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Unterschlagene Erinnerung

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Das Land erscheint in der Malerei von den holländischen Meistern bis heute als zeitloses Inventar von Symbolen, Formen und Farben, das oft menschenleer dargestellt wird. Nichts verweist hier auf einen sich vollziehenden Wandel, abgesehen vom Wechsel der Jahreszeiten. Ob man nun die bei Tisch sitzenden Bauern der Brüder Le Nain betrachtet (die möglicherweise Emmaus-Pilger darstellen) oder Werke von Jean-François Millets Angelus bis zu Vincent van Goghs Sämann und den bei Georges Braque immer wiederkehrenden eisernen Pflügen, so lässt sich unschwer quer durch die Zeiten das Vorhandensein einer Ikonografie aufzeigen, die tief im Christentum verwurzelt ist und dem Zyklus von Liturgie und Natur folgt, unabhängig von allem technologischen Wandel.

Dieses statische Bild vom Land und seiner Bevölkerung, das unveränderliche Werte und Gesten zu bewahren scheint, wirkt sich natürlich nicht zuletzt auf die Vorstellung von Historikern aus. Dementsprechend hat sich in den meisten europäischen Ländern die Geschichte des Landes in zweifacher Form herausgebildet: als Lokalgeschichte und als Agrargeschichte. Die eine zielt darauf ab, die hervorstechenden Züge der Vergangenheit eines Orts, der als Gegenstand gemeinsamer Erinnerung aufgefasst und oft in kritischer Perspektive interdisziplinär befragt wird, in Hinblick auf allgemeine Tendenzen zu erhellen. Die Lokalgeschichte, die während des gesamten 19. Jahrhunderts die Angelegenheit von Grundbesitzern und Notabeln war, stellte überall in Europa ein zentrales Anliegen bei der Entwicklung einer von Städtern und Landbewohnern geteilten Lokalerinnerung dar. Im Fall Frankreichs ging die Anhäufung dieses historischen Wissens mit den beträchtlichen Anstrengungen einher, die in die Kodifizierung der örtlichen Gebräuche sowie in die Sammlung gewohnheitsrechtlicher Praktiken investiert wurden, deren Wert als Rechtsquelle von den Juristen der Zeit nach der Französischen Revolution anerkannt wurde. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass diese Lokalgeschichtsschreibung in der Regel mit einem konservativen Gesellschaftsbild verbunden ist, das seinerseits seine Grundlage in den als dauerhaft betrachteten Gebietsaufteilungen, Gewohnheiten, landwirtschaftlichen Praktiken und Besitzregelungen hat, die allesamt vor den durch die Industrialisierung erzwungenen Umwälzungen schützen sollen.

Die Agrargeschichte, wie sie aus der Hochschulforschung und nicht aus den Formen örtlicher Soziabilität hervorgeht, steht der Agrargeografie sehr nahe und ist teilweise von ihr nicht zu unterscheiden. Herausgebildet hat sie sich Ende des 19. Jahrhunderts und das oft als kritische Reaktion auf regionalistische Diskurse. Während diese ihre erinnerungsmäßige Verwurzelung hervorheben, betont die neue Disziplin das Diskontinuierliche, die wirtschaftlichen, technischen, agronomischen und sozialen Innovationsprozesse. Ob in Frankreich oder Italien oder auf den Britischen Inseln, die Agrargeschichte war eher ein Gebiet, auf dem sozialwissenschaftliche Debatten ausgetragen wurden, als ein Ort der Feier einer gemeinsamen Erinnerung. In Russland wiederum gestattete ein seit der Mitte des 19. Jahrhunderts praktiziertes Nachdenken über die Bauernschaft, das die europäischen Erfahrungen insgesamt berücksichtigte, die Entwicklung einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung des Landes, die Agronomie, Wirtschaft, Soziologie und Politikwissenschaften miteinander verknüpfte. Das grundlegende Werk Alexander Tschajanows, Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft (1923), ist das weitaus beste Resultat dieser Forschungen. Es führte allerdings zur Ermordung seines Autors, weil es eine implizite Kritik des städtisch-industriellen Sowjetsystems darstellte. In Westeuropa gingen diese Forschungen – wie im Fall des berühmten Werks von Marc Bloch über „die ursprünglichen Merkmale der französischen Agrargeschichte“ (Les Caractères originaux de l’histoire rurale, 1931) – mit einer Diskussion im nationalen Rahmen einher, ob dieser Rahmen auch adäquat für die Erfassung der Entwicklungsdynamiken sei. Im deutschen Fall wurde die reiche agrarhistorische Tradition, die allerdings von der romantisch-nationalistischen Ideologie des 19. Jahrhunderts durchdrungen war, vom Nationalsozialismus ganz bewusst eingesetzt, um die rassistische Ideologie mithilfe von „Blut und Boden“ zu legitimeren, offenkundig insbesondere bei den Arbeiten des Agrarhistorikers und SS-Hauptsturmführers Günther Franz zum „deutschen Bauerntum“. In langfristiger Perspektive hatte das fatale Auswirkungen für diese Disziplin, da sie durch die Zweckentfremdung historischer Begrifflichkeit zugunsten einer nach ideologischen Vorgaben zusammengeschusterten und entstellten Erinnerung diskreditiert war.

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