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Für Péguy: Klasse ohne Spuren

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Ein halbes Jahrhundert später liefert ein anderer sozialistischer Denker, Charles Péguy, eine andere, nämlich eine anthropologische Erklärung für diesen Unterschied. Er tut das in einem fiktiven Dialog zwischen einem katholischen Bauernspross (das ist er selbst) und einem Juden aus der Stadt.

„[…] Der Jude ist gewissermaßen seit jeher schriftkundig, der Protestant seit Calvin, der Katholik seit Ferry. Oder, anders gesagt, der Jude ist schon immer ein ‚Alphabet‘, der Protestant seit Calvin, der Katholik seit Ferry. Der Katholik, der das erkennt, stellt sich selbst in Frage. Bei welcher Seite er auch anfangen mag – er ist Analphabet ab der zweiten Generation. Weder die Großväter aus dem Bourbonnais, noch die aus den Marches noch die aus dem Loire-Tal oder von den ersten Hängen des Forsts von Orléans, keiner dieser Großväter, keine dieser Großmütter konnte lesen oder schreiben […]. Wo er auch anfangen mag, ob väterlicher- oder mütterlicherseits, gleich nach seinen Eltern ist er mit einer vierfachen Reihe von Analphabeten konfrontiert. […] Es wäre peinlich, noch weiter zurückzugehen. Als armer Franzose, als katholischer Bauer verfügt er über keine Familien-Dokumente; seine Papiere sind die Pfarrei-Register. Zahllose Vorfahren, aber keine erkennbare Familie. […] Nichts, das Spuren in den Papieren der Notare hinterließe. Als Arme aus dem Volk haben sie es den Juden, den Protestanten und den katholischen Bourgeois überlassen, über eine aufgezeichnete Genealogie zu verfügen.“3

Dieser Gegensatz ist weder religiöser noch ethnischer Natur. Was Péguy an ihm erkennt, ist ein unterschiedlicher Bezug zu Geschichtlichkeit und Zeit. Im Gegensatz zur marxschen Analyse bestimmt er die Anonymität, die Unauffälligkeit und das Stummsein, in denen die Vergangenheit der Bauern sich auflöst und verschwimmt, als Grundlage eines Gruppenbewusstseins: „Er ist sehr wohl dieser Mensch, der stets nur gewöhnliches Tuch getragen hat, der nur auf gewöhnliches Papier geschrieben hat und immer nur an einem gewöhnlichen Tisch gesessen hat.“ Als bekennender Erbe bäuerlicher Kultur gründet Péguy die dem Landvolk gemeinsame Identität darauf, dass man sich nicht um seine Herkunft kümmert und nicht nach Verwurzelung strebt. Keine Langzeiterinnerung, kein Verlangen in diese Richtung, dafür aber ein stillschweigendes wechselseitiges Einverständnis, das auf bestimmten Gesten und Handlungsweisen beruht. Kein Langzeitbewusstsein, aber eine unmittelbare, zugleich auferlegte wie gestaltete Geschichtlichkeit. Neue Forschungen über die Rolle von Sprache und Erinnerung in ländlichen Gemeinden bestätigen, dass diese nicht Träger historischer und politischer Vorstellungen sind, sondern ein ständig erneuertes Mittel zum Aushandeln und zur Verteidigung der Gruppenrechte. Zudem erhellt Péguy eine oft verkannte oder totgeschwiegene Tatsache: Während der Diskurs der Städter aus den Menschen auf dem Land eine konservative oder gar reaktionäre, änderungsfeindliche Masse macht, sind Verhaltensweisen wie die Suche nach Kontinuität und Fortdauer alter Strukturen sowie der Wusch, einmal erreichte soziale Stellungen beizubehalten, in der Stadt und nicht auf dem Land zu finden. Und Innovationsprozesse wirken sich auf dem Land unmittelbar aus und nehmen dort die härtesten Formen an.

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