich die Dörfer erst im Lauf der Wachstumsperiode vom 10. bis 13. Jahrhundert zu einer in den meisten Teilen Europas üblichen Form entwickelt haben. Und man weiß nunmehr auch, dass die lange Krisen-und-Kriegs-Periode, die die europäischen Lande vom 14. bis zum 17. Jahrhundert geprägt hat, zahlreiche Regionen völlig verändert hat.

Selbst hinter dem scheinbar so tief und langfristig verankerten Gegensatz zwischen einem politisch kleinräumig gegliederten, weitgehend verstädterten sowie politisch dynamischen und dominanten Westeuropa und einem Mittel- und Osteuropa, das auf dreifache Weise einheitlich erscheint – mit seinen großen Domänen, seiner Getreidemonokultur und der Abhängigkeit der Bauern –, verbirgt sich eine ganze Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Neuerungen, die untrennbar mit der Errichtung von Weltökonomien wie der niederländischen und dann der englischen verbunden sind. Selbst die Bezeichnung „neue Leibeigenschaft“, mit der zuerst politische Denker und dann Historiker die verschiedenen Arten der Herrschaft in diesen Ländern bezeichnet haben, verweist eher auf die archaische oder besser alterslose Figur des Leibeigenen als auf die unterschiedlichen, aufgezwungenen und instabilen Herrschaftsweisen, die das Resultat einer bewegten Geschichte auf dem ganzen Kontinent waren.

Europa

Подняться наверх